Weinen

Das Weinen ist eine emotionale Ausdrucksform, die im ganzen Spektrum menschlicher Gefühle zu Hause ist, nicht nur in der Traurigkeit. Ein physiologisch alltägliches Phänomen, das gesteigerte Aussondern der Tränenflüssigkeit, ist zugleich Spiegel des Gemüts und zeigt ohne Worte, dass die Person emotional angerührt ist. Weinen ist dem Lachen, dem Lächeln und überhaupt der ganzen Mimik verwandt, sticht aber in besonderer Deutlichkeit hervor. Es ist sichtbarer und auffälliger als andere körperlichen Gefühlsausdrücke. Vielleicht haftet öffentlichem Weinen auch deshalb der Makel der peinlichen Entgleisung an – wobei es nicht nur als Schwäche und mangelnde Selbstbeherrschung, sondern, je nach Akteur und Situation, zuweilen auch als Zeichen der emphatischen Berührbarkeit und des authentischen Mitgefühls interpretiert wird.

Tränen sind ein ebenso starkes wie trügerisches emotionales Zeichen. Selbst Kindertränen dürften vom Verdacht der Täuschung, des Kalküls, nicht frei sein. Es gibt Krokodilstränen, Theatertränen, erpresserische Tränen. Anschaulich wird die Ambivalenz des Weinens aber auch schon im Unwillkürlichen: Ästhetische Erfahrungen, insbesondere im Kollektiv, können das Gemüt unabhängig von ihrer moralischen Qualität ergreifen, Resonanzen auslösen und Tränen fließen lassen. Es ist der Vernunft aufgegeben, solche Ergriffenheit zu zügeln und wohl zu dosieren.

Nimmt man, wie die vorliegende Ausgabe der communio, den Zusammenhang zwischen Weinen und religiöser Erfahrung in den Fokus, darf diese Ambivalenz nicht ausgeblendet werden. Um zu unterscheiden, wäre von Rausch und Ekstase zu reden, auch von demagogischer Verführung. Aber wo Menschen Tränen der religiösen Ergriffenheit vergießen, kann auch etwas vorgehen, was der Religionssoziologie Robert Bellah «Einswerdungsereignisse» genannt hat: erschütternde «Erfahrungen der Partizipation, der Richtigkeit der Dinge und des persönlichen Wohlergehens».1 Könnte das Weinen des so innerlich berührten Menschen ein Evidenzerlebnis des Herzens sein?

Literarisch sind solche Erfahrungen selten frei von nachträglicher Stilisierung. Chateaubriand, französischer Politiker und Literat der Romantik, berichtet über das Erlebnis, das ihn zum Glauben zurückgeführt haben soll, wie folgt: Seine sterbende Mutter trug, schreibt er,

einer meiner Schwestern auf, mich an die Religion zu erinnern, in der ich erzogen worden war. Meine Schwester teilte mir den letzten Wunsch meiner Mutter mit. Als mich ihr Brief jenseits des Meeres erreichte, lebte auch meine Schwester nicht mehr… Diese beiden Stimmen aus dem Grabe, dieser Tod, der dem Tode als Vermittler diente, haben mich heftig erschüttert. Ich bin Christ geworden. Ich bin nicht, ich gestehe es, von großen übernatürlichen Erleuchtungen heimgesucht worden, meine Überzeugung ist dem Herzen entsprungen: Ich habe geweint, und ich habe geglaubt.

«J’ai pleuré, et j’ai cru».2 Gibt es also diesen Zusammenhang zwischen Weinen und Glauben, zwischen innersten Berührungen, die eine durchschlagende Evidenz entfalten, und dem Impuls, diese Erfahrung als Gabe zu begreifen?

Dass das Weinen auch Teil spiritueller Praxis sein kann, dass Betende vor Gott Tränen vergießen, scheint dabei fast vergessen. Vielleicht ist das sogar symptomatisch: Ergriffenheit und Emotion haben in der Theologie keinen guten Leumund. Wer würde der Bedrängnis, solche Phänomene religiöser Erfahrung kritisch unterscheiden zu müssen, nicht ausweichen wollen? Und ob fromme Dichtung und Komposition die heutigen Gemüter zu erschüttern weiß – «wir setzen uns mit Tränen nieder» singt der Chor am Ende von Bachs Matthäuspassion –, sei dahingestellt.

Grund genug, in vorliegendem Heft das Weinen von verschiedenen Seiten zu untersuchen. Zwar weint Gott in der Bibel nicht, aber rabbinische Schriften kennen das Trostbild des ‹weinenden Gottes›. Es ist Teil seiner ‹Humanisierung›, des Heranrückens des unverfügbaren Gottes an die menschlichen Erfahrungen – bis in den Abgrund der Shoah hinein, wie Alfred Bodenheimer ausführt. Im Neuen Testament weint bekanntlich auch Jesus mehrfach. Hans-Ulrich Weidemann stellt dar, wer im Neuen Testament Tränen vergießt. Auffällig ist dabei, dass durchaus Frauen und Männer weinend dargestellt werden; die Forderung Platons, Helden müssten in Erzählungen stets ‹mannhaft› selbstbeherrscht auftreten, wird also von den Autoren kaum bedient.

Wenig bekannt sind die Beispiele des ‹geistlichen Weinens›, die Tibor Görföl durch die Jahrhunderte christlicher Frömmigkeit verfolgt. Weinen und Gebet stehen im Westen wie im Osten immer wieder eng beieinander – aber hat uns Heutigen die ‹Gabe der Tränen›3 noch etwas zu sagen? Dass der Glaube eine Evidenz des Gefühls kennt und braucht, dafür plädiert jedenfalls der Beitrag von Johannes Hartl, der das Panorama des ambivalenten Verhältnisses zwischen Theologie und Gefühlswelt abschreitet.

Zu den zu wenig beachteten Facetten christlicher Praxis gehören wohl auch die Formen liturgischer Klage und Trauer, denen Ingrid Fischer nachgeht. Was sonst wenig Raum hat, kann hier Ausdruck finden: das Klagen, dass Gott fehlt, sein Helfen ausbleibt; dass die Last der persönlichen Nöte zu groß wird; Trauer auch darüber, dass man selbst hinter der Zuwendung Gottes zurückbleibt; und natürlich auch die empörte Klage von Betroffenen sexueller Gewalt innerhalb der Kirche. Auch die Kirche und ihre Repräsentanten liefern wahrlich genug Gründe zu Weinen. Man kann nur hoffen, dass die Glaubenden sich weiterhin und trotz allem vertrauensvoll an ihren Herrn wenden, mit den Worten des Psalms gesprochen: «tröste uns wieder» (Ps 60,3).

In den Perspektiven sind, unter anderem, zwei kontroverse Beiträge dokumentiert, die auf die Debatte um das Papier «Gemeinsam am Tisch des Herrn», ein Votum des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, eingehen. Nötig ist eine vertiefende Diskussion, die das Verhältnis von Kirchen- und Eucharistiegemeinschaft weiter klärt und im Zuge dessen nicht nur wesentliche Topoi der Eucharistietheologie ökumenisch neu erörtert, sondern auch Grundfragen des Verhältnisses von Einheit und Vielfalt, Schrift und Tradition, Lehramt und Theologie, Glaube und Gewissen aufgreift. Die Beiträge von Achim Buckenmaier und Margit Eckholt zeigen, wie diese Debatte konstruktiv geführt werden kann: Achim Buckenmaier bietet eine kritische Lektüre, die bereits vor der römischen Reaktion konzipiert worden ist und anfragt, wie das Papier mit Grundsätzen katholischer Theologie vereinbar sein könne; Margit Eckholt liest es im Kontext weltweiter Bemühungen, die Identität der katholischen Kirche dialogisch auf die Ökumene und die Welt von heute zu beziehen.

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