Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?
Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt
Bin ich verloren.)
Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.
Ich wäre gerne auch weise
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
(aus: Bertolt Brecht, An die Nachgeborenen)
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An ihren Bäumen sollt ihr sie erkennen: Brecht ist, nach Goethe, der wohl produktivste, findigste, vielleicht sogar kundigste unter den deutschsprachigen Baum-Dichtern. In seiner Lyrik hat er die religiösen, die biblischen, die gesellschaftlichen, politischen und philosophischen Dimensionen von Bäumen gründlich abgegrast. Als einer der letzten enthusiastischen Naturdichter schwärmte er so sehr von Bäumen, dass er seinem Lieblings-, nämlich Pflaumenbaum einen Namen gab («Green») und respektvoll mit ihm redete; er siezte ihn 1926 in der Gedichtsammlung Hauspostille. Der Baum steht hier für Lebensbeständigkeit und vegetative Kraft, für Erkenntnis, er lenkt unseren Blick nach oben. Aber er symbolisiert auch das krumme Holz, aus dem der Mensch geschnitzt ist. Das Schreiben über Bäume wurde Brecht verleidet, als die Nazis an die Macht kamen und mit ihrer Ideologie die Literatur in «Blut und Boden» stampften. Einen Tag nach dem Reichstagsbrand, am 28.2.1933, musste er aus Deutschland fliehen. Doch die Bäume aus seinen Gedichten zu verbannen, das wollte und das konnte er wohl nicht. Im Exil, in Dänemark, Mitte der 1930er Jahre, schrieb er die vielzitierten Verse: «Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!»
Das «Gespräch über Bäume» ist eines der berühmtesten Brecht-Zitate. Es stammt aus Brechts dreiteiligem Vermächtnisgedicht An die Nachgeborenen, das 1939 in der Zeitschrift Die Weltbühne (Paris) erstveröffentlicht wurde und die im gleichen Jahr zusammengestellte Sammlung seiner Svendborger Gedichte abschließt. Der erste Teil ist umrahmt von einer Feststellung in biblischem Tonfall: «Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten». Gemeint sind die Zeiten von Flucht und Vertreibung. Nichts ist da mehr selbstverständlich, das spärlichere Einkommen nicht, das Essen und Trinken nicht, und schon gar nicht das Sprechen und Schreiben. Überleben im Exil ist Glück. Schlechte Zeit für Lyrik. Nicht mehr die «Begeisterung über den blühenden Apfelbaum», wie es in einem anderen Gedicht heißt, treibt den Dichter an den Schreibtisch, sondern der Protest gegen die Reden des Diktators und der Einsatz für ein humanes Miteinander: «Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist».
Ist ein Gedicht über Bäume da nicht hilflose Realitätsflucht und, mehr noch, «fast ein Verbrechen»? Brechts Verse beseufzen aber nicht den Verzicht auf Bäume. Sie beschreiben ein Problem. Es besteht aus einem dialektischen Argument, das Gegensatzpaare aufbaut und sie wieder auflöst. Das «Gespräch» schließt ein «Schweigen» ein, die «Bäume» stehen den «Untaten» gegenüber, und die, die nur über die Bäume sprechen, sind «untätig» und machen sich «fast» eines Verbrechens schuldig. Auf dem Adverb «fast» liegt ein metrischer Akzent, und wenn man dem kleinen Wort auf die Schliche kommt und die ursprüngliche mittelhochdeutsche Bedeutung «fest» mithört, dann müsste einem das Sprechen über Bäume in Krisen- und Kriegszeiten echt ein schlechtes Gewissen machen, «fast» jedenfalls, folgt man Brecht.
Eine weitere Auffälligkeit ist das «wo» im sechsten Vers. Anstelle des «wo» hätte man eigentlich entweder das Relativpronomen «in denen» oder ein konditionales bzw. temporales «wenn» erwartet. Aber indem Brecht den Vers nach dem «wo» bricht, hält er den Appell-Satz «Was sind das für Zeiten» auf, gerade als die Strophe in Fahrt kommt. Die Natur im Gedicht hat ihre Unschuld verloren. Aber nicht ihre inspirierende Wirkung auf den Dichter. Im Gespräch stiftet der Baum Erkenntnis, politisch und persönlich. Kein Zweifel, Brecht hat den Bäumen, wie sein Freund Walter Benjamin notierte, der mit ihm im Sommer 1936 im dänischen Fluchtdomizil unterm Birnbaum Schach spielte, das Heroische genommen.
Die Dichter unter den Nachgeborenen hat Brechts Appell nachhaltig irritiert. Günter Eich sagt, dass er nicht über Bäume sprechen wolle, tut es aber dadurch eben doch. Das ist ein poetischer Selbstwiderspruch: «Die Kastanien blühn. / Ich nehme es zur Kenntnis, / äußere mich aber nicht dazu» (1966 in dem Gedicht Vorsicht). 1955 hatte Eich aus dem Ausrufezeichen, das Brechts grammatische Art war, Nein zu sagen, noch ein Fragezeichen gemacht: «Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume?» (in dem Gedicht Ende eines Sommers). Für den ostdeutschen Dichterkollegen Peter Huchel hat Brecht «Gespräche wie Bäume gepflanzt» (Der Garten des Theophrast, 1962). Erich Frieds Gedicht Neue Naturdichtung (1972) spricht von einem «Er» (womit wohl Brecht gemeint ist), der wisse, dass «es eintönig wäre / nur immer Gedichte zu machen / über die Widersprüche dieser Gesellschaft». Lieber würde er über die «Tannen am Morgen» schreiben, doch die sind «vielleicht schon gefällt», hätten aber noch den «Harzgeruch», der ein «neuer Eindruck» wäre und «mehr als genug / für ein Gedicht / das diese Gesellschaft anklagt». Dieses Gespräch über Bäume tut sich schwer mit der beschädigten Natur, es kann ja nur «selbsterlebt» sein, wenn es um Bäume geht, die im Konjunktiv II stehen, also im Irrealis; gefällt wie die Bäume ist auch der Modus ihrer Wahrnehmung.
Paul Celan hat 1968 das kurze Gedicht Ein Blatt, baumlos, / für Bertolt Brecht geschrieben: «Was sind das für Zeiten, / wo ein Gespräch / beinah ein Verbrechen ist, / weil es so viel Gesagtes / mit einschließt?» Celan macht aus Brechts Ausrufungszeichen ein Fragezeichen. Der Wortlaut ist fast gleich, aber signifikant reduziert. Kriminalisiert Brecht ein «Gespräch über Bäume», wenn es die politische Aufklärung ignoriert und schlimmstenfalls verhindert, so stellt der 1920 in Czernowitz geborene Celan, der den Holocaust überlebte und zeitlebens an den Folgen litt, gleich jedes Gespräch in Frage, weil es belastet ist durch schon «so viel Gesagtes».
Die Echos auf Brecht zeigen: Die Dichter schreiben weiter über Bäume, auch im Gestus der Verneinung und gerade in dieser Zeit, wenn der Mensch im Anthropozän das Ökosystem so sehr bestimmt, dass die globalen Folgen unumkehrbar sind. Die Bäume bleiben also im poetischen Gespräch. Wenn sie fehlen, bleibt immerhin ein Blatt. «Von der Landschaft und allem, was sie dem Lyriker sonst geboten hat, kommt auf diesen heute nicht mehr als ein Blatt», schreibt Benjamin in seinem Brecht-Kommentar. Im Corona-Frühjahr 2020 waren es Blätter, auf denen Naturgedichte in Klarsichtfolien auf Bäume in Hamburger Parks gehängt wurden.