Digitalisierung und Kirche

Die Digitalisierung gehört zu den viel diskutierten Themen der Gegenwart – nicht zuletzt nach der Corona-Pandemie. Kaum ein Lebensbereich ist von ihr nicht betroffen. Bis in den Alltag hinein wirkt sie sich aus: in der Politik, in den Krankenhäusern und Pflegeheimen, in den Schulen, in der Verwaltung, in der Arbeitswelt, in den Medien, aber auch in vielfältiger Weise im Privaten. Oft bemerkt man gar nicht, wie sehr die Welt bereits digitalisiert ist. Fluch und Segen liegen dabei nahe beieinander. Die Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten politischer und gesellschaftlicher Teilhabe und kann eine Vertiefung der Demokratie mit sich bringen. Doch zugleich kann die politische Meinungsbildung in den sozialen Medien auch zu zuvor kaum bekannten Polarisierungen und Verschärfungen führen. Im Gesundheitswesen kann die Digitalisierung dabei helfen, dass ältere Menschen länger ein selbstbestimmtes Leben führen. Aber sie kann auch dazu führen, dass immer mehr menschliche Probleme auf rein technisch zu bewältigende Herausforderungen reduziert werden. Pflegeroboter ersetzen nur sehr begrenzt menschliche Nähe. Digitalisierung erschließt neue Freiheitsräume – und ist zugleich mit neuen Unfreiheiten und Abhängigkeiten verbunden. Die anfängliche Euphorie über die Möglichkeiten einer zunehmend digitalisierten Welt hat sich daher verloren und ist – nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Macht einiger Großkonzerne – einer differenzierteren Einschätzung gewichen.

Doch beginnen wir erst langsam genau zu verstehen, was in den letzten Jahren geschehen ist und wie sich das menschliche Leben auf vielen Ebenen schon verändert hat und weiter verändert. Mit der Digitalisierung ist, so zeigt sich bereits, nicht einfach nur eine Erweiterung unserer technischen Möglichkeiten verbunden. Auch das Verständnis von Wirklichkeit verändert sich in einer radikalen Weise. Insofern ist die Digitalisierung vermutlich am ehesten mit den großen Medienrevolutionen der Menschheitsgeschichte zu vergleichen, die ebenfalls nicht nur Medienrevolutionen waren, sondern zu revolutionären Veränderungen auf verschiedenen Ebenen führten: mit der Erfindung der Schrift und des Buchdrucks. Kein Wunder, dass auch das Christentum und die katholische Kirche sich im Zeichen der Digitalisierung verändern. Welche Veränderungen dies sind und was die Digitalisierung aus christlicher Sicht bedeutet, erläutern die Beiträge dieses Heftes der communio.

In einem grundlegenden Artikel untersucht Johannes Hoff, was es bedeutet, im "postdigitalen Zeitalter" Christ zu sein. Er schildert in einer eindrücklichen Erinnerung an die durch den Buchdruck herbeigeführte Medienrevolution und die Zeit der Reformation eindrücklich den revolutionären Charakter der derzeitigen digitalen Transformation, ihre Auswirkungen auf das Verständnis sakramentaler Wirklichkeit und die Herausforderungen, die heute damit verbunden sind, auf die epochale Veränderung unserer Lebenswelt und das Ende des vom Buchdruck bestimmten Zeitalters eine angemessene Antwort zu finden und der christlichen Hoffnung auf ein Leben in Fülle in gewandelten Zeiten Ausdruck zu verleihen. Stephan Plettscher zeigt in seinem Beitrag überzeugend, welche Bedeutung die christliche Botschaft als Botschaft der Freiheit und Befreiung in einem digitalen Zeitalter haben kann – und haben sollte. Im Zeitalter des Digitalen steht die Kirche nämlich vor einer neuen und zugleich alten Aufgabe: in Zeiten der digitalen Freiheitsbeschränkungen daran zu erinnern, dass Gott die Freiheit des Menschen will.

Ein Schwerpunkt dieses Heftes liegt auf Fragen der Liturgie. Zwar gab es schon vor 2020 digitale Gebets- und Gottesdienstformate. Doch hat gerade die Corona-Pandemie eine enorme Zunahme solcher Formate notwendig gemacht – und bereits zu einer intensiven Diskussion über die Möglichkeiten und die Grenzen digitaler Gottesdienste geführt. Was bedeuten Präsenz und Nähe im Vorzeichen des Digitalen? Was lässt sich digital nicht vermitteln? Wo liegen Grenzen der Digitalisierung von Gottesdiensten? Aber auch: Welche neuen Möglichkeiten von Gottesdienst- und Gebetsgemeinschaft sind im digitalen Zeitalter möglich? Der protestantische Theologe Alexander Deeg führt in die Diskussion digitaler Abendmahlsfeiern in der evangelischen Kirche ein. Vor dem Hintergrund empirischer Beobachtungen plädiert er nachdrücklich dafür, das reformatorische Bewusstsein des Zusammenhangs von Wort und Sakrament im Blick zu behalten und in diesem Zusammenhang auch nach den Möglichkeiten und Grenzen der neuen Medien zu fragen. Anhand der Leitbegriffe Gemeinschaft und Gabe entwickelt er dabei einen Zugang zur Feier des Abendmahls in sowohl digitaler als auch analoger Form. Die digitale Feier ist für ihn auch mit der Chance einer Wiederentdeckung des Abendmahls verbunden. Benedikt Kranemann nähert sich aus katholischer Perspektive den Fragen nach einer Liturgie im digitalen Raum und entwickelt fünf wichtige Thesen für die zukünftige Diskussion der Feier der Eucharistie im digitalen Raum als einer Liturgie für Ausnahmesituationen. Deutlich zeigt sich in diesen Thesen, dass die Debatte über die Praxis und das Verständnis digitaler Eucharistiefeiern allererst am Anfang steht. Elias Haslwanter erinnert in seinem Beitrag «Vom Radio in das Metaversum» detailreich an die frühen Debatten über die Radio- und Fernsehübertragungen von Gottesdiensten, in deren Verlauf auch intensiv über Formen medial vermittelter Teilnahme diskutiert wurde. Viele der gegenwärtigen dogmatischen und liturgiewissenschaftlichen Debatten zeigen sich aus dieser historischen Perspektive, die daran erinnert, dass Liturgie ohne Medien nicht möglich ist, als gar nicht so neu. Das ist angesichts der anstehenden Aufgaben beruhigend. Welche Bedeutung die Corona-Pandemie für das liturgische Leben der Kirche gehabt hat, wie darüber theologisch zu denken sei und worin zentrale Unterschiede in diesen Fragen zwischen den USA und den deutschsprachigen Ländern liegen, zeigt das Gespräch, das Tobias Mayer mit der Liturgiewissenschaftlerin Teresa Berger geführt hat. Berger hatte sich bereits vor der Pandemie mit der Herausforderung der Digitalisierung für die Liturgie wissenschaftlich beschäftigt. Für sie ist die Frage, ob und wie eine wirkliche Gottesbegegnung gelingt, von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, die Möglichkeiten und Grenzen technischer Neuerungen einzuschätzen.

Aus dem aktuellen – und traurigen – Anlass des Ukraine-Krieges erläutert Franz-Josef Bormann in den «Perspektiven» fundamentale Grundkoordinaten eines katholischen Nachdenkens über Krieg und Frieden wie u. a. die Lehre vom «gerechten Krieg», von einem «ordo caritatis» oder von der «cooperatio ad malum», verdeutlicht die Aufgabe der Kirche, die «wehrhafte Demokratie» zu unterstützen, und ruft die Notwendigkeit, den ökumenischen Dialog mit den orthodoxen Kirchen weiter zu führen und auszubauen, ins Bewusstsein. Zudem komme es darauf an, so sein Plädoyer, auch die globalen Kontexte zu thematisieren, innerhalb derer einzelne, regional (noch) begrenzte Kriege zu verstehen seien. Im Gespräch mit Jan-Heiner Tück erläutert Christoph Kardinal Schönborn vor dem Hintergrund reicher eigener Erfahrungen sowie theologischer Grundsatzüberlegungen die Chancen und Risiken von Synodalität für die katholische Kirche. Dabei geht er ausführlich auf den Synodalen Weg und den Synodalen Prozess der Weltkirche ein und betont die notwendige Hinordung auf Christus im Ringen der Kirche um Wahrheit und einen Weg der Zukunft wie auch den trinitarischen Ursprung und eine schöpfungstheologische Dimension der Synodalität. Josef Außermaier stellt den französischen Ordenspriester Paul Couturier, den, so Papst Benedikt XVI., «Vater des geistlichen Ökumenismus», und seinen Einfluss auf das II. Vatikanische Konzil vor und zeigt seine bleibende Bedeutung. In seiner Meditation «Mein Leib für Euch gegeben» führt Roman A. Siebenrock mit Blick auf das Fronleichnamsfest in die Geheimnisse der Eucharistie und der eucharistischen Gegenwart Christi ein und betont dabei die Aufgabe für das christliche Leben, der Gabe und Hingabe Gottes in der Eucharistie zu entsprechen. Abschließend stellt Helmuth Kiesel in den «Verdichtungen» Gottfried Benns Gedicht «Verlorenes Ich» als Fronleichnamsgedicht und Jan-Heiner Tück eine neue Ausgabe und Übersetzung von Matteo Riccis Gedanken Über die Freundschaft vor. Vielleicht finden sich in diesen beiden Texten implizit zwei Antworten auf die Herausforderung der Digitalisierung: die Erinnerung an die Bedeutung realer Gegenwart in der Eucharistie und in der personalen Begegnung und somit die Erinnerung an die theologischen und anthropologischen Grenzen der Digitalisierung angesichts der Wirklichkeit in ihrer (Vor-)Gegebenheit.

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