Benjamin Leven: Nicht wenige Ihrer Arbeiten haben mit Kirchenräumen zu tun. Sie wurden dort gezeigt, oder sind dort sogar entstanden: Fotografien, aber auch Performances. Wie kommt das?
Julia Krahn: Mein Werk setzt sich mit dem Bildgedächtnis christlicher Motive auseinander, die ich in eine persönliche und gesellschaftliche Fragestellung überführe. Da liegt es auf der Hand, dass ich öfters eingeladen wurde, in Kirchenräumen auszustellen, auch wenn die Arbeiten nie zu diesem Zweck konzipiert wurden. Mich reizen sie dennoch, gerade weil sie eine Schwierigkeit mitbringen: Sie sind kein White Cube, sondern haben eine eigene Bestimmung, ein Wesen. Das kann kontrastiert oder eingearbeitet werden, aber ignorieren kann man es nicht. Die Geschichte eines Ortes schwingt in den Arbeiten immer mit. Dazu kommt noch, dass manche Orte nicht nur eine Vergangenheit haben, sondern auch in der Gegenwart genutzt werden. Das heißt: Ich habe als Künstler eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die diesen Ort tagtäglich erleben. Man öffnet der Kunst eine Tür, aber das heißt nicht, dass man vergessen darf, wo man ist. Genauso gilt es andersherum. Wenn eine Tür geöffnet wird, man aber nicht eintreten darf, dann hat es genauso wenig Sinn. Es braucht Respekt und Wille zur Kommunikation von beiden Seiten, um in Kirchenräumen gute Kunst zu machen. Kunst ohne Dialog ist Dekoration.
Was sind die Werte, die geschützt und erhalten werden wollen? Was macht den Menschen aus, was ist Fassade? Was lässt den Menschen überleben, was lässt ihn leben?
Leven: Mit welchen Themen befassen Sie sich in Ihrer Arbeit?
Krahn: Ein zentrales Thema ist die Rolle der Frau in der Gesellschaft, in der Familie und in den Augen des Mannes. Was mich außerdem bewegt, ist der Wandel von Werten in der Gesellschaft. Man erhält als Kind eine Erziehung. Kommt man in die Jugend- und Erwachsenenjahre, ist das, was einem beigebracht wurde, schon nicht mehr aktuell. Was sind die Werte, die geschützt und erhalten werden wollen? Was macht den Menschen aus, was ist Fassade? Was lässt den Menschen überleben, was lässt ihn leben? Oft überarbeite ich in meinem Werk bestehende Bilder. Dabei frage ich, was von der Aussage eines Bildes bleibt, nachdem der soziale und geschichtliche Rahmen ein ganz anderer geworden ist, und was an die Stelle der Aspekte tritt, die verschwunden sind. Die Leere nimmt in meiner Arbeit einen wichtigen Raum ein.
Leven: In Ihrer Arbeit «Mutter» von 2009 fehlt zum Beispiel das Kind.
Krahn: Ich reduziere das Sichtbare, um das Wesentliche hervortreten zu lassen. In dieser eigentlich klassischen Darstellung einer Madonna-Maternità ist das Kind im Arm der Mutter nicht sichtbar. Diese Leere wird in der jungen Generation oft gar nicht mehr bemerkt. Wie lange wird «Mutter» noch als Madonna wahrgenommen? Viele Kinder erkennen sie nicht mehr, sie sehen nur eine Frau mit einem Tuch. Ich frage mich: Ist das wirklich ein Problem? Vielleicht bin ich nur «alt» geworden. Das Vergessen schafft auch Raum für Neues. Aber was wird vergessen, und was bleibt – und wer entscheidet das? Ist unser kulturelles und spirituelles Erbe ein Klotz am Bein oder ein Anker in der Not?
Ich denke, was den Glauben betrifft, befindet sich unsere Gesellschaft in der Pubertät. Als wäre die Religion die Mutter, der wir uns mit dem Gefühl des Teenagers entgegenstellen müssten.
Leven: Viele Ihrer Arbeiten sind kulturell voraussetzungsreich. Sie beziehen sich auf die klassische Ikonographie, auf die europäische Bildüberlieferung, typische Konstellationen, die die Kunst in ihrer Geschichte hervorgebracht und ausformuliert hat: Maria mit dem Kind, die Pietà, Maria Magdalena. Woran liegt es, dass davon immer weniger erkannt wird?
Krahn: Wenn ich mein Kind nicht in den Religionsunterricht schicke, wenn ich mit meinem Kind nie in die Kirche gehe, und sei es auch nur, um zu erfahren: das ist Maria, das ist Lucia, das ist Lukas und so weiter, dann enthalte ich ihm die Grundlagen unserer Kultur vor. Natürlich ist es auch wichtig, die verschiedenen Glaubensrichtungen zu erläutern, sodass man sich versteht und sich endscheiden kann, ob und was man glauben möchte. Statt mehr zu unterrichten, wird aber weniger beigebracht, und die Kinder ahnen nur aus den Schlagzeilen, was hinter den Begriffen Religion und Glaube steht. Wie kommt es, dass die Gesellschaft sich selbst derart auswurzelt? Ich denke, was den Glauben betrifft, befindet sich unsere Gesellschaft in der Pubertät. Als wäre die Religion die Mutter, der wir uns mit dem Gefühl des Teenagers entgegenstellen müssten. Das ist eine hoffnungsvolle Position, denn sie vertraut darauf, dass man eventuell an einen Punkt kommt, an dem man begreift, dass dort etwas Wichtiges aufbewahrt ist, ein großes Geschenk, ein Erbe. Dafür muss man nicht wieder zum Christen werden. Ich bin Agnostiker. Aber ich frage mich mit Sorgen: Was nimmt diese Leerstelle ein? Der Jugendliche bekommt ein Telefon in die Hand, das gibt ihm Sicherheit, dort verfolgt er seine Heiligen, die Influencer: Virtuelle, perfekte Menschen, die nicht altern. Deswegen habe ich die «Magdalenen» fotografiert.
Leven: Warum?
Krahn: Die porträtierten Frauen sind ganz normale Menschen, die etwas erlebt und durchlitten haben und die daraus gewachsen sind, alltäglich Heilige. Wir sagen heute gern: Religion, das sind ja nur Geschichten. Aber seltsamerweise sind diese Geschichten, auch wenn manche von ihnen erfunden sein mögen, viel wahrer und realer als das, was wir heute den Menschen vorschlagen: die Bilder der schmerz- und alterslosen Influencer. Die Heiligen sind Menschen, die Gefühle haben, die Leid erfahren haben, die Fehler machen und denen es dann leidtut. Es sind Menschen, deren Verletzungen sichtbar sind.
Leven: Was sind die «Magdalenen»? Was sieht man auf diesen Bildern?
Krahn: «33MM» – MM steht für Maria Magdalena – sind 33 Porträts von Personen, meist von Frauen. Mit jeder von ihnen habe ich ein langes Gespräch geführt. Das ging unterschiedlich tief, aber alle haben ein Stück von sich preisgegeben. Für das Porträt entkleiden sich die Personen und wählen einen Stoff in unterschiedlicher Farbe aus, der sie dann auf dem Bild mehr oder weniger bedeckt. Auch wählen sie ein Symbol aus, ein Attribut, das für ihren Lebensweg steht. Meist gibt es da einen Schmerz, der überwunden wurde, und den ich dann gerne hervorhebe. Ich habe dabei die Hoffnung, dass dieser Schmerz von jemandem wiedererkannt wird, der etwas ähnliches durchlebt hat, und dass das Bild dadurch zu einer Konsolation wird, zur Tröstung. Denn das ist auch etwas, das in einer Gesellschaft fehlt, die nicht leiden darf: der Trost. Die dargestellten Personen schreiben auch einen Text: Bei manchen sind das wenige Zeilen, bei anderen mehrere Seiten. Die Bilder werden dann auf großformatige Banner gedruckt, die im Wind tanzen. Die große Arbeit bei den «Magdalenen» besteht darin, den Menschen zu sehen. Anschauen ist Liebe, und das bedeutet Schönheit.
Leven: Aus einer kritischen Perspektive wurde der Begriff der Schönheit oft mit dem schönen Schein gleichgesetzt, mit einer Art Täuschung also. Was heißt Schönheit für Sie?
Krahn: Schönheit heißt, mit dem Herzen zu sehen. Wir nennen das schön, was wir lieben. Wenn ich das Meer anschaue, ist das wunderschön für mich. Ein Kind, das beim Überqueren des Mittelmeers seine Mutter verloren hat, findet das Meer wahrscheinlich nicht schön. Eltern, die ein Kind mit Down-Syndrom haben und es liebhaben, finden ihr Kind auch schön, auch wenn andere Menschen seine Schönheit nicht sehen können. Umso mehr wir bereit sind, unseren Nächsten und die Welt, um uns herum mit Liebe anzuschauen, umso schöner wird die Welt. Ich bin überzeugt, dass wir so die Welt verändern können. Denn aus der Liebe ergibt sich eine große Verantwortung. Wenn wir die Schönheit in der Welt sehen, dann wollen wir sie erhalten und nicht zerstören. Das fängt im Kleinen an: Wenn ich einen Menschen anschaue, dem es vielleicht nicht so gut geht, und für mich selbst ein paar nette Worte für ihn vormurmele, dann merke ich, dass das ankommt. Das kostet wirklich gar nichts. Aber es macht den anderen schöner und dadurch wird die Welt besser.
Leven: Sie haben vor einigen Jahren ein Projekt unter dem Titel «SchönerHeit» gemacht, bei dem Sie körperlich behinderte Menschen fotografiert haben. Wie kam es dazu?
Krahn: Der Titel ist ein Neologismus, ein scheinbar fehlerhaftes Wort, um etwas zu beschreiben, dass schöner ist als schön, nicht so abgenutzt im Begriff, und der darauf hinweist, das dort, wo ein Fehler zu sein scheint, Einzigartigkeit zu finden ist – SchönerHeit. Es handelte sich dabei um eine Auftragsarbeit im Namen der Anna von Borries-Stiftung in Hannover. Ich sollte Menschen mit Behinderungen porträtieren und dabei auch eine Verbindung zur Bibel herstellen. Wir sind dann bei einer gemeinsamen Recherche auf das Hohelied gestoßen, das ich vorher kaum kannte. Ich war überwältigt von der Schönheit dieser Texte. Besonders hat mich die extreme Körperlichkeit darin angesprochen. Ich habe dann angefangen, mit den Behinderten das Hohelied zu lesen und zu diskutieren. Irgendwann sagten sie zu mir: Julia, warum willst Du mit uns über Schönheit arbeiten? Du bist hübsch, aber wir sind arme, hässliche Rollstuhlfahrer. Da habe ich gesagt: Wartet mal, wie viele von Euch haben eine Mutter, die Euch schön findet? Ist es wirklich so, dass ich schön bin und ihr nicht? Vielleicht bin ich hübsch, anerkannt nach einem Standard der heutigen Modewelt. Aber das ist doch nur ein äußerliches Kriterium, das sich mit der Zeit ändert. Die behinderten Menschen haben mir dann erzählt, was das Fürchterlichste für sie ist: dass sie niemand anschaut. Je besser die Leute erzogen sind, desto eher versuchen sie, wegzuschauen. Aber es ist gerade das Verletzende, dass der Blick abgewendet wird. Also geht es bei den Bildern darum, die Menschen zu zeigen, die sonst keiner anschauen will. Die Fotos sind in einer Kirche entstanden, die direkt an das Stift angebunden ist, in dem die Porträtierten leben. Ein postapokalyptischer Kasten, der unmittelbar nach dem Krieg gebaut wurde, in einer Mea-culpa-mea-culpa-Geste, alles aus schwarzem Marmor. Ich weiß nicht, wie man in einem solchen Ding Gottesdienst feiert. Es war damals meine erste Arbeit, in der es nicht um Selbstporträts von mir ging. Das war eine große Herausforderung für mich. Aber in gewisser Weise sind es dann Selbstporträts der Protagonisten geworden.
Leven: Wie das?
Krahn: Hätte ich alleine gearbeitet, an meinem Bild, wären die Bilder anders geworden. Aber da ich keine Models benutze, sondern Portraits kreiere, ist mir die Persönlichkeit vor der Kamera mit all ihren Wünschen und Vorstellungen wichtig. Die Menschen in dieser Arbeit wollten Fülle, sie wollten reich geschmückt sein. Sie haben sich wie einer Orgie Gegenstände und Requisiten ausgesucht und wurden von mir dazu bemalt. Da war so viel Hunger nach Fülle, das war unglaublich: «Ich will noch mehr Farbe, ich will noch mehr Früchte.» Und das habe ich ihnen nicht nehmen wollen. Jeder, der fotografiert wurde, findet sein Bild schön. Und das war meine Aufgabe. Wo sonst meine Leere steht, steht in dieser Arbeit Fülle. Wo sonst komplexe Ideen und Fragen im Mittelpunkt stehen, steht hier der Mensch.
Leven: Vor einiger Zeit haben Sie in der sogenannten Wunderblut-Kirche im brandenburgischen Bad Wilsnack gearbeitet, wo bis zur Reformationszeit ein Hostienwunder Anlass für eine große Wallfahrt war. Bei Ihrer Performance haben Sie Hostien ausgeteilt, in die Leonardos berühmte Zeichnung des vitruvianischen Menschen eingestanzt war. Was hatte es damit auf sich?
Krahn: Der vitruvianische Mensch findet sich auf der italienischen Ein-Euro-Münze. Ich habe also im Grunde Euros ausgeteilt. Ich kenne wenige Menschen, die von sich sagen könnten, dass sie sich vor allem vom Geist ernähren. Es funktioniert in unserer Gesellschaft auch nicht: Man würde zu einem völligen Außenseiter. Die Frage ist also: Was ist mein tägliches Brot? Selbstverwirklichung, wirtschaftlicher Erfolg? Auf der anderen Seite ist es aber auch eine Frage an die Kirche: Was teilst du aus, was bietest du wirklich an? Die Kirche wird in der Gesellschaft oft als Institution wahrgenommen, die viel Macht und Geld hat und von Skandalen geschüttelt wird, aber wenig geistliche Nahrung zu bieten hat.
Leven: Was bedeutet es, eine solche Hostie zu essen?
Krahn: Ich habe bei vielen, denen ich eine gegeben habe, wenn sie zum Beispiel in mein Studio kamen, eine große Verlegenheit gespürt: Vielleicht weil einem in dem Moment, in dem man das so weltlich vor sich sieht, bewusst wird, was verloren gegangen ist. Ich stelle mir das ähnlich vor, wie beimAnblick einer entkleideten Respektsperson.
Leven: Gibt es Leute in der Kunstszene, die Sie für verrückt oder weltfremd halten?
Krahn: Wahrscheinlich nicht nur in der Kunstszene. Aber wenn "verrückt" und "weltfremd" bedeutet, dass ich nicht mit der Masse konform bin, dann ist das wohl eine Voraussetzung für meine Arbeit. Umso größer ein Objekt, um so weiter muss ich davor zurücktreten, um es in seiner Ganzheit erfassen zu können.
Ehrlich gesagt interessiere ich mich für Kunst auch nicht so sehr. Mich interessiert vielmehr der Mensch und die Natur.
Leven: Gibt es Dogmen in der zeitgenössischen Kunst?
Krahn: Das kann ich nicht beantworten. Ich bin da zu subjektiv. Ehrlich gesagt interessiere ich mich für Kunst auch nicht so sehr. Mich interessiert vielmehr der Mensch und die Natur. Ich erzähle was ich sehe, ob es dann der Kunstszene passt oder nicht, das kann für mich kein Beweggrund sein. Was ich aber beobachte, ist eine geschlossene Tür, wenn man zwischen Kunst und Glaube wandeln will. Als sei dieser direkte Zugang heute nicht mehr erlaubt. Und ich sage «heute», denn die Kunst und die Religion waren doch einmal eng verbunden. Ich bin außerdem überzeugt, dass die Kunst den Menschen helfen soll, über die Mauern ihrer alltäglichen Existenz zu schauen. Und ist das nicht auch die Aufgabe der Religion? Man hat das gleiche Ziel, und doch: Kunst soll göttlich sein, aber mit Gott nichts zu tun haben.
Leven: Nicht zuletzt durch das Smartphone werden wir heute geradezu überschwemmt mit Bildern, die für den Moment produziert werden und gleich wieder aus unserer Wahrnehmung verschwinden. Was bedeutet das für Sie als Fotografin?
Krahn: Das Telefon nimmt auch in meinem Leben viel Zeit in Anspruch. Es verschafft einem für den Augenblick sehr viel Befriedigung. Tatsächlich hatte ich vor einiger Zeit von einem Moment auf den anderen eine absolute Aversion gegen Fotografie. Ich wollte nicht mehr zu dieser Bilder-Bulimie beitragen. Also habe ich begonnen, kleine Skulpturen aus Ton zu machen. Viele in meiner Umgebung konnten das nicht verstehen. Sie haben gesagt: Julia, du bist Fotografin und keine Bildhauerin. Aber diese Arbeit ist für mich wie eine Meditation. Wenn ich mich hinsetze und diese kleinen Skulpturen mache, habe ich das Gefühl, das ich der Welt etwas Gutes tue. Als ob der Akt an sich wichtiger sei als das Resultat. Ich habe gespürt, das tut nicht nur mir gut, sondern auch meiner Umgebung. Ich fand es auch wichtig, die Hände wieder zu benutzen, mit der Erde zu arbeiten und etwas zu kreieren, das nicht die Umwelt vergiftet.
Leven: Sie haben das Fotografieren also aufgegeben?
Krahn: Nein, vor Kurzem habe ich wieder angefangen. Ich bin im Lockdown mit meinem Studio von Mailand nach Sorrent umgezogen und arbeite nun in der Gegenwart des Meeres. In der Zeit der Überschwemmungen in Deutschland habe ich hier ein Mädchen gefragt, ob sie für mich ins Wasser ginge, um sie unter Wasser, im Meer, fotografieren zu können. Ich hatte ein großes Bedürfnis nach Natur und Wasser und sehe diese Bilder als eine Art Taufe in meiner neuen Umgebung, andererseits ein Mitfühlen der Not meiner Eltern und Freunde, die gerade mit den Füßen im Wasser standen. Man sieht diesen nackten Körper des Mädchens unter Wasser und weiß nicht, ob sie gerade stirbt oder geboren wird. Seitdem habe ich wieder Lust, Fotos zu machen – und am selben Tag habe ich auch schon die beiden ersten Frauen hier eingeladen, mit mir an ihren «Magdalenen» zu arbeiten.
Leven: Hinter uns liegt eine Zeit der Einschränkungen, die Corona-Pandemie. Wie hat diese Zeit Sie verändert?
Krahn: Ich hatte großes Glück. Ich habe vorhergesehen, was passieren würde, und rechtzeitig die Großstadt verlassen. Ich bin mir des großen Leids bewusst, das durch die Pandemie entstanden ist, aber für mich war der Lockdown ein Paradies. Die Stille hat die Wahrnehmung verändert. Sie wurde wieder dreidimensional. Man konnte aus kilometerweiter Entfernung einen Vogel singen hören. Die Zeit lag nur in meinen Händen, sie war plötzlich kein Terminkalender mehr, sondern Raum. Ich habe mein Leben und meine Prioritäten noch einmal neu geordnet. Außerdem habe ich Zeit gefunden, an dem Archiv meines Großvaters zu arbeiten, oder besser, an dem seiner Postkarten. Diese Post, von ihm aus Sibirien in einem Kriegsgefangenenlager an seine Frau und seinen Sohn geschrieben, sind mir mein liebstes Erbe. Es ist als würde er mich durch die Zeit, durch seine Worte, an der Hand halten und ins Leben führen. Ich habe so viel gelernt und habe nie das Gefühl gehabt, ich sei eingeschränkt, im Gegenteil.