Zu den erschreckenden Visionen Jesu gehört die Zerstörung Jerusalems. Nach Markus, Matthäus und Lukas hat er vorausgesehen, was im Jahre 70 n. Chr. traurige Realität geworden ist: Flavius Josephus hat in seinen Büchern über den Jüdischen Krieg und die Jüdischen Altertümer die grausame Geschichte erzählt: Hass und Terror, Mord und Totschlag, Vergewaltigung, Raub, Brandschatzung – Zerstörung allenthalben.
Auf dem Ölberg hält die Kapelle Dominus flevit die Erinnerung daran fest, dass Jesus nach dem Lukasevangelium geweint hat, als er bei seinem triumphalen Einzug in die Stadt vor dem Paschafest weiter als alle anderen geblickt hat: über sein eigenes Kreuz und seine Auferstehung hinaus in die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes hinein, das auf Gottes Erde inmitten aller Völker seiner Sendung folgt (Lk 19,41). Nicht Genugtuung ob eines angeblich verdienten Schicksals, nicht Befriedigung ob der Treffsicherheit einer Unheilsprognose, nicht ressentiment ob der Ablehnung Jesu soll das Herz der Gläubigen erfüllen, sondern Mitleid mit den Opfern, Anteilnahme an ihrem Geschick, Wahrnehmung ihres Leidens. Später wird Lukas vom Kreuzweg erzählen, dass Jesus Jerusalemer Frauen begegnet ist, «die um ihn klagten und weinten». Ihnen sagt er: «Weint nicht um mich, weint um euch und eure Kinder» (Lk 23,27–28). Jesus gibt denen Recht, die nicht das eine gegen das andere Leid aufwiegen; er ist an der Seite derer, die Not und Unglück an sich heranlassen, eigenes wie fremdes, und fähig sind, zu trauern.
Das Ethos der Empathie und die Prägnanz der Prophetie gehören wechselseitig zusammen. Beides verbindet sich auch in der Antwort Jesu auf die entsetzte Frage seiner Jünger, welches die Anzeichen sein werden, an denen sie die Katastrophe kommen sehen können (Lk 23,7). Sie fragen, weil sie sich wappnen wollen: dadurch, dass sie wissen, was die Stunde geschlagen hat. Sie wollen Deutungsmacht über die Zeichen der Zeit, um aus ihrem Glauben Überlebensvorteile zu ziehen – Jesus soll sie ihnen verschaffen. Aber die Antwort, die in den Evangelien erzählt wird, durchkreuzt ihre Erwartungen und auch ihre Hoffnungen.
Die Prophetie Jesu, die in der «synoptischen Apokalypse» eine Form findet, öffnet zwei Perspektiven. Zum einen löst sie den Blick von der Fixierung auf einzelne Ereignisse, so schlimm sie sind, und weitet ihn für die größeren Zusammenhänge, die offenen und verborgenen Wechselwirkungen. Nach dem Lukasevangelium: «Es wird große Erdbeben geben, und Seuchen werden an Orten sein und Hungersnöte; schreckliche Dinge werden geschehen und große Zeichen vom Himmel» (Lk 21,11). Die Reihe ließe sich fortsetzen; es gibt eine alte Tradition, nicht nur der Bibel, Geißeln der Menschheit zu benennen – und leider Gottes ist sie aktuell wie eh und je. Jede Generation mag denken, besonders schwer getroffen zu sein; aber das Quantifizieren ist von Übel – es geht um die Qualität. Die «Seuchen» stehen bei Lukas zusammen mit Erdbeben und Hungersnöten. Im näheren Kontext ist von Kriegen und Bürgerkriegen die Rede, die zur Tempelzerstörung geführt haben. Auch die Verfolgung der Gläubigen gehört in dieses Panorama des Schreckens. Jedes einzelne Phänomen ist brutal, jedes einzelne Erleben ist schlimm. Die Zusammenhänge zu beachten, mindert nicht das Leid, aber hilft bei der Ursachenbekämpfung, bei der Schadensbegrenzung und bei der Wiederaufbauanstrengung.
Zum anderen verweigert sich Jesus einer eindeutigen Ansage, einer positiven Deutung des Schreckens, einer Rechtfertigung Gottes oder des Menschen angesichts der Katastrophe. Dies alles ist vielmehr das Geschäft der Unheilspropheten, für die untrüglich klar ist, dass der ganzen Welt das letzte Stündlein geschlagen haben wird. «Viele werden in meinem Namen kommen und sagen: ‹Ich bin es›, und: ‹Die Stunde ist gekommen!›» (Lk 21,8). Jesus denkt und redet anders. «Nicht» ist das Schlüsselwort der Rede. «Gebt acht, nicht irregeführt zu werden» (Lk 22,7) – «Lauft ihnen nicht nach» (Lk 22,8) – «Lasst euch nicht Angst machen» (Lk 22,9). Diese Kette von Warnungen hat einen sachlichen Grund: «Dies ist nicht schon das Ende» (Lk 22,10).
Beide Perspektiven gehören zusammen. Zwar wird Jesus nicht selten eine Naherwartung zugeschrieben, die angeblich keine Zukunftsoptionen mehr öffnen könne. Aber diese These kann nur vertreten, wer tief ins Fleisch der Jesustradition schneidet und die Hälfte der Überlieferung weglässt. Typisch ist vielmehr die Komplexität, in der Jesus Zeit und Ewigkeit vermittelt. Jeder Moment kann der letzte sein – und ein Geschenk Gottes, das Zukunft hat.
Die Konsequenzen sind ernüchternd und erhellend. Die Zeit geht weiter. Es wird also auch weitere Kriege, weitere Naturkatastrophen, weitere Seuchen und Hungersnöte geben. Alle können ein Ende sein, aber auch ein neuer Anfang, ein Abbruch oder ein Aufbruch. In jeder Krise gilt es, nicht nur die Chancen zu sehen, sondern auch die Not und den Tod, aber ebenso das neue Leben mitten im alten – in den Dimensionen von Tod und Auferstehung.
Die biblische Apokalyptik macht nicht blind, sondern hellsichtig. Weil sie ein absolutes Ende und einen endgültigen Neuanfang denken kann, vermag sie Zeithorizonte von Krisen einzuschätzen und Lösungs-, mindestens aber Überlebensstrategien zu entwickeln. Weil sie angesichts unschuldigen Leidens an Gott und seiner Gerechtigkeit festhält, stärkt sie die Solidarität mit den Opfern, den Betroffenen, den tödlich Bedrohten und Überlebenden. Weil sie vollkommenes Erkennen Gott selbst vorbehält, wahrt sie den eschatologischen Vorbehalt (Erik Peterson) und gelangt zu Urteilen, die Ethos und Ratio verbinden.
In der Corona-Pandemie bewährt sich diese Urteilskraft genuin biblischer Theologie1, die an der Peripherie das Zentrum sucht und den Mittelpunkt nicht festnagelt, sondern in der Bewegung sieht, die Gott selbst der Welt mit auf den Weg gibt.
Zum einen ist «Corona» ein medizinisches, aber auch politisches, soziales, kulturelles Phänomen. Durch die Pandemie wird kein Problem dieser Welt gelöst, aber jedes verschärft: die globale Ungerechtigkeit, das Bildungsgefälle in allen Gesellschaften, die häusliche Gewalt, die strukturelle Entsolidarisierung. Auch der Klimaschutz wird nicht verbessert: Das Artensterben nimmt zu, die Plastikvermüllung erreicht neue Ausmaße, die Ausbeutung der endlichen Ressourcen setzt sich fort. Alternative Energien zu entwickeln, wird nicht leichter, sondern schwerer, weil persönliche Kontakte eingeschränkt, politische Willensbildung belastet und Techonologietransfers erschwert werden. «Corona» zieht in den Medien so viel Aufmerksamkeit auf sich, dass Kriege und Bürgerkriege, Hungersnöte und Volkskrankheiten zu Randnotizen werden. In der vernetzten Welt ist das komplexe Denken der Apokalyptik, das sich im Wirkungsbereich der Fundamentalunterscheidung von Schöpfer und Schöpfung überhaupt erst zu entwickeln vermag, ein Signal, genauer hinzuschauen und die verborgenen Zusammenhänge zu analysieren.
Zum anderen ist «Corona» nicht das Ende der Welt, auch nicht das Ende der Geschichte. «Corona» selbst ist so schnell nicht überwunden. Die Pandemie kommt in Wellen, sie kommt zeitversetzt auf dem gesamten Globus, sie kommt in immer neuen Varianten. Aber sie kommt und geht und kommt wieder und geht wieder – zusammen mit anderen Phänomenen, die zu bestimmten Zeiten alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen scheinen, aber doch mit der Zeit sich ändern, ohne niemals ganz zu verschwinden.
Wenn aber «Corona» weder alles Handeln, Denken und Beten gefangen nehmen noch rational oder spirituell verdrängt werden darf, stellt sich die Frage, wie vor Gott und den Menschen empathisch und solidarisch, rational und spirituell von der Pandemie zu sprechen ist. Wie zeigt sich die Welt angesichts der Seuche, nicht nur mit den Särgen auf Militärlastwagen in Bergamo um Ostern 2020? Wie zeigt sich Gott auf dem Antlitz derer, die auf den Intensivstationen nach Luft ringen? Wie zeigt sich die Seuche, wenn sie nicht nur virologisch, sondern auch theologisch betrachtet wird? Und welche Aufgabe käme der Kirche zu, die sich nicht in eine intellektuelle, moralische und religiöse Quarantäne begeben darf, als ob sie nichts zu sagen hätte – gerade wenn sie anerkennt, mitten in der Welt zu sein und deshalb alles tun muss, kein Ansteckungsort zu werden, weder im biologischen noch im ideologischen Sinn?
Es gibt viele Antwortversuche: Die Pandemie offenbare die Krankheit der Welt und die Verborgenheit Gottes. Das Virus zeige Menschen ihre eigene Nichtigkeit und die Unwirksamkeit Gottes. Leere Kirchen erwiesen sich als vorgezogene Dystopien der Christenheit. Aber die Pandemie ist auch der Kairos medizinischer und sozialer Hilfe. Gott wird nicht nur vergessen, sondern auch vermisst und herbeigerufen. Die leeren Kirche sind vom Geist Gottes erfüllt, analog und digital.
Einfache Antworten sind falsch – aber nicht jede Antwort führt auf einen Holzweg. Walter Kardinal Kasper zeigt in seinen Erfahrungsreflexionen, die philosophisch und theologisch geprägt sind, wie die Krise wahrgenommen, verstanden und, so Gott will, überwunden werden kann. Jan-Heiner Tück führt das Gespräch sowohl mit Albert Camus als auch mit Philipp Roth, um zu erkennen, wie Seuchen als personale und soziale Krisen geschildert werden, die traditionelle Theodizeeversuche ab absurdum führen, aber doch die Gottesfrage nicht ruhigstellen, sondern neu aufbrechen lassen – und christologisch beantwortet werden können, wenn Kreuz und Auferstehung zusammengebracht werden. Joachim Negel lotet theologisch die Möglichkeiten aus, in der Corona-Pandemie und mit ihr zu leben, sucht aber zugleich nach den Gründen für die vielfach beklagte «Sprachlosigkeit» von Theologie und Kirche, um nach Abhilfe in einem weisheitlich inspirierten Glauben zu suchen. Elisabeth Birnbaum durchläuft die biblischen Schriften, um anzuzeigen, wie sensibel sie für verschiedene Formen von Leid und Not sind, wie wenig sich eine einzige Lösung der Lebenskrisen mit Gott abzeichnet, wie sehr aber die Hoffnung wider alle Hoffnung (Röm 4,18) das Beten, Denken und Handeln tragen kann. Käte Meyer-Drawe reflektiert die Ästhetik des Analogen und des Digitalen, die dem iconic turn einen ungeheuren Schub verschafft; sie vergleicht die Blickwechsel von Videokonferenzen, die Fokussierungen auf die Oberflächen, die technische Inszenierung von Mimik mit der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht in der natürlichen Lebenswelt – und analysiert die Verständigungsprobleme, die durch die virtuelle Realisierung entstehen. Stefan Waanders liest Romano Guardini neu, weil er bei ihm eine Phänomenologie der Leere wahrnimmt, die dem Glauben zu denken gibt: wobei «Corona» die Anschauung seiner Relevanz liefert. Stefan Kopp hinterfragt den allzu glatten Gegensatz von Virtual- und Realpräsenz, um aus der Erfahrungs- und Reflexionsgeschichte der Liturgie die neuen Notwendigkeiten und Möglichkeiten einzuordnen, die Feier der Glaubensgeheimnisse in der analogen und in der digitalen Welt zu gestalten – ohne Vermischung, aber auch Trennung. Christian Lehnert findet «Blätter am Weg» und beschreibt sie auf losen Seiten mit Wind und Wetter, mit der Stille zuhause, mit einem totgeborenen Rehkitzkadaver und Pesthauben in einer Kirche, mit Lärchenzapfen – und einem Frühlingshauch, der nach Gott schmeckt.
In den Perspektiven zeigt Christoph J. Amor, aus welchen Gründen eine Tiereschatologie angezeigt ist. Jan Koblížek portraitiert mit Joseph Vialatoux einen Vordenker des romanischen Sozialkatholizismus, der Francisco Suárez aktualisiert. Jakob Helmut Deibl führt in die Poesie und Poetik der Dichterin und Philosophin Sophie Reyer ein.
Christian Lehnert schreibt auf seine Blätter: «Auch das Virus ist eine Mischung aus Deutung und Widerfahrnis, es ist ebenso Teil der Kultur wie der Natur.» Deshalb wird die Krankheit erlitten; deshalb kann Impfstoff gefunden und Gesundheitspolitik organisiert werden; deshalb ist aber auch klar, dass körperliche ohne seelische Gesundheit nicht die Hälfte wert ist und dass die irdische Heilung dann ihre vollen Dimensionen entdecken lässt, wenn sie als Vorgeschmack der Auferstehung gesehen wird.