Arvo Pärt ist seit vielen Jahren der meistgespielte lebende Komponist, eine Art Popstar der zeitgenössischen Musik, seine Melodien faszinieren Menschen rund um den Globus. Einerseits entfaltet seine Musik eine enorme Breitenwirkung und Popularität, gepaart mit kommerziellem Erfolg: Millionenfach verkaufen sich Aufnahmen des Labels ECM mit Pärts Werken, in zahlreichen Filmen, darunter «Fahrenheit 9/11», und Radiosendungen erklingt seine Musik atmosphärisch im Hintergrund. Andererseits offenbart die Musik Arvo Pärts eine wohl von wenigen Komponisten vor ihm erreichte spirituelle Tiefe: Pärt verdichtet in seiner Musik seinen orthodoxen Glauben, der wie eine innere Inspirationsquelle all seine Werke durchdringt. Wer die «Philosophie» seines Musikschaffens verstehen möchte, dem empfiehlt der Komponist, der sich selbst gern in Schweigen hüllt, klipp und klar, die Kirchenväter zu lesen.1 Mehr noch: Seine Musik versteht sich als Klang gewordenes Gebet.
Eine anfängliche Skepsis gegenüber der vermeintlichen kompositorischen Simplizität seiner Musik sowie der theologisch geäußerte Verdacht, es handle sich bei Pärt um einen «New-Age»-Apostel, seine Musik sei eine massentaugliche, meditative «Wellness»-Musik, eine Art esoterische Klangoase mit akustischem Weihraucheffekt, sind inzwischen einer weitgehend einhelligen Zustimmung gewichen. «Heiliger der zeitgenössischen Musik» (Thorsten Preuß), «moderner Mystiker» (Christoph Strack), «komponierender Theologe» (Constantin Gröhn) – solche und ähnliche Titel zeugen von dem Bemühen, das einzigartige und kategoriensprengende, kompositorisch schwer einordbare Musikschaffen des russisch-orthodoxen Komponisten auch in seiner spirituellen Tiefe zu würdigen. In den Reigen der hohen Auszeichnungen, Preise und Ehrendoktorate reihen sich denn auch bedeutende kirchliche und theologische, genannt seien die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Jahr 2007, die Berufung zum Mitglied des Päpstlichen Rates für die Kultur (2011), die Ernennung zum Archon des Ökumenischen Patriarchates von Konstantinopel (2013) und die Auszeichnung mit dem Ratzinger-Preis im Jahr 2017.
Den theologischen Leitmotiven im Musikschaffen Arvo Pärts und der spirituellen Submelodie, die in seinen Werken durchklingt, möchte dieser Beitrag nachgehen. Beleuchtet werden die Genese seines aus einer Zeit der Krise hervorgegangenen «Tintinnabuli»-Stils (1) und dessen Struktur und spirituelle Deutung (2), die fundamentale Bezogenheit seiner Musik auf die Stille (3) und das Wort (4), die Programmatik von Leid und Versöhnung in seinen Werken (5) sowie das Verständnis seiner Musik als Sprache des Gebets. Der Blick richtet sich abschließend auf Motive und Chancen des breiten Erfolgs und der Resonanz der Musik Pärts in religiösem und säkularem Kontext (7).
1. Zur Genese des Tintinnabuli-Stils
Ohne den biographischen Abgrund, den Arvo Pärt durchschritten hat, wäre die Tiefe seiner unverkennbaren Klangsprache wohl kaum denkbar. Arvo Pärt, 1935 im estnischen Paide geboren, studiert bei Hein Eller in Tallin Komposition. Dank seiner Tätigkeit als Tonmeister beim Estnischen Rundfunk kommt er in Berührung mit der «verbotenen», von Moskau zensurierten Musik des Westens, darunter Werken von Boulez, Nono und Stockhausen. In seinen eigenen Komponisten experimentiert Pärt mit avantgardistischen Techniken, mit 12-Ton-Musik, seriellen Reihen, Aleatorik und Collage-Technik. Seine frühen Werke zählen zur Speerspitze der sowjetischen Avantgarde, Nekrolog (1960) ist das erste dodekaphone Werk eines estnischen Komponisten. Neben großem Erfolg erfährt Pärt das wachsende Misstrauen seitens der sowjetischen Kulturbehörde: «westliche Dekadenz», so der musikästhetische Vorwurf. Zum Eklat kommt es mit seiner viel beachteten Komposition Credo (1968). Das darin enthaltene offene Bekenntnis zum Christentum lässt sich als politische Provokation, als Affront gegenüber dem Sowjetatheismus deuten. Arvo Pärt wird mehrmals verhört.
Äußerlich mit Misstrauen und Anfeindungen seitens des Komponistenverbands konfrontiert, bedrängen Pärt zunehmend innere Zweifel. Er hat den Eindruck, mit den für ihn ausgereizten avantgardistischen Kompositionstechniken nichts Neues mehr sagen zu können, kompositorisch in eine Sackgasse geraten zu sein. Im Jahr 1968 stürzt er in eine tiefe Krise, die alle Lebensbereiche umfasst, sich auch physisch und familiär bemerkbar macht. Acht Jahre lang zieht sich Pärt zurück, besucht keine Konzerte, hüllt sich weitgehend in Schweigen und beginnt sich fundamental, von Grund auf neu auszurichten: als Komponist, als Mensch, als gläubiger Christ. «Ich musste wieder neu gehen lernen», so Pärt rückblickend. Die alles entscheidende Suche nach einer neuen, eigenen Klangsprache ist verbunden mit der spirituellen Suche nach Gott: «Damals, bei der Entstehung meiner heutigen Musik, hatte ich alle Hände voll zu tun, um mich selbst innerlich auf die Beine zu bringen und um meine eigenen Probleme zu lösen. Ich musste mich in einen Zustand versetzen, in dem ich eine Musiksprache finden könnte, mit der ich leben wollte. Ich war auf der Suche nach einem Klanginselchen. Auf der Suche nach einem ‹Ort› in meinem tiefsten Inneren, wo – sagen wir so – ein Dialog mit Gott entstehen könnte. Ihn zu finden wurde eine lebenswichtige Aufgabe für mich.»2
Wegweisend wird ein Besuch in einem Schallplattenladen in Tallin, wo er eine kurze gregorianische Melodie hört. Der im sowjet-atheistischen Estland nahezu unbekannte gregorianische Gesang wirkt auf Pärt wie eine Offenbarung: «Ich entdeckte darin eine Welt, die ich nicht kannte: ohne Harmonie, ohne Metrum, ohne Klangfarbe, ohne Orchestrierung, ohne alles. In diesem Augenblick wurde mir klar, welche Richtung ich verfolgen musste»3. Doch es ist nicht nur die kompositorische Schlichtheit und Unberührtheit der als «gesungene Gebete» (Agustoni) bezeichneten einstimmigen Melodien, die es ihm angetan hat: «Ich glaube, diese Musik ging mir nicht so nah wegen der Musik als vielmehr wegen der Religion. Die Religion war für mich nämlich das Hauptproblem und in dieser gregorianischen Musik habe ich das gefunden, wonach ich Durst gehabt habe.»4 Seine folgende intensive Beschäftigung mit Gregorianik und früher Mehrstimmigkeit verbindet sich mit der Lektüre der Heiligen Schrift, insbesondere der Psalmen, und setzt einen qualvoll-mühsamen Prozess in Gang: «Ich las einen Psalm und schrieb dann ganz schnell Noten auf. Ein Notizbuch pro Tag. Jahrelang das gleiche.»5 Es sind spirituell-kompositorische Fastenübungen, heute dokumentiert in langen Regalreihen mit vollgeschriebenen Notizbüchern im Arvo-Pärt-Zentrum in Laulasmaa.
Seinen geistlichen Durst stillt Arvo Pärt auch durch die Lektüre der Schriften der Wüstenväter und der großen russisch-orthodoxen Mystiker des 20. Jahrhunderts, namentlich der beiden orthodoxen Heiligen Mönch Silouan vom Berg Athos (1866-1938) und Archimandrit Sofronij Sacharov (1896-1993), denen auch Pärts heutige Hauskapelle in Laulasmaa gewidmet ist. Angezogen von der orthodoxen Spiritualität tritt Arvo Pärt, dem Taufschein nach lutherisch-evangelisch, zur russisch-orthodoxen Kirche über – kurz nach seiner jüdischen Frau Nora, die er in dieser Zeit heiratet. Zu Sofronij Sacharov, dem Vorsteher des Klosters «Heiliger Johannes der Täufer» in Essex, der das Lebenswerk seines geistlichen Vaters, des Starez Silouan der Nachwelt zugänglich gemacht hat, hat Pärt später auch persönlich Kontakt. Die Anfangsverse aus dem geistlichen Tagebuch Silouans, die Pärt seiner berührenden Orchesterkomposition Silouan’s Song (1991) zugrunde legt, scheint ihm nicht nur in den langen Jahren seiner schmerzlichen kompositorisch-spirituellen Suche aus der Seele gesprochen zu haben: «Meine Seele sehnt sich nach dem Herrn und unter Tränen suche ich Ihn. Wie kann ich Dich nicht suchen? Du hast mich früher erhoben und hast mir Deinen Heiligen Geist zu genießen gegeben und meine Seele hat Dich liebgewonnen. Siehst Du, Herr, meine Trauer und Tränen... Wenn Du mich mit Deiner Liebe nicht angezogen hättest, dann suchte ich Dich nicht so, wie ich suche; aber Dein Geist hat mir Dich zu erkennen gegeben und meine Seele freut sich, dass Du mein Gott und Herr bist und unter Tränen sehne ich mich nach Dir.»6
Schweigen, intensives Studium, Gebet und eine leidvolle und hartnäckige, fast besessene Suche kennzeichnen die Phase seiner achtjährigen Zurückgezogenheit und Neuausrichtung. Das Ergebnis ist im Februar 1976 ein kurzes Klavierstück: Für Alina. Nur zwei Minuten dauert es, reduziert auf zwei Stimmen: «ruhig, erhaben, in sich hineinhorchend» lautet die Spielanweisung. Die stille Kraft dieser schlichten Musik scheint Pärt selbst zunächst überrascht zu haben: «diese Komposition erschien mir zu einfach; meine Ohren waren es nicht gewohnt, eine solche Arbeit ernst zu nehmen.»7 Auch eher beiläufig entsteht der Titel des Stücks, spontan der nach London emigrierten Tochter einer guten Freundin gewidmet, als Geburtstagsgeschenk und Trost für die im sowjetischen Estland zurückgebliebene Mutter, der keine Verbindung zu ihrer Tochter Alina möglich war. Und doch: Für Alina, später integriert in die siebensätzige Suite Tintinnabuli, die die ersten Stücke seines neuen Stils versammelt, markiert den Beginn seines unverkennbaren Tintinnabuli-Stils, seines bis heute ungebrochenen Erfolgs.8
2. Tintinnabuli: Flucht in die freiwillige Armut
«Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich baue aus primitivstem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonalität. Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. So habe ich es Tintinnabuli genannt.»9 Charakteristisch für Pärts Musik im Glöckchen-Stil, die in Kompositionen wie Für Alina (1976), Tabula rasa (1977), Spiegel im Spiegel (1978), Fratres (1980), der Passio Domini nostri Jesu Christi secundum Joannem (1982) oder Miserere (1989/1992) ihre besondere Ausstrahlung entfaltet, sind die extreme Reduktion des Tonmaterials und die unkonventionelle Stimmführung.10 In seiner in Für Alina geprägten Urform, dem «Ursatz», besteht der Tintinnabuli-Satz aus zwei Stimmen: einer Melodie, die auf einer diatonischen Tonleiter auf- und absteigt, und einer Dreiklangsstimme, genannt Tintinnabuli-Stimme, die sich aus dem Tonmaterial des dazugehörigen moll- bzw. Dur-Dreiklangs schöpft und nach Pärts vordefinierten, «kleinen, einfachen Regeln»11 über bzw. unter die Melodiestimme tritt. Die in ihrer entwaffnenden Schlichtheit berührende Musik basiert hintergründig auf einem komplexen Regelwerk, sie ist «auf die Musikinstrumente angewandte Mathematik»12. Indem Pärt Stimmführung, Zusammenklang und den Einsatz von Pausen klar strukturiert und ordnet, sucht er eine größtmögliche Objektivität zu erreichen. Nicht subjektiver Klangrausch und Effekthascherei, ein Schwelgen in meditativen Klängen sind sein Ziel, sondern eine rational fassbare Struktur, unabhängig von Klangfarbe und Instrumentierung, die alle anzusprechen sucht und zugleich am besten dazu geeignet scheint, objektive Glaubenswahrheiten zum Klingen zu bringen.
Die extreme Reduktion des Materials bei Arvo Pärt wird zum geistlichen Programm. Seine aus einer Phase der asketischen Suche, in spiritueller Wüstenerfahrung gewonnene Musik gleicht dem Rückzug der Wüstenväter in die Abgeschiedenheit und Stille der Wüste: «Tintinnabuli – das ist ein erstaunlicher Vorgang – die Flucht in die freiwillige Armut: die heiligen Männer ließen all ihren Reichtum zurück und gingen in die Einöde. So möchte auch der Komponist das ganze moderne Arsenal zurücklassen und sich durch die nackte Einstimmigkeit retten, bei sich nur das Notwendigste habend – einzig und allein den Dreiklang.»13 Seine Klänge erinnern oft an konzentrierte «Stichwörter»14, seine Aussagen über Musik an die weisheitlichen Aphorismen der Wüstenväter. Ästhetisch und programmatisch rekurriert Pärt auf die Wüstenväter, besonders eindrucksvoll in L’Abbé Agathon (2004), in der er eine Legende über die Begegnung des Altvaters Agathon mit einem Leprakranken vertont.
Auch dem Zueinander und der Zweiheit der beiden Stimmen im Tintinnabuli-Satz gibt Pärt eine spirituelle Deutung: Die Melodielinie, die auf der Tonleiter auf- und absteigt, vergleicht Pärt mit dem Leben, der Sehnsucht nach Freiheit und Entfaltung, die aber auch Fehltritte, Sünde und Vergehen in sich birgt. Die zweite Stimme, die sich aus dem Tonmaterial des Dreiklangs ergibt, stützt und umrahmt die Melodiestimme, «wie ein Schutzengel, der dich auf deinem Weg begleitet. Eine modeste Begleitung, unsichtbar fast, aber sie ist dabei.»15 Die dreistimmige Tintinnabuli-Stimme kann sinnenfällig für den dreifaltigen Gott stehen. «Dies ist das ganze Geheimnis von Tintinnabuli: Die zwei Zeilen. Eine Linie ist, wer wir sind, und die andere Linie ist, wer uns hält und sich um uns kümmert. Manchmal sage ich (...), dass die melodische Linie unsere Realität ist, unsere Sünden. Aber die andere Linie ist die Sündenvergebung.»16 Die Zweistimmigkeit des Tintinnabuli-Satzes wird Pärt zufolge zum tönenden Symbol für die Komplementarität von Sünde und Vergebung, Gott und Mensch, Subjektivität und Objektivität, Freiheit und Disziplin, Mann und Frau. Der kompositorische Satz des Tintinnabuli wird zum Substrat spiritueller Deutung und Lebenserfahrung.
Pärts innere, kompositorisch-spirituelle «Flucht in die freiwillige Armut» hat auch eine äußere Fluchtbewegung zur Folge. Als er nach langer Zurückgezogenheit mit seinen schlichten Stücken im Tintinnabuli-Stil wieder zurück auf die Komponisten-Bildfläche tritt, ist das Unverständnis der Kollegen im sowjetischen Komponistenverband perfekt. Unmissverständlich wird ihm klargemacht, dass er als Komponist im sowjetischen Estland keine Zukunft habe. Mobbing und feindseliges Verhalten erreichen ihr Ziel: Im Jahr 1980 verlässt Arvo Pärt mit seiner Frau und den beiden Kindern Estland. Ziel ist Israel, das einzige Land, für das sie wegen der jüdischen Abstammung seiner Frau eine Ausreisegenehmigung erhalten. Nur einer glücklichen Fügung ist es zu verdanken, dass Arvo Pärt nicht in Israel ankommt. Anderthalb Jahre bleibt er in Wien, er beginnt die Zusammenarbeit mit dem Wiener Musikverlang «Universal Edition», anschließend zieht die Familie dank eines DAAD-Stipendiums nach Berlin. Im Westen hat Arvo Pärt rasch großen Erfolg, die CD «Tabula rasa» verhilft ihm zum Durchbruch. Erst nach 28 Jahren im Exil kehrt Arvo Pärt 2008 schließlich ins freie Estland zurück, wo er bis heute lebt.
3. Aus der Stille
«Musik aus der Stille des Schweigens» (Helmut Hoping), «Versinken im Klang der Stille» (Tobias Hell), «Der stille Ton» (Wolfgang Sandner), «Out of silence» (Peter C. Bouteneff) «Das Schweigen und die Ehrfurcht von Arvo Pärt» (Thomas Huizigena), «Kreative Stille» (Paul Hillier), «Aus der Stille strahlen» (Andreas Peer Kähler) – kaum ein Titel eines Beitrags über Pärt kommt ohne die Begriffe «Schweigen» und «Stille» aus. Nicht nur biographisch lässt sich Pärts Musik aus einer Zeit des Schweigens und der inneren Zurückgezogenheit ableiten. Die Stille ist der Musik Arvo Pärts wie eine geheime DNA eingeschrieben. Pärt selbst verweist auf die fundamentale Bezogenheit seiner Musik auf die Stille: «Es gibt viele Erscheinungen von Vollkommenheit: alles Unwichtige fällt weg. So etwas Ähnliches ist der Tintinnabuli-Stil. Da bin ich alleine mit Schweigen. Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser eine Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich.»17 Es mag paradox erscheinen: Für den Komponisten sind Stille und Klang keine Gegensätze, vielmehr lebt die Musik aus der Stille. Pausen in der Musik Pärts sind nicht leere Unterbrechung, sondern Teil der Musik, Klangfülle. Die Stille ist für den Komponisten mitunter wichtiger als der Klang, «weil die Stille immer vollkommener ist als die Musik. Man muss nur lernen, das zu hören.»18
Im Unterschied zur inneren Leere, zur Bedrohlichkeit der Totenstille, der Einsamkeit des Schweigens, geht es Pärt um eine erwartungsvolle Stille, die Möglichkeitsbedingung allen schöpferischen Tuns. Für den Komponisten ist die Stille das, was für den Maler die weiße Leinwand, für den Dichter das leere, unbeschriebene Blatt ist. Sie ist «kosmische Stille», «jenes ‹Nichts›, aus dem Gott die Welt erschuf»19, sie ist «wie fruchtbarer Boden, der sozusagen auf unseren schöpferischen Akt, unseren Samen, wartet», ihr müsse mit einem «Gefühl der Ehrfurcht»20 begegnet werden.
Pärts Musik kommt aus der Stille und kehrt verklingend in sie zurück. Ähnlich einem verhallenden Glockenklang bringt Pärts Musik im «Glöckchen-Stil» die Hörer an die Grenze des auditiv Wahrnehmbaren, an die Schwelle zum Unhörbaren, sie ist eine Einladung zum bewussten Wahrnehmen der Stille. Die Musik Pärts, «die kurz vor dem Verstummen betörend erblüht»21 schärft wie der Klang einer Glocke das Kontingenzbewusstsein. Dem Ton ist das Verklingen eigen wie dem Menschen das letztliche irdische Verstummen. Zugleich gilt: Erst aus der Erfahrung der Stille, dem Bewusstsein der Endlichkeit, können die besondere Wertschätzung und Freude an der Musik, Pärts Liebe zu jedem einzelnen Ton, ein Verkosten jeden einzelnen Klanges erwachsen.
Pärt macht sich in besonderer Weise die eschatologische Qualität der Musik zu eigen. Seine Musik greift aus auf die Ewigkeit, sie sucht die Zeitbarriere zu überwinden. Lang ausgehaltene Klänge, statisch wirkende Klangflächen, bewusst gesetzte Pausen, langsame Tempi und das gleichzeitige Ablaufen verschiedener Tempi in unterschiedlichen Stimmen wie beispielsweise in der Johannes-Passion oder in Miserere zielen darauf, akustisch an die Ewigkeit zu rühren. Pärt habe, so Alex Ross «seinen Finger auf etwas gelegt, das in Worte zu fassen fast unmöglich ist – etwas, das mit der Kraft der Musik zusammenhängt, die rigiden Strukturen von Raum und Zeit aufzuheben. Seine Akkorde bringen einer nach dem anderen den Lärm des Selbst zum Schweigen, indem sie den Geist an eine ewige Gegenwart binden.»22 Exemplarisch genannt sei Pärts Vertonung des «Te Deums», eines Textes, der für Pärt «aus unwandelbaren Wahrheiten zusammengesetzt» ist, «wie das Panorama einer Bergkette in ihrer stetigen Ruhe». In Te Deum (1984) sucht Pärt «ganz sacht … einen Zeitteil der Unendlichkeit» in Klänge zu setzen, wobei er diese «behutsam aus Stille und Leere hervorziehen»23 musste.
4. Im Anfang: das Wort
Neben der Stille ist die Musik Arvo Pärts fundamental bezogen auf das Wort. «Die Worte schreiben meine Musik»24, so der Komponist, der überwiegend – abgesehen von einigen poetischen Texten und Kinderliedern – biblische, liturgische und geistliche Texte vertont hat: darunter zahlreiche Psalmen, Passagen aus den Evangelien, Texte der katholischen und ostkirchlichen Liturgie und des Stundengebets, sowie geistliche Texte orthodoxer und katholischer Prägung. Erstmals bindet Pärt in seiner Missa syllabica (1977) seinen Tintinnabuli-Stil an einen Text. Um die Worte der Liturgie möglichst objektiv, frei von subjektiver Interpretation wiederzugeben, entwickelt er dabei ein Regelwerk, das gänzlich vom Text ausgeht, die Worte entsprechend ihrer Silbenzahl und der Interpunktion in Töne und Pausen – bewusste Momente der Stille – übersetzt, nicht ohne die natürliche Sprachmelodie und den Sprechrhythmus der lateinischen Worte zu berücksichtigen. In allen seiner Vertonungen biblischer, liturgischer und geistlicher Texte dient und folgt die Musik dem Wort, die Textaussage und -verständlichkeit stehen bei Pärt im Zentrum. Die Musik des Tintinnabuli hat in den Worten von Hermann Conen «nicht die Entfaltung der innermusikalischen Potenziale» – entsprechend dem Grundsatz «l’art pour l’art» – zum Ziel, sondern «eine ritualisierte musikalische Lesung des christlichen Wortes. Nicht nur in Pärts vokal-, sondern auch in reinen Instrumentalwerken ergibt sich der konkrete Verlauf der Musik aus den Eigenschaften der verwendeten liturgischen und außerliturgischen Texte, nachdem ein für jedes Werk neu entwickeltes System von Regeln für die Übertragung aufgestellt worden ist.»25 Ein vergleichbares, noch konzentrierteres System der Übertragung von Sprache in Musik hat zuvor Olivier Messiaen mit seinem langage communicable geschaffen.26
Als Komponist tritt Pärt dabei demutsvoll in den Hintergrund, er entzieht sich einer subjektiven kompositorischen Interpretation der biblischen und liturgischen Worte. Er lässt vielmehr ehrfurchtsvoll den Text selbst sprechen, indem er ihn möglichst objektiv zu Klang bringt und so dessen zeitlose Gültigkeit betont. Zugleich spricht aus seinen Vertonungen eine persönliche Aneignung und Ergriffenheit des Komponisten von den Texten, eine Durcharbeitung im Gebet. Letztlich entspringt die Verwiesenheit seiner Musik auf das Wort einer christologischen Konzentration all seines Musikschaffens: «Diese mystischen Worte des Evangeliums nach Johannes, ‹Am Anfang war das Wort›, sind wirklich das Herz von allem, weil ohne dieses Wort nichts existieren würde. Ich glaube, dass dieses Konzept nicht nur in unsere Wörter übertragen werden sollte, sondern auch in jeder Note der Musik, in jeden Gedanken, in jeden Stein. Die Wurzel unserer Fähigkeiten liegt in diesem Gedanken: ‹Im Anfang war das Wort›.»27
5. Leiden und Buße, Hoffnung und Versöhnung
Die Themen Sehnsucht, Hoffnung und Verzweiflung, Leiden, Buße und Erlösung durchziehen das Werk des orthodoxen Christen wie ein roter Faden. Adam’s Lament (2009), basierend auf dem Schlusskapitel von Siluans Tagebuch, gibt in ungewöhnlich dramatischer Klangsprache die Vertreibung aus dem Paradies wider. In der Klage Adams, des Urvaters, hallen auch die existentielle Einsamkeit des heutigen Menschen, seine metaphysische Obdachlosigkeit, Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, die Nöte und Leiden der ganzen Menschheit wider. Lamentate (2002), gewidmet Anish Kapoor und seiner Marsyas-Skulptur, bringt vielleicht in dichtester Weise das viele seiner Werke verbindende Thema der kontingenten menschlichen Existenz vor Gott auf den Punkt. Dazu schreibt Pärt: «Tod und Leiden sind die Fragen, die jeden Menschen beschäftigen, der in die Welt geboren wird. Davon, wie er für sich diese Frage löst (oder nicht löst), hängt seine Lebenseinstellung ab – ob bewusst oder unbewusst. …. Und so habe ich ein Klagelied geschrieben, ein Lamento, nicht für Tote, sondern für uns, die Lebenden, die diese Fragen jeder für sich allein lösen müssen – für uns, die es nicht leicht haben, mit dem Leid und der Verzweiflung der Welt umzugehen.»28
Pärt selbst bietet Deutungsversuche. So sehr seine Leidensmusik existentielle Tiefen durchschreitet, ist sie doch getragen von einer christlichen Hoffnungsperspektive. Ohne die Spannung zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Trauer und Trost, zwischen Tod und Auferstehung vorschnell auflösen zu wollen, zeugen sie doch von einer letztlich versöhnlichen Grundstimmung, von einer Gewissheit des Entgegenkommens des barmherzigen Vaters. Seine Werke stehen unter dem Vorzeichen der Hoffnung und des Gottvertrauens. So notiert Pärt über seine Vertonung des Stabat Mater (1985/2008), dass der Text für ihn «den unermesslichen Schmerz und den tiefen Trost gleichzeitig»29 beinhalte. Auch Sündenbekenntnis und Buße erfolgen mit Blick auf den gerechten und zugleich barmherzigen Vater, so in Pärts umfangreichem Kanon Pokajanen (1997), einem in kirchenslawisch gesungenen altslawischer Bußkanon. Der Blick in die eigenen Abgründe wird dabei zur Ermutigung, großzügig und verzeihend mit den Fehlern der Mitmenschen umzugehen. Nicht zuletzt in Pärts kompositorischer Deutung des Weltgerichts im Miserere, in der er den Bußpsalm 51 (50) und die Sequenz «Dies irae» verarbeitet, deutet sich die Vision einer Allversöhnung an. Entgegen herkömmlicher Requiemvertonung erklingt das «Rex tremendae» aus der Sequenz «Dies Irae» in einer milden, versöhnlichen, vertrauensvollen pianissimo-Aura: «Salva me, fons pietatis». Es ist eine Lesart, die sich auch in Pärts Deutung von Dantes Höllenschilderung wiederfindet: Darin erkennt er «ein mildes Licht und statt eines rigorosen Urteils Liebe und Mitgefühl.»30
6. Musik als Gebet
«Musik ist für Pärt letztlich, wie für viele Komponisten vor ihm, eine Sprache des Gebets. In ihrer konzentrierten Reinheit und ihrem Frieden erinnert Pärts Musik an liturgische Klänge.»31 Pärt vertont nicht nur Gebete – man denke an sein berührendes Vater-unser, die innigen Gebetssätze aus dem Kanon Pokajanen oder sein Salve Regina: Seine Klänge scheinen selbst aus der Stille des Gebets und der Kontemplation zu strömen. Die Musik des Komponisten, der beim Spielen und Komponieren von seinem Pianino in Laulasmaa aus auf Ikonen und eine Stelltafel mit orthodoxen Gebeten blickt, wird selbst zum Gebet: «Arvo Pärts Kompositionen wirken bisweilen wie hesychastische Gebete eines musikalischen Anachoreten, mysteriös und einfach, leuchtend und voll Liebe.»32
Entsprechend orthodoxer Spiritualität steht Pärt dem immerwährenden Herzensgebet bzw. Jesus-Gebet nahe, das auch im Kloster Sofronijs in Essex gebetet wurde: «Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner, eines Sünders» (vgl. Lk 18,9ff; Lk 18,35ff). Immer wieder und wieder gesprochen, in der Rhythmik des Herzschlags und des Atems, soll es dem Betenden helfen, sich ganz auf Gott zu konzentrieren. Der ständige Gedanke an Gott, ein Leben aus dem Geiste Christi soll so selbstverständlich werden wie das Atmen. Pärt selbst vergleicht die Musik mit dem Gebet: «Die ideale Polyphonie ist das unaufhörliche Gebet (oder das Jesus-Gebet). Dieser ‹ideale› Kontrapunkt ist in der Lage, in allem und überall ideale Beziehungen herzustellen.»33 Auch Pärts Musik sucht nach gelingenden, friedfertigen Beziehungen, einem Leben im Einklang mit Gott, Mitmensch und Natur. Seine Musik ist – ganz im Geist orthodoxer Spiritualität – wie eine Einübung in die innere Stille der Seele, in die Hesychia, die Apatheia und die Kontemplation. Seine Musik lädt ein zum Atemholen in der Gegenwart Gottes, sie führt dahin, innerlich ein Hörender zu werden.
7. Motive und Chancen der breiten Resonanz von Pärts Musik
Wie vertragen sich die unverkennbar christliche Tönung und spirituelle Tiefe von Pärts Musikschaffens mit der Breite ihres Erfolgs? Entspricht die Musik Pärts einem Bedürfnis nach Reduktion, nach Konzentration auf das Wesentliche in einer immer unüberschaubarer werdenden, schnelllebigen, aufmerksamkeitsheischenden, unendliche Wahlmöglichkeiten bietenden Welt? Trifft seine Musik, die – in den Worten Pärts – «ausatmen» lässt, einen Nerv der Zeit? Spiegelt die Musik Pärts einen Trend wieder, der sich auch – bei insgesamt schwindender Resonanz des Ordenslebens – im Zustrom zu kontemplativen Orden bemerkbar macht? Findet hier Rahners viel zitiertes Diktum vom Christ der Zukunft, der ein Mystiker sein müsse, einen Widerhall?
Es seien Menschen, die in seiner Musik etwas «zu finden» hofften oder einfach wie er «etwas suchen» und beim Hören seiner Musik «empfinden, dass sie in dieselbe Richtung gehen»34, so Pärt. Es ist eine Musik, die keine vorschnellen Katechismus-Antworten gibt, sondern sich tastend und doch zugleich voll Hoffnung den existentiellen Fragen der Menschen zuwendet, behutsam eine Perspektive anbietend, die von der biblischen Froh-Botschaft ihren Ausgang nimmt, im Glauben an Christus ihre Mitte findet. Seine Musik wirkt verbindend und versöhnend, indem sie auf ein breites Verständnis zielt: «ich suche einen gemeinsamen Nenner. Ich strebe nach einer Musik, die ich universell nennen könnte, in der sich viele Dialekte vermischen.»35 Auch die Verbindung unterschiedlicher geistlicher und konfessioneller Traditionen aus «Orient und Okzident» – so der Titel einer Komposition Pärts aus dem Jahr 2000 – sowie ihre bewusste Offenheit für ein säkulares Hörerpublikum bietet Chancen der interreligiösen und pluralen Verständigung. Die Musik birgt ein versöhnendes, friedensstiftendes Potenzial, das sich vom Gewaltverdacht befreit, unter den Religion leicht gerät. Sie setzt dort an, wo jenseits kultureller, religiöser, weltanschaulicher Ausdifferenzierung eine allgemein-menschliche Berührbarkeit besteht. So erkennt Pärt in der Tiefe der menschlichen Seele eine bei allen Menschen gleiche «Ursubstanz»: «Es ist für mich eine große Versuchung, diese so schön geordnete Ur-Substanz, diese kostbare Insel in der inneren Verborgenheit unserer Seele, als den «Ort» anzusehen, über den uns vor 2000 Jahren gesagt wurde, dass Gottes Reich dort sei – nämlich in unserem Inneren. ... Und so versuche ich bis heute, mich auf dem Pfad zu halten auf der Suche nach dieser so heiß ersehnten ‹Zauberinsel›, wo alle Menschen – für mich auch alle Klänge – in Liebe miteinander leben könnten. Die Türen dorthin sind für jedermann geöffnet. Aber der Weg dahin ist schwierig – schwierig bis zur Verzweiflung.»36