Aufmerksam wurde ich auf das Kammerspiel von Melitta Breznik im Sommer 2020, als dieses Buch in Bestenlisten auftauchte. Einige durchweg positive Besprechungen ermutigten mich darüber hinaus, diesen Band zur Hand zu nehmen. Ich erwähne dies deshalb, weil zur jetzigen Form meiner Buchempfehlung die Genese meiner Wahrnehmung mit dazu gehört.
Die Rahmenhandlung ist räumlich wie zeitlich klar umgrenzt. Sie findet in einem Ort in der Steiermark statt, in dem die Autorin geboren und aufgewachsen ist und in dem sie ihrer Mutter vom 17. Oktober bis 1. Dezember beim Sterben unterstützend zur Seite steht. Melitta Breznik hat Humanmedizin studiert und sich später auf Psychiatrie und Psychotherapie spezialisiert. Sie lebt in der Schweiz. Im Sommer, bevor sie zur Mutter reist, bei der ein nicht operabler Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert wurde, war sie an Orten unterwegs, in denen ihr Vater während des Kriegs und in der Kriegsgefangenschaft war, um etwas mehr zu ergründen, was dazu geführt hat, «ihn als Vater versagen zu lassen» (11), und das ihn dazu gebracht hat, sich «als Quartalstrinker» mehr und mehr zurückzuziehen. Damit wird schon sichtbar, dass der Roman in die Zweierbeziehung von Mutter und Tochter die ganze Familiengeschichte mit einwebt. Feingliedrig schildert die Tochter, wie die Wohnung ihrer Mutter ihr begegnet, ohne zu vergessen zu erwähnen, dass der Wochenkalender, den die Mutter von der Nichte geschenkt bekam, die «Frauen von Tahiti am Strand» von Gauguin zeigt. Die Bilder dieses Kalenders begleiten die sechs Wochen.
Am 24. Oktober, dem 91. Geburtstag, teilt die Mutter allen Gratulanten mit, dass dies ihr letzter Geburtstag sei. Die ganze Familie einschließlich der Urenkelin feiert in friedlicher Stimmung und die Tochter schließt die Fenster im Zimmer, als die Glocken der nahen Kirche am Abend läuten, die kaum mehr ein Gespräch zuließen. Der Tochter war bei ihrem letzten Besuch im August aufgefallen, dass die Mutter beim Läuten der Glocken «halblaut das ‹Vater unser›» betete, was in der Familie völlig unüblich war. Die Familie war nicht religiös, die Tochter war katholisch getauft und gefirmt, was auf die Konfession des Vaters hinweist, und erfuhr von ihrer Mutter, dass sie wieder in die evangelische Kirche eingetreten sei («ein langgehegtes Bedürfnis»). Anhand des Familienalbums wird die Geschichte der Familie an diesem Geburtstag wieder lebendig. Am 28. Oktober ist der Todestag des Vaters, mit dem die Mutter sich vor seinem Tod versöhnte. Die Tochter entzündet deshalb eine Kerze für ihren Vater.
Worauf ich durch die Hinweise und Buchbesprechungen nicht eingestimmt war, sind die vielfältigen religiösen und kirchlichen Bezüge, die immer wieder in diese literarische Dokumentation einfließen, so beim Besuch an Allerseelen, 2. November, wo die Mutter sie bittet, dem «Vater und dem älteren Bruder», der mit 18 Jahren an einem Gehirntumor starb, einen Gruß auszurichten, sie mögen sie bitte zu sich holen. Zugleich ist der Gang auf den Friedhof mit Erinnerungen an die eigene Vergangenheit für die Tochter verbunden. Zu Besuch kommt der junge evangelische Pfarrer, der vom nahenden Tod der Mutter erfahren hat. Die Mutter bittet die Tochter, ihre Konfirmationsurkunde aus dem Jahre 1935 herauszusuchen, von deren Existenz sie bisher nichts wusste. Der Pfarrer schenkte der Mutter ein Hinterglasbild mit einer modernen Christusdarstellung, die die Tochter an die Terrassenscheibe klebt und dabei zugleich alle anderen gerahmten Fotos von der Familie entfernt. «Durch das Christusbild fallen Sonnenstrahlen und werfen rote, blaue und gelbe Farbschlieren auf Mutters Bettdecke. Sie erinnern an die Farbspiele der Glasfenster in alten Kirchen […] Jetzt sieht sie das wechselnde Farbenspiel im Zimmer und lächelt, bedankt sich für die ‹Geistdecke›, mit der sie nun während des Schlafes in lichtere Sphären schweben würde.» (61) In aller positiven und einfühlsamen Zugewandtheit zur Mutter werden der Tochter Konflikte wieder bewusst, die nicht gelöst worden sind. Der wohl schwerste und bisher nicht angegangene ist die Abtreibung, zu der die damals 17-jährige Tochter von der Mutter gezwungen wurde. Sie wurde trotz Verhütung schwanger. Ihr Freund und sie sahen eine mögliche Abtreibung als Fehler. Die Mutter gab der Tochter bei einem Gespräch über die Schwangerschaft «eine schallende Ohrfeige und verließ die Wohnung, ohne mich noch eines weiteren Wortes zu würdigen.» (81) Nach ständigem Streit mit ihren Eltern und den Eltern ihres Freundes «meldete ich mich letztendlich zu einem Termin in der Frauenabteilung des Spitals an.» (82) Später sagte ihre Mutter, sie habe sie davor bewahren wollen, mit «Kind und Kegel» zuhause bleiben zu müssen und keine berufliche Perspektive zu haben.
Das Geschehen wird in der Tochter wieder lebendig, als der evangelische Pfarrer zu ihnen nach Hause kommt und mit der Mutter, ihrem Bruder und ihr einen Abendmahlsgottesdienst feiert, in dem er bittet, sich gegenseitig die Hände zu halten und um Verzeihung zu bitten für das, «was sie sich gegenseitig angetan haben.» (93) Sie kann es nicht, auch wenn sie der Mutter zuliebe bei dieser Zeremonie dabeibleibt. Erst später klärt sich die Beziehung in diesem Punkt, als die Mutter von einem Traum erzählt, in dem sie eine Reise unternehmen will mit zwei Buben auf den Armen. «Der eine Knabe sei das Kind, das ich damals mit siebzehn Jahren verloren hatte, der andere sei ihr erstes Kind, das bei der Geburt gestorben war.» (98/99) Die Tochter, die noch die Aussprache mit der Mutter suchte, sieht in diesem Traum die Geste der Mutter, die «alles versöhnt». (99)
Noch eine andere ethisch relevante Frage erweist sich als kontrovers zwischen Mutter und Tochter, wenn auch nicht mit derselben Intensität wie die Abtreibung, die die Tochter später noch einmal körperlich quälend einholt. Es ist der Wunsch der Mutter nach ihrer Krebsdiagnose, dass die Tochter ihr helfe, von hier zu verschwinden, ohne dass sie davon etwas mitbekomme. «Als ich ihr sagte, ich würde ihr den ‹Erlösungstod› verweigern, reagierte sie unwirsch.» (28) Die Mutter entschuldigte sich später für diese Bitte. Dabei hatte die Tochter mit der Mutter Fahrten zu den psychiatrischen Kliniken unternommen, in denen die Großmutter als Psychiatriepatientin «im Nationalsozialismus ermordet worden war». (104) Sie wollte auch wissen, was die Mutter über die Euthanasie und die «Aktion T 4» wusste. Sie sprachen ebenfalls über die «in der Schweiz praktizierte Sterbehilfe. Ich sagte, als Ärztin würde ich einen assistierten Selbstmord nicht befürworten.» (104) Mutter unterstützte diese Einstellung, fragte aber, wie man sich selbst am besten als Kranker das Leben nehmen könne. Sie hat auch einen Selbstmordversuch unternommen. In der Sterbephase überlegt die Tochter, welche Dosis an Schmerzmitteln angemessen sei, damit die Mutter den letzten Weg gehen kann, ohne dass die Medikamente sie töten würden.
Das Profil des Textes von Melitta Breznik wurde für mich noch eindrücklicher, als im Herbst das Theaterstück GOTT von Ferdinand von Schirach im selben Verlag erschien. Ein 78-jähriger (Herr Gärtner) bittet um ärztliche Beihilfe zum Suizid. Einer fiktiven Sitzung des deutschen Ethikrats nachempfunden, wird der Wunsch des Antragstellers, der für sein Alter gesund ist, diskutiert. Dieses Theaterstück wurde zuerst in zwei Aufführungen (Berlin und Düsseldorf) gezeigt und im November 2020 im ersten deutschen Fernsehen gesendet. Am Schluss stand immer die Frage an das Publikum: «Halten Sie es für richtig, dass Herr Gärtner Pentobarbital bekommt, um sich töten zu können?» Die Ergebnisse sowohl bei den Theateraufführungen wie im Fernsehen erbrachten jeweils eine zustimmende Antwort von über zwei Drittel der Abstimmenden. Es kann hier an dieser Stelle, bei der es um die Empfehlung des Buches von Melitta Breznik geht, keine detaillierte Auseinandersetzung mit der Anlage und Argumentation des Bandes von Schirach geben, der von seiner Themenstellung her allein auf die Frage des medizinisch assistierten Suizids und seiner ethischen Erlaubtheit fokussiert ist.
Aber es ist bedeutsam, dass Melitta Breznik als Tochter, als unmittelbar Betroffene «spricht», die selbst Ärztin ist. Bei Ferdinand von Schirach wird Herr Gärtner ganz am Anfang des Stücks zur Haltung seiner beiden Söhne gefragt. Seine – zugleich abschließende – Antwort: «Wir haben das seit Elisabeths Tod (seine Frau) immer wieder diskutiert. Alle Argumente rauf und runter. Sie haben es akzeptiert.» Die Söhne kommen selbst nicht zu Wort.
Der Sterbeprozess der Mutter schreitet sichtbar voran. Sie reagiert nicht auf Ansprache. «Ich sage mit erhobener Stimme: ‹Mama, ich bin wieder da›, berühre sie sanft, streiche ihr über die Stirn, stelle den Luftbefeuchter näher an ihr Bett, aber ich halte mich zurück, will sie nicht herausholen aus ihrem hellblauen Schutzmantel, der sie in meiner Vorstellung umhüllt.» (146) Der zärtliche Umgang der Tochter mit der Mutter, der das ganze gemeinsame Leben mit seinen positiven Erinnerungen im Blick hat, aber auch den Konflikten, die jetzt überwunden sind, wird hier eingefangen in einem Bild, das in der katholischen Tradition an Maria als Schutzmantelmadonna erinnert. Diese vom Glauben her geprägte Sichtweise bleibt, wenn sie ihrer Mutter später zuflüstert, «es gäbe keine bösen Geister im Raum, das Christusbild leuchte am Fenster und würde sie beschützen. Sie habe in ihrem Leben, soweit ich wüsste, nichts Böses getan, und wenn doch, dann sei es bereits gesühnt.» (156) Am 1. Dezember endet die «Chronik eines Abschieds» mit dem «Stillleben mit Obst und Hummer von Pieter de Ring» auf dem Kalenderblatt. «Mutters Proviant für unterwegs. Ein letztes Glas voll funkelndem, lichterfülltem Wein. Mit einer ausholenden Geste meiner rechten Hand proste ich ihr zu. Auf Dein Leben, Mama.» – Ein beeindruckendes literarisches Dokument mit starken Überzeugungen!