Erkundungen einer «anderen Seite»Zwei neue Bücher von Christian Lehnert

Ob wir uns Engel als eine Art himmlische Dadaisten vorzustellen haben? In einem der Texte seines neuen Buchs erweckt Christian Lehnert fast diesen Anschein. Indem er eine traditionelle Vorstellung abklopft, ist dort vom «Zungenlallen» und «ekstatischen Jubel» während des kultischen Diensts vor Gott die Rede. Wunderliche Lautgestalten treten dabei zutage: «Wort und Sache, Signifikat und Signifikant, Meinen und Verstehen implodieren zum reinen Ausdruck voraussetzungslosen Sprechens.» Die Vokabeln zerfallen, ihre Bedeutungen entgleiten, kurz: eine «Sinnlosigkeit der Silben» herrscht «als Sinnfülle» vor, unserem Fassungsvermögen zufolge jedoch «der Ausweis offensichtlichen Unfugs» – wie er ähnlich gegen alle versteinert-versteinernden Konventionen ernsthaft eben auch in der vom Zürcher Cabaret Voltaire ausgehenden Szene betrieben wurde. Das implizit-religiöse Potenzial dieses «Narrenspiels», in das er «alle höheren Fragen verwickelt» sah, hat einer wie Hugo Ball jedenfalls nicht von ungefähr rasch erkannt.

Wenn die Engel Lieder anstimmen, treibt ihr durch in bloßer Atmung verklingendes «Hallel» – sofern es denn überhaupt hörbar ist – diesen Gestus auf die Spitze: «Solcher Gesang, von keinem Subjekt hervorgebracht, teilt nichts mit und drückt nichts aus.» Eine «namenlose Welt» dringt in die Sprache ein und setzt sich verwandelnd an ihre Stelle. Was aber den Menschen betrifft, so mutiert er in analogen Verrichtungen, wie sie aus Praktiken der «Gottestrunkenen» durch Völker und Zeiten bekannt sind, zum «Teil eines Klanges als reiner, fremder Ton seiner selbst». Gelangt er am Ende damit erst richtig zu sich?

Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten lautet der Titel dieses bemerkenswerten Bandes. Wer darüber zu schreiben sich vorgenommen hat, bekommt es mit Grenzen des Denkens und der Sprache zu tun. Wie Wittgenstein bleibt Lehnert deutlich, dass er ständig die Leiter wegwerfen muss, auf der er beim Unterfangen, Fremdes kognitiv nachvollziehbar in Sprache zu überführen, vorankommen möchte, ohne ihm dadurch seine Fremdheit zu nehmen. Aus diesen Aporien gerade beziehen seine Versuche produktive Spannung und entfalten ihren Reiz auf den Leser.

Über Nicht-Aussprechbares zum Reden genötigt zu sein, weil man zwingend eine Wirkung erfahren hat, Wirk-lichkeit also – die eines Unvertrauten im innersten «Tiefenselbst», eines «Unsichtbaren im Sichtbaren» auch –, ist von jeher das mystische Grundproblem kat´exochên. Umstandslos auf die Seite der Mystik schlägt dieser Autor sich jedoch keinesfalls – im Gegenteil. Sehr verschiedenartige Wege begehen seine insgesamt 62 Notate, Skizzen und Essays, deren kürzeste neun Zeilen aufweist, die längste dreizehn Seiten, um sich – samt darin beschlossener Fallgruben – einem rätselhaften Phänomen aus multipler Perspektive anzunähern. Manches Glanzstück ist darunter.

Gelehrt kommen nicht wenige daher, diskursiv, analytisch, durch kluge Einsichten und profunde Lektüre gestützt. Etymologisches und Ethnologisches wird verhandelt, aus der Kultur- und Theologiegeschichte allerlei hervorgeholt. Biblische Exegesen finden sich ebenso wie Schlaglichter auf die Natur und ihre Zeichensprache oder Reflexionen zur Befindlichkeit der westlichen Moderne. Wiederholt gilt lebensgeschichtlich Erinnertes der Zeit des Autors als Bausoldat in der DDR und Pfarrer einer kleinen sächsischen Gemeinde. Menschen zumal treten dort auf, die durch Selbstbegegnungen unversehens irritiert werden oder sich im Zustand der Vorläufigkeit befinden, wie in der atmosphärisch dichten Kurzgeschichte Die Glut über die Arbeit in der Brennkammer eines Betonwerks, wo Engel nur im Verschwiegenen anwesend scheinen. Mit literarischen Mitteln führt der Verfasser gleichsam eine Phänomenologie unserer auf sie bezogenen Bewusstseinsinhalte durch, eine eigenwillige eidetische Deskription in entgleitenden Umrissen. Zugleich knüpft er damit einen zentralen Strang seines bisherigen Schaffens fort.

Christian Lehnert ist ein produktiver Autor. Seit 1997 sein erster Gedichtband erschien, Der gefesselte Sänger, sind sieben weitere hinzugekommen1, ebenso viele Libretti sowie zwei Bände essayistischer Prosa, die den Ersten Korintherbrief bzw. die christliche Liturgie zum Gegenstand haben. In ihnen hat er sich als eine der anregendsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur profiliert. Um die Durchsichtigkeit der Welt geht es ihm in immer neuen Anläufen. Damit hat er Anteil an einer spezifischen Problemlage von Literatur in der Moderne. Je vermessbarer die Wirklichkeit unter dem Vorzeichen der exakten Wissenschaften wurde, desto nachdrücklicher zielten und zielen nicht wenige Dichter auf ein Darüber-Hinausgehendes ab. William Butler Yeats, eine der großen Figuren am Beginn dieses Trends, ließe sich beispielhaft daraufhin befragen, für den Kunst – und besonders das sie tragende Prinzip der Imagination, des schöpferisch So-noch-nie-Dagewesenen – nachgerade selbst zu einer Form spiritueller (Ein-)Übung wurde. Wollte man Lehnert als religiösen Autor bezeichnen, wie dies häufiger geschieht, wäre also hinzuzufügen, dass hierdurch ein Gespür für ästhetische Weite markiert wird.

Auch in seinen Schwellengängen mit Blick auf Engel sind die Künste sehr präsent. «Schwestern» der Religionen nennt er sie hier einmal «in der Feier des Ungedachten und Unmöglichen, des Konjunktivs und der Utopie». Ihnen gemeinsam ist, dass sie mit Unerschlossenem zu tun haben, ja mit «Geheimnissen». Beide erweitern unsere Wahrnehmungsebenen, beide verhelfen uns dazu, für vorher Nicht-Vorhandenes sehend zu werden. Beide stellen sich Lehnert als Widerständler gegen behauptete Ausschließungen und Abgeschlossenheiten dar, als Ausgänge in die Freiheit des nicht schon ein für allemal Erklärten und Erledigten. In diesen Räumen des «Grenzwesens» Mensch, dort, wo er Risse im eigenen Sein zulässt, wo er sucht, lauscht und schließlich inne zu werden vermag, blitzen Engel als Konkretisationen einer unfassbaren Vorhandenheit auf, als Botschafter eines Numinosen.

So lässt sich dieses Kaleidoskop als Plädoyer dafür lesen, mit «dem radikal Fremden» zu rechnen, oder, einen weiteren Wort-Behelf wählend: dem «All-Nichts der Gottheit», deren Näherungsmodus für uns die Engel sind. «Alles kommt auf die Bewegung an, der es sich zu überlassen gilt», resümiert Stefan Seidel im Lehnert-Kapitel seines beachtlichen «Versuchs über die Religiosität der Zukunft», auf den im Vorübergehen wenigstens aufmerksam gemacht werden soll, «jenes Geöffnetwerden für den Horizont des Anderen.»2 Daran, dass derlei in keiner Weise nützlich ist, nicht zweckmäßig, dass es jegliches Andienen eines individuellen oder gesellschaftlichen Werts inklusive des damit einhergehenden «übergriffigen Sprachschmutzes» ausschließt, bestehen für den Autor keine Zweifel. «Verstörend jenseitig» bleibt die Konfrontation mit dem Uns-Übersteigenden vielmehr.

Der abschließende Text des Engel-Buchs enthält zu Beginn eine An-Rede Gottes, eine Art Gebet also, in dem «Gewißheit» und «Ermangelung» geeigneter Semantik miteinander kurzgeschlossen werden. Auch hier zeigt sich eine Kontinuität im Werk Lehnerts. Anschauungsmaterial zu diesem Genre hat er, seiner aktuellen Prosa unmittelbar vorausgehend, in einem schmalen, doch reichen Bändchen gesichtet: Gebete der Menschheit.

Zeittiefe bei weitem geistigem und geographischem Radius spiegelt seine Auswahl von 60 Beispielen. Den Engeln vergleichbar, waltet auch hier Viel-Gestalt vor. Archaische Zeugnisse und moderne Kunstgebilde werden in direkte Nachbarschaft gebracht, individuelle und kollektive Sprechweisen. Unvermittelt lässt das Auftaktkapitel bereits Johannes vom Kreuz, Czesław Miłosz, Paulus und Hesiod aufeinander folgen. Echnaton fernerhin, Laotse und die Mithras-Liturgie geben sich ein Stelldichein, Patristen und Pawnees, Gnostik und Yoga, Jüdisches, Buddhistisches und Dschelal-eddin Rumi treffen aufeinander, das barocke Kirchenlied und der orphische Hymnus, ein Klagegebet der Zulu und Celans «Tenebrae». Ein polyphoner Chor der Menschheit kommt auf diese Weise zum Vorschein, dem in Variationen die gleiche Melodie zugrunde liegt. Bei sehr unterschiedlichen Bezugsrahmen entpuppen Haltung und wiederkehrende Motive sich jeweils als verwandt (ohne dass daraus irgendwelche One-World-Religion abzuleiten wäre).

Entschieden eine «literarische Sammlung» veranstaltet zu haben, beansprucht Lehnert in seinem Nachwort. Dabei werden – einer Wendung des Weisen aus Kafkas Miniatur Von den Gleichnissen folgend – die Gebetstexte nur als sprachliche Einkleidungen jenes Ratschlags verstanden, unter dessen Überschrift es gestellt ist: «Gehe hinüber», mache dich auf den Weg der «‹anderen Seite›» entgegen, in der Religion wesentlich verankert ist. Vor dem Hintergrund dieses «Bewegungscharakters» interpretiert er das Gebet als Vollzug unter der Gegenwart eines lebendigen Gottes, zu dem man spricht und von dem man gehört, erst recht angeblickt, werden möchte. Untersuchungen bloß von dessen semantischem Gerüst bleiben daher notgedrungen bruchstückhaft.

Vieles darin ist unwägbar im Fluss. So schlagen Anrufungen des Höchsten aus der Rede ins Schweigen um. Bitten werden nicht erfüllt, sondern verwandelt. Auch das transzendente Licht bleibt zweideutig: zur Erleuchtung wie zur Blendung kann es führen. Reiflicher noch als solche Querschnitte macht Lehnerts Erkenntnisinteresse Analogien zwischen dem Dichten und Beten dingfest (auf die sich interessanterweise die Lyrikerin Nora Gomringer vor kurzem ebenfalls bezogen hat). Hier wie dort, so eines seiner Stichworte dazu, ist man «an der Grenze der vertrauten Sprache unterwegs und erkundet Räume, wo Worte noch fehlen». Das Gedicht – im Konjunktiv natürlich statt dem direkten Artikel! – «findet zu sich selbst in einem suchenden Sprechen». Demgemäß spürt ein betender Mensch «immer die Unzulänglichkeit seiner Ausdrucksformen. Jedes Wort zeigt so viel wie es verbirgt.» Beide Realitäten jedenfalls vermögen den daran Beteiligten Schneisen «ins Offene» aufzutun.

Tatsächlich sind wir unhintergehbar auf Fiktionen angewiesen, auf Sprachbilder, in denen sich, wie Lehnert schreibt, was als «Gott» bezeichnet wird, zu erkennen gibt und zugleich darin verschwindet. Christlicher Glaubensreflexion war dies durch alle Zeiten wohlbekannt: von Hilarius von Poitiers über das Vierte Laterankonzil bis hin zur Mahnung des Katechismus der Katholischen Kirche von 1992, unsere Sprache unablässig zu «läutern», um den «unaussagbaren, unbegreiflichen» Gott, nicht mit «menschlichen Vorstellungen von ihm zu verwechseln». Gleichwohl wäre zu fragen, ob religiöse Vollzüge einem radikal Offenen gegenüber ohne verlässliche Orientierungspunkte, formelhafte auch durchaus, sich nicht in existenzferne Abstraktionen aufzulösen drohen. Wie auch immer: dass Lehnert dieses komplexe Thema seiner poetischen Bohrungen für sich selbst als ausgewrungen betrachtet, ist eher unwahrscheinlich.

Nicht überblättert werden dürfen schließlich die den Band begleitenden acht Bilder von Michael Triegel. Weit mehr als nur schmückende Beigaben sind es, und schon gar keine Illustrationen. Die Linienschärfe ihres – ob im Stillleben oder Porträt – über sich hinausweisenden Realismus verleihen ihnen Züge vorzüglicher Transformationen des Impulses «Gehe hinüber» in eine andere Kunst.

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