Als Paulus auf seiner Missionsreise die Schwelle zwischen Orient und Okzident erreichte, hatte er, so erzählt es die Apostelgeschichte, eine nächtliche Vision. «Ein Mazedonier stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!» (Apg 16,9). Paulus überquert daraufhin den Bosporus und bringt das Evangelium nach Griechenland. Das ist ein epochales Ereignis, das die Geschichte Europas verändern wird. Denn mit der geographischen Grenzüberschreitung ist zugleich eine theologische Übersetzungsaufgabe verbunden: Das Evangelium von Jesus, dem Messias und Herrn, muss ab jetzt in Kategorien des hellenistischen Denkhorizonts ausbuchstabiert werden. Wie aber soll das gehen, ohne dass beim Vorgang des Übersetzens Wichtiges verlorengeht und der traduttore zu einem traditore wird?
Paulus selbst kommt, nachdem er die Meerenge überquert hat, über die Städte Philippi und Thessalonich in die Hauptstadt Athen. Dort predigt er in der Synagoge und streitet mit epikuräischen und stoischen Philosophen. Die einen halten ihn für einen «Schwätzer», andere sind neugierig und fordern ihn auf, auf dem Areopag seine «neue Lehre» öffentlich zu verkünden. Bei seiner Rede in Athen bedient sich der Apostel einer klugen Methode, die man unter das Vorzeichen einer ‹Anknüpfung im Widerspruch› stellen könnte. Weder lässt er das Evangelium anpassungsbeflissen in der griechischen Kultur aufgehen, dann wäre es nicht mehr als eine Dublette dessen, was ohnehin schon bekannt ist. Noch proklamiert er einen radikalen Bruch, als habe seine neue Lehre nichts, aber auch gar nichts zu tun mit altbewährten Denk- und Lebensgewohnheiten. Vielmehr setzt er mit einer Bestätigung ein: «Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen.» (Apg 17,22). Nach dieser Anerkennung kommt er auf einen Altar zu sprechen, den er bei seinem Gang durch die Stadt gesehen hat und der «einem unbekannten Gott» gewidmet ist. Was die Athener bereits «unwissend verehren», das mache er ihnen nun bekannt. Gott, der Schöpfer Himmels und der Erde, wohne nicht in von Menschenhand gebauten Tempeln und lasse sich auch nicht von Menschhand bedienen. Gott sei anderes und mehr als Gebilde menschlicher Kunst und Erfindung. Das biblische Erbe der Aufklärung, die Idolatriekritik der Propheten, wird hier von Paulus eingespielt, so ergibt sich eine gewisse Nähe zur Götterkritik der griechischen Philosophie. Die Athener aber sollten Gott suchen und sich bekehren, damit sie im Gericht bestehen können. Das Gericht der Gerechtigkeit nämlich habe Gott einem Mann übertragen, den er von den Toten auferweckt habe. Das Echo auf die Rede von der Auferstehung eines Toten, die Paulus andernorts ausführlich entfaltet (vgl. 1 Kor 15,12–58), ist gespalten. Einige spotten und wenden sich ab, andere sind beeindruckt und kommen zum Glauben.
Die Verbindung zwischen Jerusalem und Athen, zwischen biblischem Erbe und griechischer Kultur, die in der Areopagrede anklingt, hat eine Vorgeschichte, die lange vor der Missionspredigt des Paulus beginnt. Bereits mit der Septuaginta, der in Alexandrien angefertigten griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, ist es zu einer produktiven Synthese von Judentum und hellenistischem Denken gekommen. Der Monotheismus Israels sowie die Ethik des mosaischen Gesetzes wurden auch von Nichtjuden geschätzt. Durch die Übersetzung ins Griechische wurde die Bibel einem neuen Kulturraum zugänglich gemacht und im Sinne einer philosophischen Schriftauslegung neu gelesen. Die plakative Gegenüberstellung von Jerusalem und Athen, von biblischer Erinnerungskultur und griechischem Seinsdenken findet sich bis heute im theologischen Diskurs. Dabei hat sich bereits ab dem 3. Jh. v. Chr. das herauskristallisiert, was man das hellenistische Judentum nennt.
In der Septuaginta findet sich ein folgenreicher und viel zitierter Übersetzungsfehler, der für die patristische Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft leitend geworden ist: «Nisi crediteritis, non intellegetis – Wenn ihr nicht glaubt (oder: geglaubt haben werdet), werdet ihr nicht verstehen» (Jes 7,9). Eine getreue Übersetzung des hebräischen Originals müsste anders lauten, Luther übersetzt: «Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht.» Aber beide Übersetzungsvarianten lassen sich kombinieren, Verstehen und Bleiben sind keine Widersprüche, da aus der verstehenden Aneignung und der vertieften Einsicht Standfestigkeit im Glauben erwachsen kann.
In diesem Sinne lässt sich der Akt der persönliche Selbstübergabe im Glauben als Standgewinnen in einer Wirklichkeit deuten, die größer ist als man selbst. Diese Wirklichkeit, für die die Bibel den Namen ‹Gott› kennt, wird zum verlässlichen Fundament, zum Halt in Situationen der Haltlosigkeit. Die Synthese von Glaube und Vernunft hat nun in der patristischen Theologie, aber auch bei Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin unterschiedliche Ausgestaltungen gefunden. Die Dogmen der Alten Kirche haben den Christus-Glauben der Kirche in griechischer Begriffssprache verdeutlicht, um das biblische Kerygma vor Fehldeutungen zu schützen. Dieser vielschichtige Übersetzungs- und Inkulturationsvorgang ist bei aller geschichtlichen Kontingenz nicht überholbar, sondern von konstitutiver Bedeutung.
Davon ist Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Vorlesung vom 13. September 2006 überzeugt, die fälschlicherweise zunächst als ein Beitrag zur islamisch-christlichen Verständigung rezipiert wurde und wegen des vermeintlich islamfeindlichen Zitats kollektiven Unmut hervorgerufen hat. Im Zentrum der Vorlesung steht die Synthese von Glaube und Vernunft, die für das Christentum kennzeichnend sei. Diese Synthese muss immer neu errungen werden und gegen Versuche einer Entkoppelung von Glaube und Vernunft verteidigt werden. Konkret hat Benedikt XVI. drei Enthellenisierungswellen in der Geschichte der Theologie markiert, die das enge Verhältnis von Glaube und griechischer Vernunft entflechten. Die erste finde sich in der Reformationszeit bei Martin Luther. Seine Polemik gegen den «ranzigen Aristoteles» und die «Hure Vernunft» vollzieht in der Tat eine metaphysikkritische Wende, die sich eher gegen die ausgeklügelte Begrifflichkeit der spätscholastischen Theologie als gegen die Vernunft überhaupt richtet. Gegen die Tendenz einer Vergesetzlichung des Evangeliums empfiehlt Luther die direkte Rückbesinnung auf die Bibel. Sein Leitsatz sola scriptura geht davon aus, dass sich die Heilige Schrift von selbst versteht und hat eine autoritätskritische Spitze, die sich gegen die Deutungshoheit des kirchlichen Lehramts wendet. Allerdings zeigt sich schon beim Marburger Religionsgespräch 1529, dass die Heilige Schrift allein die Einheit der erneuerten Kirche nicht garantieren kann. Die Einheit der Reformation zerbricht an unterschiedlichen Lesarten des Neuen Testaments. Die zweite Welle der Enthellenisierungswelle sieht Benedikt XVI. bei Adolf von Harnack und seinen Berliner Vorlesungen über das Wesen des Christentums von 1900. Harnack möchte den wahren und einfachen Kern des Evangeliums hinter den Schalen und Verkrustungen der Dogmen und Traditionen freilegen. Nur der Vater, nicht aber der Sohn gehöre in das Evangelium. Die altkirchlichen Konzilsentscheidungen, die von einer Gleichrangigkeit zwischen Vater und Sohn ausgehen, haben aus Sicht des liberalen Dogmenhistorikers das Evangelium hellenistisch verfälscht. Die dritte Enthellenisierungswelle diagnostiziert Benedikt XVI. in den kontextuellen Theologien der Gegenwart, die sich gegen die abendländische Formation des Christentums wenden. In der Tat gibt es in Afrika, Lateinamerika und Asien Stimmen, welche die Synthese zwischen biblischem Glauben und griechischer Vernunft nicht mehr für bindend halten. Jede Kultur habe das eigene Recht, das Evangelium direkt in den eigenen Sprach- und Denkhorizont zu übersetzen. Die Dominanz des westlichen Denkens müsse gebrochen werden.
Die Synthese von Glaube und Vernunft, die durch die Begegnung zwischen Bibel und hellenistischer Kultur angebahnt worden ist, hält Benedikt XVI. für unhintergehbar und fortschreibungswürdig. Der biblische Glaube an Gott, den Schöpfer und Vollender der Geschichte, müsse sich immer neu den Rückfragen der kritischen Vernunft aussetzen, um nicht in die Sackgassen des Fideismus oder Fundamentalismus zu geraten. Umgekehrt drohe die heutige Wissenschaft sich zu übernehmen, wenn sie sich von den orientierenden Vorgaben der jüdisch-christlichen Tradition abkoppele. Eine szientistisch enggeführte Vernunft, die sich gegenüber der Weisheit der großen Religionskulturen taub stellt, steht in Gefahr, zur Magd technokratischer Interessen zu werden. Sie wird inhuman, wenn sie im Namen des Fortschritts jede Grenze überschreitet.
Das vorliegende Communio-Heft wendet sich der komplexen Frage der Hellenisierung des Christentums zu. Zunächst weist Ludger Schwienhorst-Schönberger darauf hin, dass die Septuaginta jüdische und christliche Kultur verbindet. Die Übersetzung der Biblia hebraica zeigt, dass es bereits im Judentum vor der Zeitenwende eine produktive Auseinandersetzung mit dem griechischen Denken gegeben hat, die neue Formen der Schriftauslegung freigesetzt hat. Thomas Söding nimmt das Johannes-Evangelium in den Blick, das wie kein anderes den Vorwurf der Hellenisierung auf sich gezogen hat. Schon der Prolog nimmt den Begriff des Logos auf, gibt ihm aber eigene Konturen, indem er ihn personalisiert und so von der griechischen Philosophie absetzt. Der Trierer Patrologe Michael Fiedrowicz geht einen Schritt weiter und beleuchtet die arianische Kontroverse in der Optik von John Henry Newman. Newman rekonstruiert den altkirchlichen Streit um die ontologische Gleichrangigkeit von Vater und Sohn nicht nur historisch, sondern bezieht ihn im Sinne einer «engagierten Kirchengeschichtsschreibung» auch auf die Selbstverständigungsdebatten im Anglikanismus seiner Zeit. Der Berliner evangelische Theologe Notger Slenczka behandelt Martin Luthers Stellung zum hellenistischen Erbe der altkirchlichen Theologie. Es sei problematisch, dem Reformator ganz grundsätzlich eine Entkoppelung der Synthese von Glaube und Vernunft zu unterstellen und sein Verhältnis zur griechischen Philosophie unter den Begriff der Enthellenisierung zu fassen. Vielmehr sei Luther der Auffassung, dass die Rezeption des Aristoteles in der scholastischen Theologie zu einer Vergesetzlichung des Evangeliums geführt habe – eine Tendenz, die sich exemplarisch in der Anthropologie und der Gotteslehre aufzeigen lasse. Die Frage, wie der Vorwurf der Hellenisierung des Christentums, den Adolf von Harnack in seiner Programmschrift Wesen des Christentums erhoben hat, heute zu beurteilen ist, diskutiert Bernard Mallmann und bezieht dabei nicht nur Leo Baecks Erinnerung an die jüdischen Wurzeln der Botschaft Jesu mit ein, sondern auch neuere Forschungen zur Hellenisierungsproblematik. Die Osnabrücker Theologin Margit Eckholt wirft einen Blick auf kontextuelle Theologien der Gegenwart, welche die Christologie des Konzils von Chalkedon (451) nicht pauschal ablehnen, aber beanspruchen, eigenständige Übersetzungvorschläge zu unterbreiten, die ohne den Umweg eurozentrischer Denkmuster auskommen. Manuel Schlögl schließlich zeigt, dass die Kategorie der Hellenisierung selbst interpretationsbedürftig ist. Er weist darauf hin, dass die Frage des rechten Gebrauchs antiker Denkmittel durch die Kirchenväter auch in nichttheologischen Disziplinen gestellt wird, und erinnert daran, dass jüngere Forschungen aus dem Bereich der Religionsgeschichte das Verhältnis von Judentum und Christentum differenzierter beschreiben, als es stereotype Gegenüberstellungen von Jerusalem und Athen, Bibel und Hellenismus nahelegen.