Sichtbarwerdung des Unsichtbaren

Der Literaturtheoretiker George Steiner (1929-2020) legte 2001 eine Grammatik der Schöpfung1 vor, eine Abwandlung der klassischen Metapher vom «Buch der Welt». Es handelt sich um den vertrauten Gedanken, die Offenbarung Gottes sei nicht allein in der Schrift, sondern auch und anders in seiner eigenen Schöpfung zu lesen: Es gebe also eine doppelte Ausformung des göttlichen Urwortes. Zur Illustration das zauberhafte Gedicht August von Christine Busta:

Aufgeschlagen
lag es vor mir auf dem Weg.
Das leichteste Buch der Erde,
es hat nur zwei Seiten.
Staunend las ich die magischen Zeichen.
Da erhob es sich in die Lüfte.
Keine Apokalypse.
Drei Worte nur aus der geheimen
Offenbarung des Sommers:
Tagpfauenauge.

Vom Kunstwerk lässt sich auf den Künstler zurückschließen: Dieser Vorstellung entspringen reizvolle «Entzifferungen». Die Renaissance hatte beispielsweise mit Johannes Reuchlin, Jakob Böhme und Paracelsus eine Signaturenlehre entwickelt2: Schöpfung, ja jedes einzelne Ding, ist demnach in einem verständlichen Logos gesprochen und auf immer tiefere Aussagen hin durchleuchtbar. Sinnlichkeit selbst ist der Code für Unsinnliches. Heute – weniger unmittelbar auf die Sinne vertrauend – lässt sich der genetische Code tatsächlich bis in unvorstellbare Differenzierungen hinein lesen, übrigens nicht zuletzt verschlüsselt als vierfache Buchstabenfolge.

Schöpfung ist «Wort» gemäß dem Johannes-Prolog, aber Schöpfung ist auch Bild. Das Christentum begreift sich im Unterschied zum «Volk des Buches», trotz aller geistigen Abstammung, nicht erstrangig als eine Offenbarung des Buches, sondern als eine Offenbarung des Fleisches. Unsere Hände haben ihn «betastet» (1 Joh 1,2) … Christus selbst ist «der Brief», den Gott schreibt «in sein lebendiges Fleisch». Das Wort hat sich zu Fleisch transformiert. Und das nicht nur einmal, unüberholbar, sondern kraft des Geistes hat diese Fleischwerdung nicht aufgehört, sondern ist in der Eucharistie zum corpus et sanguis Christi und, nicht minder wirklich, zum corpus Christi mysticum, zum fortwährenden Konkretum der Kirche geworden. Auch dieses Bedeutungsfeld lässt sich im erweiterten Sinne «Schrift» nennen: festgehaltene Botschaft, gründend auf dem gewandelten Fortleben des Wortes im Fleisch.

Sind solche Aussagen nicht einfach christliches «Sondergut»? Kann Welt wirklich erst vom Schöpfer her gedeutet werden? Mehr noch: Ist Gott tatsächlich und erkennbar im Fleisch der eigenen Schöpfung erschienen?

Gegen diese Deutung liegt seit dem 19. Jahrhundert ein Gegenentwurf vor. Religionskritisch wird dabei das Nichts als Leerstelle genommen, aus welchem das Dasein «geworfen» wurde. Von diesem leeren Anfang hebt sich die Gabe des Daseins nicht aufleuchtend ab, sondern im Nichts wird nichts mehr erschaffen, nur noch unbestimmt und ungefragt ins Dasein gesetzt und daraus ebenso ungefragt dorthin zurückgesogen. Nichts wird zur «Pseudomorphie des Gottesbegriffs»3. Wo aber Sinnlosigkeit am Beginn zufälligen Existierens steht (nicht mehr Sinn «im Anfang» selbst ruht), erhebt sich konsequent ein «Dennoch und Trotzdem» zum Endlichen: im Protest, in der Revolte des Menschen gegen das Sinnlose. Es gibt mehrere neuzeitliche Varianten desselben gedanklichen Trotzes: etwa ein Bestehen auf der Kostbarkeit des Endlichen, gerade aufgrund seiner Vergänglichkeit, in Überkompensation wie bei Nietzsche. Dabei führt der Gedanke des (tyrannischen) Schöpfers umgekehrt zur Armut der Welt, zur Entmächtigung ihrer Freiheit, zur Leiche des Endlichen. Erst wenn er «todt» ist – und Nietzsche verkündet diese «neue Morgenröthe»–, kehrt der in die Hinterwelt ent-worfene Gott in den Menschen selbst zurück. Die Erde, der eigene Leib, die tiefe Seinssicherheit sind Himmel, nirgendwo anders und ungeteilt. Rilke sekundiert in der Neunten Duineser Elegie: «Erde, du liebe, ich will. (…) Namenlos bin ich zu dir entschlossen.»

Guardini hat diese entschlossene Selbstverschließung der Anthropologie in den 1930er Jahre klar gesehen. Welt ist, «je nachdem der Affekt sie betont, die leuchtende, von trotziger Kraft gespannte, oder die verzweifelt, in starrer Einsamkeit zusammengeschlossene Klammer um die Welt, die im Nichts nicht einmal ‚hängt’, sondern in es ‚geworfen’ ist – wobei es dann freilich nur eine Frage der inneren Konsequenz bleibt, wann das umgebende Nichts zu einer dämonischen Wirklichkeit, zum Verzweiflung erzeugenden Gespenst des verdrängten Gottes wird.»4

Abgesehen davon, dass es auch zu einer willentlichen Steigerung des unmittelbaren Daseinsgefühls kommen kann, skizziert dieses Denken den immer schon verlorengegangenen Wettlauf mit dem Tod (als dem zweiten Nichts). Es skizziert aber auch den Willen, sich nicht (mehr) mit einem Unsichtbaren zu betrügen; Harmonisierungen sind unmöglich und unredlich. Das «Fragwürdige» darf nicht mehr verstellt werden; das Pathos dieser Generation spricht vom «Wahrhaftigen». So Heidegger 1919: «Und wo ein Persönlichkeitsleben mit innerer Wahrhaftigkeit auf dem Wege der Vollendung ist – und wir sind doch wesenhaft unterwegs – da gehört ihm notwendig zu die Herbheit des Gespaltenseins, der Rückfälle und neuen Anläufe, das unaustragbare Leiden am Problematischen und Fragwürdigen – das sind Wesensstücke, zugehörig dem Ethos des wahrhaft wissenschaftlichen und geistigen Menschen.»5

Zu einem Phänomen der Grammatik des Nichts wird auch der westlich transformierte Buddhismus. Es kann offenbleiben, ob der historische Buddha selbst den Trug, die Illusion der Welt nur als negativen, weil nicht anders möglichen Ausdruck einer gänzlichen Andersartigkeit der Gottheit formulierte. Jedenfalls nahm die buddhistische These von der scheinhaften Welt und der illusionären Existenz in Verbindung mit einer abendländischen Skepsis deren «Müdigkeit und Sinnlosigkeitserfahrung» an. «Da wird das Erlebnis des Scheins zur Basis einer verzweifelten Autonomie des in seiner Sinnlosigkeit versiegelten Daseins.»6

Auch namhafte Vertreter der jetzigen Spätmoderne schlagen anstelle der «Signaturen» der Schöpfung andere postsäkulare Entzifferungen des Sichtbaren vor; dabei wird die biblische Sicht als eine zwar psychohygienisch verständliche, aber projektive Überhöhung zur Seite getan.7 Noch schwieriger als die Spur des Schöpfers in der Schöpfung zu denken (und zu glauben) ist die Sichtbarkeit des Vaters im Fleisch des Sohnes.

Dem arbeitet jedoch die Phänomenologie entgegen, die fruchtbarste unter den philosophischen Traditionen des letzten Jahrhunderts. Sie ist eine Lehre des Sehens, seiner Bedingungen, seiner Schulung, seiner Hindernisse. Sie ist Anthropologie, die der Ontologie begegnet und diese Begegnung ausreizt. Ihr Grundgedanke ist erkenntnistheoretisch, wird aber gerade für die Theologie fruchtbar: Wie erkennt man etwas? So einfach dieser Satz sich ausnimmt, so viel Gewicht hat er im Rücken, vor allem das Gewicht Kantischer Vernunftkritik, das die Phänomenologie aber «überholt». Denn Kant hatte unhintergehbar die apriorischen Bedingungen menschlichen Erkennens aufgewiesen, die nicht ausgehebelt werden können, und damit eine Skepsis in die Wahrnehmung von Wirklichkeit gesetzt. Diese Skepsis bleibt, sie ist sogar notwendig, und dennoch nimmt sie Maß an der Wirklichkeit. Denn in weiterführender Betonung lautet der entscheidende Satz der Phänomenologie: Wie erkennt man etwas? Der Bezug auf etwas, auf die Sache selbst, ist das Maß des Sehens und gibt Auskunft, ob wirklich gesehen wird – auch im Rahmen bedingten Sehens ist das wirkliche Etwas unabdingbar.

So fragt Phänomenologie gegen alle Dekonstruktionen: Wird im Sichtbaren ein Unsichtbares wahrgenommen – wie es die Beiträge von Jean-Luc Marion und Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz versuchen? Mehrfache Wahrnehmung geschieht schon in der realen Wirklichkeit, einfach deswegen, weil das Sehen immer «ergänzt» wird. Die Sicht auf die Vorderseite eines Dings ergänzt unwillkürlich die Rückseite, wie Husserl zeigen konnte. Mehr aber noch gilt: Ein Gegenstand wird nicht isoliert für sich wahrgenommen, sondern in Sinn-Zusammenhängen. Auch wenn sie unsichtbar bleiben, sind sie sinnkonstitutiv. Raum und Zeit gehören zu diesen «Formatierungen», ebenso Herkunft, Nutzen, Folgen, Wirkung, auch in der Gestalt von Fragen: wozu, woher, woraufhin? In einem technischen Gegenstand wird dessen menschlicher Urheber «mitgesehen». Ein solches mehrbödiges Sehen kann oberflächlich bleiben, es kann aber deutlich vertieft werden – bis zu einer unerhörten «Sättigung» (Jean-Luc Marion). Fundierend ergibt sich die phänomenologische Aussage: Die «Gegebenheiten» haben sich nicht selbst ins Dasein gesetzt, sie sind «gegeben», denn «es gibt» sie. Das legt die Frage nach dem Geber nahe; aber selbst wenn sie vermieden wird, lässt sich phänomenologisch behaupten: «An ihrem unmittelbaren Dasein gemessen sind alle Dinge überwertig; jedes sagt mehr, als es ist. Jedes weist auf ein Etwas zurück, das es selbst nicht ist, das aber als Ursprung, Ausgang, letzter Sinn in die Wirklichkeit des Dinges mit hineingehört und ohne das dieses Ding dünn, sinn-arm, umlohnend wäre.»8

Diese Überwertigkeit wird ausdrücklich in der Heiligen Schrift, wie Marions Beitrag ausführt. Schöpfer, Schöpfung, Erlösung im Fleisch sind beziehungsreiche Größen. Diese Durchsicht kulminiert in Christus: «Wir haben seine Herrlichkeit gesehen» (Joh 1,14). Er selbst ist nach den Zeugnissen der Evangelisten die reine Einlösung des Schöpfungsberichtes, in dem die unversehrte Schöpfung wieder aufleuchtet; er selbst ist zugleich das wahre Bild des unsichtbaren Ursprungs. «Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat.» (Joh 12,45). In immer anderen Wendungen wird diese Vater-Sohn-«Durchsichtigkeit» einzufangen versucht, wie Thomas Söding in der Exegese des Johannes-Evangeliums zeigtNotker Baumann arbeitet in der Schriftauslegung des Augustinus heraus, dass diese Transparenz bereits durchgängig im Alten Testament zu finden sei. Dabei ist allerdings der Einspruch zu beachten, das Alte Testament betone erstrangig die Hörbarkeit, nicht die Sichtbarkeit Gottes. Christoph Dohmen kann diesen Einspruch aber entkräften: Das Hören (und spätere Lesen) macht die objektive, zeugnisbetonte Weitergabe des Wortes Gottes deutlich, aber das sehende Subjekt - auch Mose - macht das vorgängige Empfangen der Offenbarung deutlich.

Zusammengefasst und in viele Entwicklungen geöffnet ist damit auch die ästhetische Frage, ob man Christus überhaupt abbilden dürfe. Eckhard Nordhofen stellt dazu die Theologie der Ikone als gedanklich überzeugende Lösung vor. Schon Irenäus von Lyon nannte die Kunst das Abbilden eines Bildes, das Nachschaffen des göttlichen Schaffens – und es sei gerade durch die Fleischwerdung Jesu erlaubt, ja herausgefordert. In einem Kondakion des VII. Ökumenischen Konzils heißt es autoritativ: «Der aus dem Vater unaussprechlich hervorstrahlende Sohn wurde in zwei Naturen aus einer Frau geboren: und wenn wir auf Ihn schauen, verwerfen wir nicht die Darstellung Seiner Gestalt, sondern zeichnen sie voll Gottesfurcht und verehren sie getreulich; und deswegen küsst die Kirche, die am wahren Glauben festhält, das Bild der Menschwerdung Christi.» Auch der Mönchsvater Theodor von Studion (+ 826) sieht die Mitte des Glaubensbekenntnisses in der Aussage, dass die «unumschreibbare» göttliche Natur im Sohn «umschreibbar» geworden ist. Damit verhüllt sein Fleisch nicht die Göttlichkeit, sondern offenbart sie geradezu. «Jesus hat Gott wirklich ausgelegt, ihn herausgeführt aus sich selbst, oder, wie es der erste Johannesbrief noch drastischer sagt: ihn unserem Anschauen und unserem Betasten freigegeben, so dass der, den niemand gesehen hat, nun unserem geschichtlichen Berühren offensteht.»9

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