Mehr Ding’ zwischen Hölle und HimmelZum Tod von Arnold Angenendt

Der Priester, Theologe und Münsteraner Professor für Kirchengeschichte Arnold Angenendt war der Jacob Burckhardt konfessioneller Kulturgeschichte. Seine mentalitäts- und sozialgeschichtlich geprägte, monumentale Geschichte der Religiosität im Mittelalter (1997) wie auch Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400–900 (1990) machen jeweils kulturelle Gegenbilanzen auf, die dem aktuellen Verschwinden von Religion aus der Gesellschaft zumindest entgegenwirken sollten.

Den praktischen Nutzen des Lesens von nicht weniger als 952 Seiten Geschichte der Religiosität im Mittelalter umreißt Angenendt gleich zu Beginn im Kapitel «Die Aufgabe», wenn er die bisherige Forschung durchmisst und zugleich den erhofften Bildungserfolg dieses Mammutvorhabens vor Augen stellt. Aus allen bis dahin verfassten Büchern zieht er die wichtigsten und passendsten Belege zusammen und beleuchtet diese stets aus unterschiedlichen Perspektiven. Zu den diversen Blickwinkeln gehören bei ihm immer auch sozialgeschichtliche Quellen, die der Mittelalterexperte auf das Verständnis des Einzelnen und seiner Religiosität ebenso anwendet wie auf Bürgerschaften. So beleuchtet er entsprechend auch die Religiosität ganzer Städte, die sich nicht selten über Jahrhunderte Wettstreite lieferten, wessen Stadtpatron(in) die meiste Würde habe (gerade in italienischen Kommunen ein Problem im Mittelalter, denkt man an Siena, Lucca oder Florenz), sich mit ihren Heiligen bis zur Mimesis identifizieren (der Doge von Venedig galt als leibhaftiger Stellvertreter des Evangelisten und Stadtpatrons Markus auf Erden, in klarer Konkurrenz zum «Vicarius Dei» in Rom), die Pilgerschaften zu ihren Patronen – durchaus auch aus wirtschaftlichen Erwägungen – befeuerten (etwa Santiago de Compostela mit dem Apostelgrab des Jakobus oder Köln mit den Heiligen Drei Königen) oder unter der Fahne ihres Heiligen sogar gegen die eigenen Bischöfe in die Schlacht zog (wie wiederum Köln). Angenendts Multifokalität zeigt sich aber auch darin, dass er schon 1997 ein eigenes Kapitel zur «Frauenbewegung» im Hochmittelalter hat, heute eine Selbstverständlichkeit, damals keinesfalls, dass er «Leib und Seele» nicht zu trennen gewillt ist oder das seine «Arbeit am Mythos» und christliche Typologie eine enthistorisierende Philosophie der Zeit voraussetzt, die in der Einbettung jedes Einzelnen in eine große, sich stets wiederholende Heilserzählung, erst Sinn stiftet, indem sie gegen Vergeblichkeit und Vergessen-Werden ankämpft.

Nur an einer Stelle in diesen fast tausend Seiten würde man widersprechen oder Angenendt zumindest befragen wollen, was nun leider nicht mehr möglich ist: Im buchstäblich irdischsten Part des Buches, dem vierten Teil «Welt und Menschen», datiert er ausgerechnet im Kapitel «Raum und Zeit» das Erwachen religiösen Interesses an den von Christus und Heiligen «belebten» und berührten Stätten im Heiligen Land sehr spät, vielleicht zu spät. Er zitiert und bejaht die Behauptung eines Forschers, dass sich «auf Seiten der Christen … in den ersten drei Jahrhunderten nahezu kein Interesse an den Stätten, wo Jesus lebte, oder am Land der Bibel überhaupt» (208) zeige. Dabei wird doch die spanische Adelige und Nonne Egeria, die ab 381 drei Jahre lang das gesamte Heilige Land bis hinab zum Katharinenkloster am Sinai bereiste und die besuchten Stätten beschrieb, kaum die Erste gewesen sein, die ohne Präzedenz aus dem entferntesten Westen Europas den langen Weg auf sich genommen hatte. Gerade aus der frühchristlichen Aristokratie Roms dürften etliche bereits vor dem vierten Jahrhundert ihrer religiösen Reisesehnsucht nachgegeben haben, ohne dies notwendigerweise aufgeschrieben zu haben. Manche vom Jordan und anderen Stätten des Heiligen Landes mitgebrachte Souvenirs wie die berühmten «Pilgerampullen» mit Öl oder anderen geweihten Flüssigkeiten (zum Beispiel jene im Domschatz zu Monza) datieren vor Egeria. Dass Angenendt aber die Absenz von Quellen nicht für Spekulation nutzt und das nicht solid Belegbare eher als Ausschlusskriterium sieht, spricht allerdings im Grunde schon wieder für ihn.

Ähnlich umsichtig und sorgfältig ging er in Toleranz und Gewalt aus dem Jahr 2007 sowie der Publikation mit dem biblischen Titel Lasst beides wachsen bis zur Ernte von 2018 vor. In beiden Büchern widmete sich Angenendt der unbestreitbaren Gewalt- und Kriminalgeschichte, aber auch der Toleranz im Christentum, die Jesu Gleichnis vom Weizen neben dem Unkraut ähnele. Dabei waren dem fast siebenhundertseitigen Buch «Toleranz und Gewalt» Überzeugungskraft und Erfolg nicht vorhergesagt, war es doch aus der schwierigen Position der Defensive heraus geschrieben. Aus zwei Semestern Vorlesung hervorgegangen, mit denen Angenendt, wie er im Vorwort schreibt, auf die thomasinische Ungläubigkeit einer Schul-Oberstufe auf seine Argumente gegen die von ihm selbst so benannten «Todsünden des Christentums» ebenso antworten wollte wie auf Franz Kamphaus’ Sommer 2000 in der Wochenzeitung ZEIT erschienenen Artikel zur allfälligen Abschaffung der Kirche. Selbst an des erbitterten Kirchengegners Karlheinz Deschners zehnbändiger Kriminalgeschichte des Christentums mit ihren nahezu 6000 Seiten Anklage arbeitete sich Angenendt erkennbar mühevoll und dennoch lauter ab, wenngleich er nur Band 4 von Deschner zitiert, der Frühchristentum und Kirchengeschichte «bis zum Tod Karls ,des Großen´[sic!]» untersucht. Lauter deswegen, weil er die Größe besaß, jeweils die ernstzunehmendsten Kritiker ernst zu nehmen und argumentativ, nie polemisch, überzeugen zu wollen. Weshalb er etwa sein Kapitel 5.II über «Das jüdische Tränental» dem Historiker und Antisemitismusforscher David Nirenberg zum Gegenlesen gab, der seit 1. November nun Direktor der renommiertesten Denkfabrik der Welt, des Institute for Advanced Study in Princeton ist, an dem schon kritische Köpfe wie Albert Einstein und Erwin Panofsky wirkten und dessen Mitglied Angenendt selbst 1986/87 war. Unvergessen beginnt Angenendt schon den Prolog von «Toleranz und Gewalt» mit den provokanten Sätzen «Kein anständiger Mensch kann Mitglied der römisch-katholischen Kirche sein. Die Ecclesia militans ist die älteste und größte Verbrecherorganisation der Welt» (S. 13), um dann systematisch Argumente gegen solcherart schnelle Pauschalverurteilungen und Generalisierungen anzuführen.

Seine Kunst war die facettenreiche Gegenüberstellung aller Positionen in einer Streitfrage: Bei den über Jahrhunderte gegen Juden verwandte Ritualmord- und Hostienschändungsvorwürfen beispielsweise stellt er zuerst einmal die geringe Bildung dieser mittelalterlichen Verbreiter von Fake News fest und konstatiert gefährliche sozial- wie auch gruppenpsychologische Aufsteigerungseffekte, um sich und uns die Unwirksamkeit des klaren Vetos von Innozenz IV. gegen diese Lügen und die aus ihnen folgende Pogrome von Juli 1247 zu erklären, schreibt doch der Papst gegen die antijüdischen Ausschreitungen: «Bösartigerweise macht man ihnen den Leichnam eines toten Menschen, der irgendwo gefunden wird, zum Vorwurf; wegen solcher und anderer Erfindungen erregt man sich über die Juden, beraubt sie ihrer Güter, ohne Anklage, ohne Geständnis, gegen Gottes Gerechtigkeit» (515). Anders als aktuelle BDS-Antisemitismen betont Angenendt dabei stets die Ungeheuerlichkeit und Singularität des nationalsozialistischen, von kirchlicher Seite teils gedeckten, teils scharf verurteilten Holocaust an den Juden, wenn er Yosef Yerushalmi mit der Aussage zitiert, im Mittelalter habe es keinen antijüdischen Massenmord gegeben und kein mittelalterlicher Herrscher habe je einen solchen verfügt oder auch nur gutgeheißen. Dass bei all diesen historischen Kontextualisierungen unerklärliches Leid und damit Trauer bleibt, meint man annähernd erfassen zu können, wenn Angenendt Ernst Ehrlichs Diktum von 1999 zitiert, «daß, hätte Jesus zu unserer Zeit gelebt, er mit den anderen Juden vergast worden wäre». Christus wäre mithin grausam gestorben wie am Kreuz, aber sein Volk fast vollständig mit ihm, so dass kaum Glaubenszeugen zur Verbreitung seiner Lehre übriggeblieben wären. Der Schock über die brutale Wahrheit dieser Denkfigur saß spürbar tief. So tief, dass sie fast die inhärent optimistische Grundstimmung seines bekanntesten und wichtigsten Werks zu gemarterten und getöteten Glaubenszeugen, «Heilige und Reliquien», zu übertönen schienen.

Denn jeder, der sich ansatzweise für Kulte des Heiligen mit Dauer vom frühesten Mittelalter bis heute interessiert, hat Angenendts Buch Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart im Regal stehen. Seit 1994 ist der Band der Goldstandard der Reliquienforschung. Was nach ausschließlich katholischem Thema klingt, umfasst eben auch die Lutherische Reliquienkritik und verlängert die Beschäftigung mit den Überbleibseln verehrter Menschen – wie schon der Untertitel verheißt – in die Jetztzeit, etwa mit den zahlreichen getöteten Missionaren in Afrika und islamischen Ländern. Dabei war ihm ein hohes Gut, die Idee der so beruhigenden wie ermutigenden «Gegenwart» der Verstorbenen und Heiligen zu vermitteln.

Mit vollem Recht, denn auch all die Andenken an Idole und Stars wie Haarlocken oder getragene Kleidungsstücke folgen der menschheitsalten Sehnsucht nach dem Festhalten des Endlichen. Auch der im Buch ausführlich entwickelte Gedanken des «corpus incorruptum», eines bei aller irdischer Folterqual, der die Heiligenkörper in der Reliquienwerdung ausgesetzt waren, doch im Kern unzerstörbaren «zweiten Körpers», hatte für viele Leser etwas ungemein Tröstliches. Da in diesen beiden menschlichen Sehnsüchten des erinnernden Bewahrens und des Immunisierens gegen irdische Gewalt von Menschen gegen Menschen durch Kritiker oft ein zu schwacher Glaube an die Auferstehung gemutmaßt wurde, ist Angenendts entkräftigendes Kapitel zur protestantischen Kritik so wichtig.

Auch sein Buch über Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum aus dem Jahr 2015 trug diese ebenso humanistische wie optimistische Grundfärbung: Gerade der als hoffnungslos verstaubt geltenden Sexuallehre der katholischen Kirche billigte Angenendt darin eine Zukunftsträchtigkeit zu, indem er – nicht nur, aber auch – den positiven Beitrag des Christentums zur Geschichte der Ehe und damit einen gewissen Schutz der Frau hervorhob. Als umfassend gebildetem Mediävisten kam ihm hier die genaue Kenntnis der Schriften des Thomas von Aquin mit ihrer positiven Haltung zur Sexualität zupass, jenes Aquinaten also, dessen vehemente Ablehnung des Reliquienkultes in seiner Schrift «Summa Theologia» Angenendt in «Heilige und Reliquien» so präzise examiniert hatte. Genauso fand er aber auch freizügige Äußerungen wie jene des Theologen Dionysius des Kartäusers aus dem fünfzehnten Jahrhundert, der den Lesern seines Traktats «Über das löbliche Leben der Eheleute» ans Herz legte, Verheiratete sollten sich «mit fleischlicher Lust wechselseitig lieben».

Weil er im Mittelalter nie eine überkommene, gar abgeschlossene Ära sah, sondern die vielen Stränge, die in unsere Zeit führen, konnte er wie kaum ein Zweiter alternative Lösungsansätze präsentieren. Der Tod Angenendts an einem Tag des Herrn, dem achten August dieses Jahres kurz vor seinem 87. Geburtstag, ist ein großer Verlust. Man braucht allerdings kein Prophet zu sein, um vorherzusagen, dass seine Werke auch noch in hundert Jahren mit Gewinn gelesen werden.

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