Lars Gustafsson

Die Stille der Welt vor Bach
Es muß eine Welt gegeben haben vor
der Triosonate in D, eine Welt vor der A-moll-Partita,
aber was für eine Welt?
Ein Europa der großen leeren Räume ohne Widerhall,
voll von unwissenden Instrumenten,
wo das Musikalische Opfer und das Wohltemperierte Klavier
noch über keine Klaviatur gegangen waren.
Einsam gelegene Kirchen,
in denen nie die Sopranstimme der Matthäus-Passion
sich in hilfloser Liebe um die sanfteren
Bewegungen der Flöte gerankt hat,
weite sanfte Landschaften,
wo nichts zu hören ist als die Äxte der Holzfäller,
das muntere Bellen starker Hunde im Winter
und Schlittschuhe auf blankem Eis wie ferne Glocken;
die Schwalben, die durch die Sommerluft schwirren,
die Muschel, die das Kind lauschend ans Ohr drückt,
und nirgends Bach, nirgends Bach.
Die Schlittschuhstille der Welt vor Bach.

(übersetzt von Verena Reichel)

Stille als Alltag

Das Gedicht, 1982 in deutscher Übersetzung erschienen, berichtet von einer imaginären Reise durch europäische Lande zur Erkundung der Stille der Welt vor Bach. Das Auge und das Ohr, das Hören und das Sehen des Reisenden sind in besonderer Weise gefordert. Sie nehmen Impressionen wahr, die sich zum geheimnisvollen Phänomen der Stille summieren. Dabei verwandelt sich die Stille der Welt zu deren Schlittschuhstille. Das hängt zum einen damit zusammen, dass der Dichter durch die Jahreszeiten reist. Draußen wird gearbeitet. Man hört, rund um das Jahr, die Äxte der Holzfäller. Zur Winterszeit sind Schlittenhunde quicklebendig unterwegs, wie es ihr muntere(s) Bellen signalisiert. Und auf den zugefrorenen Wasserläufen und Seen tummeln sich Schlittschuhläufer. Sie produzieren die Schlittschuhstille. Der Dichter vernimmt aber auch ferne Glocken. Ist das ein Hörfehler oder eine lyrische Steigerung seines inneren Ohrs? Zur Sommerszeit schwirren die Schwalben. Kinder, eben noch auf dem Eis unterwegs, erkunden mit dem Ohr die Weite der Welt im Innern einer Muschel. Eine erste Erfahrung der Unendlichkeit, des Infinito. So verträumt möchte es Jahr um Jahr weitergehen.

Und dann wird doch alles anders. Mit Bach beginnt eine neue Zeit, eine Epoche. Die geschäftige Gegenwart von gestern und ihre Geräuschkulisse ist nunmehr die Welt vor Bach. Sie ist ohne Musik, ohne Kunst, ohne bemerkenswerte ästhetische Weite.

Musiken aus dem Spätwerk Bachs

Johann Sebastian Bachs Musik ist mit fünf seiner Kompositionen aus dem Spätwerk in Lars Gustafssons Gedicht präsent. Diese sind: die Triosonate in D, die A-moll-Partita, das Musikalische Opfer, das Wohltemperierte Klavier, die Matthäus-Passion. Die Matthäus-Passion wird zum Gegenstand eines kleinen Musikrätsels stilisiert. Der Dichter spielt an auf eine besondere Stelle, die lokalisiert und erschlossen sein will. Eine lyrische Umschreibung verschlüsselt, verhüllt dieses erlesene Musikstück. Der fiktive Suchauftrag lautet: Wo in der Matthäus-Passion «(rankt sich) die Sopranstimme (…) in hilfloser Liebe um die (…) Flöte»? Die Antwort lautet: In der Arie Nr. 49, geschrieben für 2 Oboen, Flöte und Sopran. Der Text, den diese Stimme singt, lautet: Aus Liebe will mein Heiland sterben.

Aus dem Motiv der Gottesliebe bei Bach wird bei Gustafsson eine «hilflose Liebe». Das ist ein Fall für die Exegese. Ist Gott hilflos? Oder die Musik? Oder ist die hilflose Liebe Ausdruck der persönlichen Skepsis des postmodernen Dichters? Das mag jede Interpretation für sich entscheiden oder auch nicht.

‹Stille› und ‹Schlittschuhstille› als Metaphern ‹der Welt vor Bach›

Das Gedicht konstatiert im Modus der Retrospektive die Abwesenheit Bachs im Kontext der europäischen Kultur und Geschichte des 17. Jahrhunderts. Ohne Bach ist Europa ohne Widerhall, sind die Musikinstrumente unwissend, die Kirchen einsam gelegen. Eine kärgliche Welt muß das gewesen sein, im Rhythmus der Natur befangen. Zum sozialen Alltag gehört das naive Divertissement des Schlittschuhlaufens, die Hingabe an das Rauschen der leeren Muschel aus dem Meer. Eine kindliche Welt. Mit Bach wird sie plötzlich erwachsen. Eine neue Epoche beginnt: neu in der Musik, in der kulturellen Selbstreflexion, in der Theologie. Ob die Reformation als Epochenschwelle dabei implizit eine Rolle spielt – und welche? – , läßt sich an dieser Stelle nicht entscheiden.

Die Stille (der Welt vor Bach) verweist als Metapher auf eine arglos in sich kreisende Welt des Handwerks, des Kinderspiels. Durch Bach erfährt sie die entscheidende kulturelle Dynamisierung, die auch die Kirchen erfaßt. Der Dichter hört im Geräusch der Schlittschuhe auf blankem Eis Glocken. Wird die Schlittschuhstille durchhörbar hin zu Bachs Passionsmusik, die in sakralen Räumen am Karfreitag aufgeführt wird?

Liest man das Gedicht zweimal hintereinander, verschwindet die finale Schlittschuhstille in der Stille des Titels. Diese zweite, hermeneutisch generierte, Stille ist geheimnisvoll innerlich, der Sprache entzogen. Sie dennoch auszuloten ist der Dichter, Verfasser dieses Textes, unterwegs. Er stellt die einleitende Frage nach dem Was der Welt vor Bach. Im zirkulären Durchgang durch die verdreifachte Metaphernkette von Stille-Schlittschuhstille-Stille erfährt die Welt der großen leeren Räume ohne Widerhall ihre besondere ästhetisch-ontologische Neubestimmung als Raum der Kreativität, der Kunst, der sich eröffnenden Welt des Seienden.

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