Gut, Tradition und Ideal
Die Familie ist kein Auslaufmodell. Laut Shell Jugendstudien steht sie – trotz hoher Scheidungs- und niedriger Geburtenraten – bei jungen Menschen (zwischen 12 und 25 Jahren) in Deutschland nach wie vor hoch im Kurs. Der Wunsch nach eigenen Kindern stieg bei den jungen Menschen bis 2010 kontinuierlich an.1 Dieser Trend war dann etwas rückläufig, wobei das nicht auf eine grundsätzliche Ablehnung eigener Kinder als vielmehr auf Ängste der Vereinbarkeit mit dem Beruf zurückgeführt wurde. In der Studie 2015 heißt es:
Vieles deutet darauf hin, dass sich die Sorge um die schwierige Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben auch auf den Kinderwunsch auswirkt. Insgesamt wünschen sich derzeit nur 64 Prozent aller Jugendlichen Kinder, 2010 waren es noch 69 Prozent.2
Der Shell Studie 2019 zufolge ist dieser Anteil aber wieder auf 68 % angestiegen.3 Die Sinus Milieustudie konstatiert für das Wertebewusstsein im Jahr 2018 in Deutschland:
Einerseits Leistung und Effizienz, Pragmatismus und Nutzenorientierung, Multi-optionalität und Multitasking; andererseits: Regrounding, Suche nach Anker, Halt und Geborgenheit, Nachhaltigkeit und Entschleunigung sowie Neuinterpretation traditioneller Werte, neue Wertesynthesen, selektiver Idealismus.4
Es bestehe bei allem Pragmatismus nach wie vor eine Sehnsucht nach einem verlässlichen Kompass, der womöglich neu interpretiert werden soll. Die Suche nach Konstanten des Lebens liegt allen Shell Studien seit 2002 entsprechend im Trend. Das Gut Familie soll dabei nicht geopfert werden. Sie spielt als ein solcher Anker nach wie vor die entscheidende Rolle:
Die Familie hat für Jugendliche weiterhin einen hohen Stellenwert. Hier finden sie den notwendigen Rückhalt und die positive emotionale Unterstützung auf dem Weg ins Erwachsenenleben. Mehr als 90 Prozent der Jugendlichen haben ein gutes Verhältnis zu ihren eigenen Eltern. Fast drei Viertel würden ihre eigenen Kinder ungefähr so oder genauso erziehen, wie sie selbst erzogen wurden. Dieser Wert hat seit 2002 stetig zugenommen.5
Die Familie erfreut sich also als geschätztes Gut nach wie vor hoher Wertschätzung. Ehe und Familie stehen in Deutschland auch unter dem besonderen rechtlichen Schutz der Verfassung (GG Art. 6). Was aber ist inhaltlich damit heute gemeint? Das ist höchst umstritten. Es wird unterschieden zwischen moderner und traditioneller Familie, wobei im christlich geprägten westlichen Kulturkreis der Zusatz ‹traditionell› steht für ein von gegenseitiger Liebe erfülltes und wesentlich auf das gegenseitige Wohl ausgerichtetes, monogam eheliches und damit lebenslanges Zusammenleben von Mann und Frau mit eigenen oder adoptierten Kindern, bzw. mit der grundsätzlichen Offenheit für eigene Kinder.6 Diese ‹traditionelle› Form von Familie, die aus christlicher Sicht nach wie vor als Ideal gilt, muss sich heute angesichts einer großen Vielfalt von Lebensformen (wie etwa einer in Frankreich legalisierten Partnerschaft auf Zeit, Patchwork-Konstellationen, alleinerziehende Eltern, nicht-eheliches Zusammenleben mit und ohne Kinder, gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Adoptionsansprüchen, polygame Verbindungen u.a.) und darüber hinausgehender Erscheinungen wie einer Partnerschaft mit virtuellen Figuren o.a.7 der Frage stellen, ob sie noch als anzustrebendes Ideal gelten kann und soll. Die sozialethische Frage lautet dabei nicht, was Familie heute faktisch ist, sondern was Familie heute und in Zukunft sein soll. Hierzu finden sich auch auf theoretischer Ebene unterschiedliche Interpretationsmuster.
Säkulare Antworten
Einen starken Anspruch darauf zu definieren, was Familie sein soll, erheben säkulare Positionen. Einige davon werden hier kurz vorgestellt.
Zunächst sei der Blick auf eine darwinistische Vorstellung gerichtet. Zum Thema Familie wird dort eine klare Idee des normativ Guten artikuliert. Die darwinsche Evolutionstheorie mit ihrem Zufallsprinzip für die Entstehung und Entwicklung des Lebens bestreitet die Idee eines göttlichen Plans als Maßstab des Guten. Für die Bestimmung einer Semantik von Familie ist damit ein vernünftiger Rekurs auf den Plan Gottes obsolet. Charles Darwin lässt sich für seine Aussagen zur Familie durch den frühkapitalistischen Ökonomen Thomas R. Malthus inspirieren. Dieser unterstellte eine notwendige Auslese der Tüchtigen wegen einer geometrisch ansteigenden Bevölkerung gegenüber einer nur linear wachsenden Nahrungsmittelproduktion. Darwin schreibt: «jetzt habe ich endlich eine Hypothese, mit der ich arbeiten kann.»8 Seine biologische Ethik mündet dabei konsequent im Sozialdarwinismus:
Beide Geschlechter sollten sich der Heirat enthalten, wenn sie in irgendeinem besonderen Grade an Körper oder Geist minderwertig wären … Alles was uns unserem Ziele näher bringt, ist von Nutzen … Wenn die Klugen das Heiraten vermeiden, während die Sorglosen heiraten, werden die minderwertigen Glieder der menschlichen Gesellschaft die besseren zu verdrängen streben … Wie jedes andere Tier ist auch der Mensch ohne Zweifel auf seinen gegenwärtigen hohen Zustand durch einen Kampf gelangt, und wenn er noch höher fortschreiten soll, so muss er einem heftigen Kampfe ausgesetzt bleiben … Es muss für alle Menschen offene Konkurrenz bestehen, und es dürfen die Fähigsten nicht durch Gesetze oder Gebräuche daran gehindert werden, den größten Erfolg zu haben.9
Die Familie hat einer solchen Logik folgend keinen Selbst-, sondern bloß einen Dienstwert zur biologischen Veredelung der menschlichen Rasse. Damit ist sie einem wichtigeren Gut untergeordnet und selbst ein Gut zweiter Klasse. Sie wird von der biologischen Normativität instrumentalisiert (wie es etwa grausam im Nationalsozialismus durchexerziert wurde). Dann muss sich das, was Familie sein soll, den Zielparametern des nunmehr vermeintlich höheren biologistischen Gutes unterordnen. Der Sozialdarwinismus wird heute bei uns nicht offen vertreten.
Andere säkulare Ethiken der Gegenwart lehnen zumindest eine axiomatische Fixierung eines Gutes Familie ab. Für einen normativen Individualismus (ökonomische Ethik) ist die Familie zunächst eine Leerformel, deren Inhalt aus Nutzenberechnungen konstruiert wird. Die Bestimmung des Inhalts von dem, was Familie sein soll, folgt der Verantwortung des Menschen vor der egoistischen Selbstbestimmung. Daraus ergeben sich immer wieder neue, relative und gleich gültige Semantiken. Das wiederum macht etwa vor allem die durchsetzungsstarken egoistischen Menschen selbst zu Autoren dessen, was das Gut Familie bedeuten soll. Eine als objektiv vorgegebene Idee der Familie kann nicht als relevante Orientierung gedacht werden. Ein metaphysikfreier Familienbegriff jenseits transzendentaler Erkenntnis oder Transzendenzerkenntnis bleibt ergebnisoffen und kann potentiell semantisch alle möglichen Inhalte endogenisieren. Inhaltliche Schranken sind hier ausgeschlossen, denn Denkverbote sind verboten, sofern nur die Regeln der Legitimierung beachtet werden. Der normative Individualismus ist dabei eng verbunden mit der Idee der Moral Order für das menschliche Zusammenleben: Anonymes Nebeneinander der egoistischen Nutzenmaximierer reicht hier aus, was jedoch den Wertestudien zufolge offenbar dem Gefühl junger Menschen heute nicht entspricht. Ein ökonomischer Imperialismus als Extremform (Gary Becker) fordert sogar normativ auch in der Auswahl von Lebenspartnern und der Entscheidung für Nachkommen zweckrationalen Egoismus ein.10
In einer Diskursethik müssen sich die Diskursteilnehmer für eine semantisch gehaltvolle Definition des Familienbegriffs an vorgegebene Vernunftregeln halten. Diskursethik ist eine Verfahrensethik, die auf der Grundlage von normativen Postulaten ein Instrumentarium für demokratische Entscheidungsprozesse einfordert. Normativ sind hier vor allem die Rahmenbedingungen des Verfahrens. Die Ergebnisse des Verfahrens (die konkreten Semantiken etwa von Werten wie «Familie») sollen bewusst offengelassen werden. Die Diskursethik will so Dogmatismus überwinden und behauptet als demokratische Verfahrensethik für sich den Paradigmenwechsel von metaphysischer Begründung zur kommunikativ erschlossenen Legitimität. Inhalte von Werten und Normen werden von den Individuen kreativ ausgehandelt. Der Diskurs ist das legitime Verfahren dazu. Wer vernünftig argumentiert, unterstellt dazu, dass er gehört wird. Diskurs setzt die gegenseitige Achtung voraus. Diese Logik wird von Jürgen Habermas unter das von ihm sogenannte Universalisierungsprinzip ‹U› gestellt, nach dem jede gültige Norm bei allgemeiner Befolgung mit all ihren Konsequenzen von allen Betroffenen akzeptiert werden kann.11
Unter der Bedingung der Herrschaftsfreiheit (also ohne Machtausübung über andere) sollen alle von der Entscheidung Betroffenen so lange mit Vernunftargumenten über das entsprechende Problem diskutieren, bis alle von einer gemeinsamen Lösung als Konsens überzeugt sind. Das entsprechende inhaltliche Resultat ist dann legitim, weil es das legitime Verfahren durchlaufen hat. Inhaltliche Vorgaben für Diskursergebnisse im Sinne normativer Axiome sind verboten. So kann unter Anwendung von ‹U› in einem Gemeinwesen ergebnisoffen auch über die Auslegung der Menschenrechte diskutiert werden, denn deren Gültigkeit ist nicht normativ gesetzt:
Menschenrechte mögen moralisch noch so gut begründet werden können. Sie dürfen aber einem Souverän nicht gleichsam paternalistisch übergestülpt werden. Die Idee der rechtlichen Autonomie der Bürger verlangt ja, dass sich die Adressaten des Rechts zugleich als dessen Autoren verstehen können.12
Das Diskursergebnis wird im Verfahren ausgehandelt und gilt solange, bis die Diskursgemeinschaft das Thema wieder neu aufruft. Metaphysikfreie Begründung ethischer Urteile soll so in evolutionären Gesprächsprozessen unter vorgegebenen Regeln gelingen. Das dann im Diskursverfahren erzielte Resultat hat eine vorläufige Gültigkeit. Ein dem Diskurs vorausliegender Inhalt von Familie als Axiom ist hier nicht zulässig. Das wiederum macht die vernunftbegabten Diskursteilnehmer selbst zu kreativen Autoren dessen, was Familie ist und sein soll.
Das klassische christliche Familienbild
Das christliche Ideal ist weit entfernt von den normativen Vorstellungen des Sozialdarwinismus und kann auch nicht rein egoistischen Erklärungen von Familie folgen (vgl. AL 33f). Es bestimmt normative Kriterien als Wesenszüge von Familie, die einen Kompass anbieten, um das Gut Familie von anderen Lebensformen zu unterscheiden. Familie ist aus christlicher Sicht als ein objektiv dem Menschen vorgegebenes, in seiner Semantik der Willkür und menschlicher Übereinkunft entzogenes und erkennbares Gut begründbar, dem eine verbindliche Verantwortung gegenüber Gott entspricht. Eine inhaltliche Bestimmung des Wesens von Familie kann deshalb nicht ergebnisoffen sein. Ihre Semantik kann theologisch abgeleitet werden aus der Verantwortung des Menschen vor Gott und aus der moralischen Existenz des Menschen, die sich aus seinem Auftrag in der Welt ergibt. Faktizitäten oder Mehrheiten sind kein hinreichendes Kriterium zur semantischen Bestimmung des Gutes Familie.
Es soll im Folgenden für eine solche inhaltliche Klärung das der Tradition gemäße Wesen von Familie im christlichen Sinne mit seinen sozialethisch relevanten Begründungen näher bestimmt werden, ehe nach dem Verhältnis zu anderen Formen menschlichen Zusammenlebens zu fragen ist. Auf den Zusatz ‹traditionell› wird dabei nun verzichtet, um die damit verbundene vorschnelle Suggestion ihrer Antiquiertheit zu vermeiden. Stattdessen wird vom «klassischen» christlichen Familienbild gesprochen, das anschließend auch in der Konfrontation mit anderen aktuellen christlichen Deutungen auf die Probe gestellt wird.
Zu einer Orientierung für die inhaltliche Bestimmung lohnt sich der Verweis auf die Enzyklika Familiaris Consortio. Hier wurden von Papst Johannes Paul II. das Wesen von Ehe und Familie sowie ihre besondere Bedeutung für die Gesellschaft systematisch herausgestellt:
Im Plan Gottes, des Schöpfers und Erlösers, findet die Familie nicht nur ihre ‹Identität›, das, was sie ‹ist›, sondern auch ihre ‹Sendung›, das, was sie ‹tun› kann und muß. Die Aufgaben, zu deren Erfüllung in der Geschichte die Familie von Gott berufen ist, ergeben sich aus ihrem eigenen Wesen und stellen dessen dynamische und existentielle Entfaltung dar. Jede Familie entdeckt und findet in sich selbst den unüberhörbaren Appell, der gleichzeitig ihre Würde und ihre Verantwortung angibt: Familie, ‹werde›, was du ‹bist›!13
Es wird hier aus katholischer Sicht zum einen ein Wesen von Familie angenommen (was Familie wesenhaft ist und also im Konkreten sein sollte), das sich aus dem Plan Gottes ergibt. Zum anderen wird dieser Vorgabe der Auftrag gegenübergestellt, dass sich konkrete Familien dynamisch diesem Sein annähern sollen (dem Wesen ähnlich werden). Trotz einer notwendigen Analyse der sich wandelnden Situation von Familie in der Gesellschaft wird also nicht eine Normativität des Faktischen angenommen, die das als Familie ansieht, was gerade unter diesem Namen gelebt wird. Zwar wird also die soziologische Evolution von Formen des menschlichen Zusammenlebens und der weiten Verwendung des Familienbegriffs zur Kenntnis genommen. Der normative Familienbegriff, den Johannes Paul II. geschärft hat, geht aber darüber hinaus, was Familie tun soll oder in der Praxis (geworden) ist. Die Grundfrage für eine Bestimmung des klassischen Familienbildes bleibt, was sie im heilsgeschichtlichen Sinne zu einem normativen Gut macht.
Als klassische Familie in christlichem Sinn gilt das oben schon erwähnte Ideal. Gott selbst ist die Liebe (1 Joh 4,8) und tritt mit der Erschaffung der Welt und des Menschen aus sich heraus. Der Schöpfungserzählung der Genesis zufolge schafft Gott in dieser Liebe den Menschen als Mann Adam und als Frau Eva. Mann und Frau binden sich monogam und dauerhaft aneinander. Diese herausgehobene und exklusive Liebe zwischen Mann und Frau entspricht «einem tieferen anthropologischen Bedürfnis nach Annahme und Geborgenheit» wie einem inneren Verlangen nach Dauer und geht über das Gebot der Nächstenliebe hinaus. Die Zeugung der eigenen Nachkommen und damit die Gründung einer Familie ist ein Spiegel des göttlichen Schöpfungsaktes und soll ein Abbild der verlässlichen und unbedingten Liebe Gottes sein. Sie ist nach klassischem Verständnis nur in einer Ganzhingabe der Partner zueinander denkbar, welche für diese Liebe Ausschließlichkeit und Dauerhaftigkeit des Bundes voraussetzt (vgl. FC 11). Der exemplarische Bund des Mannes Adam mit der Frau Eva markiert die anthropologischen Grundaussagen des klassischen Verständnisses von Ehe und Familie:
die in der Gottesebenbildlichkeit von Mann und Frau gründende Personwürde beider Partner, die herausgehobene Bedeutung der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen und die leib-seelische Ganzheitlichkeit seiner personalen Lebensvollzüge.14
Gemeint ist damit auch die Einbettung der menschlichen Sexualität in einen solchen Schutz- und Entfaltungsraum gegenseitiger Verlässlichkeit, der – dem Ideal nach – in der monogamen und lebenslangen Ehe die gelebte Ganzhingabe und bedingungslose Geborgenheit erst ermöglicht. Dieses klassische christliche Verständnis von Familie (jenseits der Diskussionen um ihre Sakramentalität oder andere dogmatische Fragen) gründet in biblisch erschließbarer Anthropologie und gewinnt seinen Inhalt durch Analogien zur Liebe und Schöpfung Gottes unter Berücksichtigung tieferer menschlicher Sehnsucht und Bedürfnisse. Es sind also conditio humana und göttliche Bestimmung eng aneinander gebunden. Daraus ergeben sich neben den unmittelbaren Merkmalen des klassischen Familienbildes einige weitere Konsequenzen mit sozialethischer Bedeutung:
Familie als personale Lebens- und Liebesgemeinschaft ist ein wesentliches Vorbild für soziale Tugend in unserer Gesellschaft, gegen Egoismus, Konsumismus, Oberflächlichkeit, Treulosigkeit. Das Ideal des Zusammenlebens in der Sozialen Marktwirtschaft ist die irenische Idee eines affektiven Miteinanders. Die Familie ist so ein Stabilisator des sozialen Friedens. Denn sie ist der zentrale Ort, solche ehrliche Affektivität einzuüben und auszustrahlen (vgl. FC 17).
Rollenbewusstsein: In der Familie lernen die Menschen sich selbst in natürlichen Rollen kennen und werden darin geschult, solche Rollenverständnisse mit ihren jeweiligen Grenzen und Verantwortungen für das soziale Miteinander auch in der Gesellschaft zu gestalten. Den Eltern wird «die Möglichkeit eröffnet, im Muttersein und Vatersein als einem gemeinsamen Dasein für das Kind eine Grundform sittlicher Verantwortung zu übernehmen.»15
Vermittlung von Werten und Tugenden: Die Familie ist Keimzelle gesellschaftlichen Zusammenhalts und Lernort nicht nur des Glaubens und der Liebe, sondern auch weiterer wesentlicher Werte und Tugenden (wie etwa gegenseitige Verantwortung, Opferbereitschaft, Gerechtigkeit, Eintreten für Schwache, Bereitschaft zum Teilen und zur Vergebung, Treue und Vertrauen, Sorge um Kranke, Mitfreude, Mitleiden, kluge subsidiäre Aufgabenteilung u.a.) (vgl. FC 42). Die Familie soll eine «Schule reich entfalteter Humanität» sein (GS 52, FC 21). Papst Franziskus hat diese besondere Bedeutung der Familie als Ort der Wertevermittlung ausdrücklich unterstrichen (LS 214).
Hierzu zählt etwa die Erziehung der Kinder zu einem eigenständigen und verantwortlichen Menschsein. Diese Pflicht folgt der Analogie zur Schöpfungserzählung, nach der auch Gott den Menschen geschaffen und ihm zum menschlichen Leben in der Welt verholfen hat (vgl. AL 17, FC 36).
Hierzu zählt auch das liebend verantwortliche Miteinander der Generationen: «Das geschieht durch die sorgende Liebe zu den Kleinen, den Kranken und den Alten, durch den täglichen gegenseitigen Dienst, durch das Teilen der Güter, der Freuden und der Leiden.» (FC 21).
Weitergabe des Lebens: Die Weitergabe des Lebens aus gegenseitig sich hingebender Liebe ist wesentlich für die Zukunft einer Gesellschaft (vgl. AL 13).
Christliche Familie neu denken?
Das klassische Familienbild ist auch theologisch nicht unumstritten. Es gibt zahlreiche Versuche, christliche Familie heute anders zu verstehen. So findet sich in der Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zur Familiensynode 2015 ein weiter Begriff, der die gelebte Verantwortung zum normativen Anker der Familie macht:
Unter Familie verstehen wir auch nichteheliche Formen von verbindlich gelebter Partnerschaft und von Generationenverantwortung, die einen großen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten und gerecht zu behandeln sind.16
Das aktuelle Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft – CDU-Sozialausschüsse von 2015 formuliert dagegen etwas näher am klassischen Ideal:
Familie wird verschieden gelebt – in der Ehe, in einer Partnerschaft oder durch ein allein erziehendes Elternteil; aber auch viele Geschwister, Verwandte und Freunde leben auf Dauer in enger Gemeinschaft. Familie ist für uns insbesondere dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft Verantwortung übernehmen.17
Fraglos ist auch diese Definition offen für eine Vielzahl unterschiedlicher Konstellationen, wobei in der besonderen Betonung des Eltern-Kind-Verhältnisses noch eine Abstufung erkennbar ist. Es finden sich in diesen beiden exemplarischen Positionierungen keine tiefgehenden theologischen Begründungen, was für solche politischen Erklärungen auch nicht erwartet werden kann. Deren Postulate spiegeln wohl das Bedürfnis wider, gegenüber dem klassischen Familienbegriff eine Weitung vorzunehmen.
Eine solche Notwendigkeit sieht auch – nunmehr mit einer ausführlichen Begründung, aber anderen inhaltlichen Konsequenzen – eine theologische Genderperspektive. Marianne Heimbach-Steins ist in Deutschland deren Hauptvertreterin auf katholischer Seite. Ihr geht es dabei auch mit Konsequenzen für das Rollenverständnis von Mann und Frau sowie das Familienverständnis nicht zuerst um eine Kritik an der Differenz im biologischen Geschlecht (sex), sondern im sozialen Geschlecht (gender), also der kulturellen Einbettung des Menschen in sozial vorgegebene Geschlechterrollen.18 Hier bestehe ein erhebliches Gerechtigkeitsdefizit, das enttabuisiert werden müsse, um dem Menschen die Augen für sich und seine Identität zu öffnen, jenseits von Dogmatismus und Paternalismus. Denn mit dem Geschlecht seien bislang soziale Rollen und Verhaltensweisen (etwa auch in der Familie) vorgegeben, die es zu überwinden gelte. Das bezieht sich etwa auf Erziehung, Kleidung, Berufswahl, Sprache oder anerzogene Tugenden, die den Menschen unfrei machen. Eine angenommene feminine Identitätskrise wird auf das soziale Geschlecht fokussiert und dabei von der bisweilen auch geführten Diskussion um die biologische Leiblichkeit entkoppelt. Weibliche Identität wird danach unter den Gegebenheiten biologischer Differenz verstanden, während die soziale Geschlechtlichkeit sich von einem bloßen Anderssein oder gar einem Mangel gegenüber dem Männlichen emanzipieren soll. Hier sollen als Zwänge empfundene Konventionen überwunden werden. Diese soziale Dimension der Geschlechtlichkeit nimmt also die ethologische Gendertheologie in den Blick, welche auch das Familienideal tangiert.
Die Gendertheologie (also das theologische Fragen mit Blick auf das soziale Geschlecht) will ausdrücklich eine naturrechtliche Begründung dekonstruieren und sieht sich in ihrer normativen Begründung eng mit Diskursethik und systemischem Konstruktivismus verbunden. Das Diskursparadigma wird nicht einfach übernommen, sondern einer Neukonstruktion unterzogen. Gender sei, so Heimbach-Steins im Anschluss an Gerhard Marschütz, «primär eine Konsequenz diskursiver Praxis und darum eine kulturelle Konstruktion».19 Der Inhalt von Gerechtigkeit der Geschlechterordnung soll immer wieder neu von allen Betroffenen im gesellschaftlichen Diskurs ausgehandelt werden. Menschen sollten hinsichtlich ihres sozialen Geschlechts selbst zu den Autoren ihres Menschseins werden, das mache ihre Autonomie aus. Heimbach-Steins formuliert es so:
Im Kern geht es darum, die Autonomie der (auch) geschlechtlich bestimmten Subjekte als Akteure ihrer eigenen (Lebens-) Geschichte anzuerkennen.20
Die theologische Genderperspektive ergänzt die Kriterien des legitimen Diskurses um eine wesentliche Restriktion und geht durch eine solche Neukonstruktion über dieses Paradigma hinaus: Der Diskurs zur inhaltlichen Bestimmung des sozialen Geschlechtes ist danach eine befreite Suche, mit der zuvor (prädiskursiv) eingenommenen Genderperspektive die «Wahrheit» der Geschlechtergerechtigkeit zu bestimmen. Damit wird eine vorgegebene Objektivität als Gut eingeführt. Diese Genderperspektive ist also nicht mehr selbst Gegenstand des Diskurses. Vielmehr wird sie systematisch vor die Klammer kreativer Normengebung gesetzt und so in den Kreis der als objektiv vorausgesetzten Verfahrensregeln erhoben. Das heißt: Die theologische Genderperspektive versteht sich als objektive, weil denknotwendige Bedingung legitimer sozialethischer Diskurse.
Heimbach-Steins sucht ihre theologische Deutung biblisch mit Verweisen auf Gal 3,26–28 und Mk 3,31–36 zu begründen. Der Zuruf des Apostels Paulus: «ihr alle seid … nicht Mann und Frau» wird als Genderperspektive gedeutet. Gleiches gilt für Jesu Hervorhebung persönlicher Entscheidung vor der Abstammung: «Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter». Jesus selbst also – so die Interpretation – hebe die soziale Unterscheidung von Mann und Frau bzw. von Bruder und Schwester auf und führe damit die Genderperspektive ein. Zudem sei sie im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils ein Zeichen der Zeit, dem die Kirche ihre Türen öffnen müsse.
Eine solche Perspektive samt ihrer Begründungsstrategie hat Folgen für das Verständnis von Ehe und Familie. Die enge Verbundenheit von biologischer und sozialer Geschlechtlichkeit wird abgelehnt, und damit die biologisch-soziale Einheit der Person.21 Im Schöpfungsbericht ist zu lesen, dass Gott den Menschen als Mann und Frau schuf. Das sind Adam und Eva.22 Die Differenz zwischen Mann und Frau wird dort mit dem normativen Auftrag verbunden, wenn möglich Nachkommen das Leben zu schenken. Unter Berücksichtigung der Gesetze des alten und neuen Bundes sollen Eheleute in der Familie in liebender Treue zueinander die Rolle als Mutter und Vater annehmen. Diese Rollen sind zweifellos Teil des sozialen Geschlechts, die immer wieder neu ausgelegt werden. Es könnte nun der Schluss naheliegen, dass mit den aus Gender-Sicht patriarchal vorgegebenen Differenzen des sozialen Geschlechts ebenso die zweifellos auch sozial bestimmten Elternrollen dekonstruiert werden sollten. Das könnte etwa in einer Empfehlung zur Kinderlosigkeit münden, um so die sozial normierten Vater- und Mutterrollen zu vermeiden.
Zweifellos ist es das Verdienst von Heimbach-Steins, das Thema der Geschlechtergerechtigkeit in der Theologie stark gemacht zu haben und damit zugleich den Anschluss theologischer Argumente an entsprechende säkulare Diskussionen hergestellt zu haben. Der von ihr vorgenommenen Konstruktion wird hier von mir aber nicht gefolgt. Sie importiert die begründungstheoretischen Probleme von Diskursethik und Systemtheorie und wäre zudem lebensfeindlich.23 Die theologischen Begründungsversuche ändern an dieser Skepsis nichts. Bei den dafür angeführten biblischen Aussagen von Jesus und Paulus (Gal 3,26–28 und Mk 3,31–36) steht nicht eine Genderfrage im Zentrum, sondern der Weg des Menschen zum Heil. Auf diesem Weg kommt es nicht auf das Geschlecht an und auch nicht auf die Abstammung. Primär sollen sich alle Menschen gemeinsam zu Christus bekennen: Das begründet die Gemeinde als eine neue Form der Familie. Diese Hervorhebung der Entschiedenheit für Christus als Weg zum Heil ist in den angeführten Bibelstellen die wesentliche Botschaft.
Sozialethische Orientierung
Die objektive Referenz zur inhaltlichen Bestimmung des Gutes Familie, wie sie das klassische Verständnis vorstellt, macht heute verdächtig für einen vermeintlich paternalistischen Dogmatismus, der sich im Elfenbeinturm von den Realitäten gelebten Familienseins entfremdet hat. Papst Franziskus hat in seinem Schreiben Amoris Laetitia kritisiert, die Kirche habe zu lange abstrakte Familienideale vertreten, die von vielen nicht verstanden werden Vgl. AL 36). Für einen Kompass dazu, was Familie aus christlicher Sicht sein soll, reicht demnach nicht allein der Verweis auf bloße Postulate aus Dogmatik und Tradition. Auch soziale Realitäten und christliche Versuche einer Neubestimmung des Familienbegriffs sind ernst zu nehmen. Umso mehr braucht es für solche Suchbewegungen und den Dialog mit der nicht-christlichen Welt einen Familienbegriff, der als Kompass die Grenzen und Weiten für eine solche Orientierung absteckt. Die Lösung ist ein dem Auftrag Gottes entsprechendes transparentes Profil, welches statt mit Postulaten mit guten Begründungen verständlich artikuliert wird. Aus christlicher Sicht ist es selbstverständlich, dass Mann und Frau und solche, die sich keinem dieser beiden Geschlechter eindeutig zuordnen lassen oder zuordnen lassen wollen, die gleiche Würde haben, denn alle Menschen sind Gottes Ebenbild. Geschlechtergerechtigkeit meint dann jenseits der Gender-Perspektive die gleiche Würde ohne Dekonstruktion von sozialer Differenz. Die Geschlechter sind aufgerufen und durch soziale Regeln wie Tugenden dazu zu befähigen, ihre Talente frei zu entfalten und eigen- wie sozialverantwortlich ihrem moralischen Anspruch gegenüber Gott gerecht zu werden. Es gibt keine gesellschaftliche Bevorzugung oder Benachteiligung hinsichtlich der Heilsbefähigung.
Somit ergeben sich folgende Konsequenzen:
1) Nach der Vorstellung von Familie als einem von Gott gewollten Gut hat Gott eine Idee davon, was Familie sein soll. Menschen können und sollen diese Idee als Rahmen für das konkrete Familie-Sein erkennen. Diese Erkenntnis muss immer wieder kritisch hinterfragt werden, etwa mit biblischen Argumenten oder Quellen der Offenbarung, aus gewonnenen Erkenntnissen von kirchlicher Verkündigung, Theologie und gelebtem Christsein. Es bleibt ein dynamischer Erkenntnisprozess. Eine ständige Weiterentwicklung der Semantik von Familie ist im Sinne des Prinzips ‹ecclesia semper reformanda› nicht nur denkmöglich, sondern auch notwendig. Sie muss aber – vom Willen Gottes her gedacht – in einer begründeten Erkenntniserweiterung hinsichtlich des gegebenen objektiven Gutes bestehen.
2) Referenz für solche Erkenntnis ist das klassische Verständnis von Ehe und Familie, wobei die Ehe als Voraussetzung der Familie gilt.24 Familie ist ein von gegenseitiger Liebe erfülltes und wesentlich auf das gegenseitige Wohl ausgerichtetes, monogam eheliches und damit lebenslanges Zusammenleben von Mann und Frau mit eigenen oder adoptierten Kindern, bzw. mit der grundsätzlichen Offenheit für eigene Kinder. Nicht-eheliche Gemeinschaften mit oder ohne Kinder, dauerhafte gleichgeschlechtliche Partnerschaften und alleinerziehende Eltern weisen jeweils neben wichtigen Übereinstimmungen auch wesentliche Differenzen mit diesem klassischen Familienbegriff auf und sind deshalb nicht Familie. Damit ist keine Herabsetzung der Menschen in solchen Lebensformen gemeint. Es handelt sich vielmehr um eine Differenzierung zur klassischen Familie.25 Für solche Lebensformen sollten andere Begriffe gefunden werden, so dass die begriffliche Verwirrung entschärft wird. So kann ohne Diskriminierung von Menschen Klarheit in der Kommunikation geschaffen werden. Eberhard Schockenhoff bringt mit Verweis auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1987 den wesentlichen Unterschied so auf den Punkt:
Dass es daneben auch unvollständige Familien geben kann, in denen durch das Zusammenleben von Eltern und Kindern ähnliche erziehungs- und Beistandsleistungen erbracht werden, steht dem Leitbild einer ‹vollständigen› Familie und der ‹bestmöglichen› Verwirklichung dieser Aufgaben nicht entgegen.26
3) Ausdrücklich zeitlich befristete Verbindungen auf Probe, polygame Verbindungen und solche zwischen einem Menschen mit virtuellen Wesen oder Robotern o.a. sind aus christlicher Sicht nicht nur begrifflich familienfremd, sondern auch moralisch abzulehnen. Sie widersprechen (in der Befristung oder als Polygamie) entweder der liebenden Ganzhingabe oder dekonstruieren (durch einen virtuellen o.a. künstlich erschaffenen Partner) das Wesen menschlicher Liebe (vgl. AL 53).
4) Dem klassischen Ideal stehen etwa auch schmerzliche Erfahrungen des Scheiterns gegenüber. Unbenommen des Faktums einer gescheiterten Familie treten hier selbstverständlich Caritas, Diakonie o.a. ein, um Not zu lindern und den betroffenen Menschen (besonders auch den Kindern) beizustehen.
5) Kinder machen unsere Gesellschaft reich. Eine Dekonstruktion der Vater- und Mutterrolle widerspräche dem Heilsplan Gottes, der die Kinder liebt und die Weitergabe des Lebens als Auftrag mitgegeben hat.
6) Es wird öffentlich diskutiert, bildungsnahen Paaren besondere Anreize zum Kinderreichtum zu geben, weil deren Kinder statistisch gesehen den Lebensstandard unserer zukünftigen Gesellschaft anheben. Abgesehen von der Fragwürdigkeit der Richtigkeit dieser Qualitätshypothese wird dann offenbar eine ökonomische Messlatte zum Wert von Kindern angelegt, die aus christlicher Sicht nicht akzeptabel ist.
7) Familien sind der erste Lernraum der Verantwortung füreinander in guten und schweren Zeiten sowie auch verbindlicher gegenseitiger Verantwortung der Generationen. Die Familie ist ein Ort, in dem sich die persönliche Suche nach Sinn und gutem Leben in besonderer Weise bewähren kann, wenn gemeinsame soziale Verantwortung statt materieller Erfolg im Mittelpunkt steht. Von hier aus wirken soziale Werte und Tugenden lebendig in die Gesellschaft. Sozialethische Aufgabe ist es, in der Gesellschaft für solche Regeln einzutreten, die Familien als Räume des Vertrauens stärken, in denen die Wahrung des gegenseitigen Wohls und Kinder grundsätzlich als Schatz und Segen verstanden werden.