Sakramentaler Realismus nach dem Ende des GutenbergzeitaltersChristsein in einer postdigitalen Welt

Warum wir wieder lernen müssen, zwischen Idolen und sakramentalen Objekten zu unterscheiden.

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Sacramental Realism in the Age after Gutenberg: Christianity in a Post-Digital Age. In the last centuries our modern world oscillated between the belief in disenchanted strategies of bureaucratic control and surveillance, and the celebration of iconoclastic ruptures that were supposed to preserve our sense of freedom and dignity. Yet, the equilibrium between these poles has fallen out of balance after the turn of the millennium. While the obsession with control has released concerted efforts to replace our supposedly irrational intelligence by the ‹artificial intelligence› of digital technologies, the implementation of ICT technologies in our everyday life has undermined the iconoclastic conviction that artefacts are merely tools. Our smartphones have a ‹magic life› on their own – be it that they afford a life that we appreciate, or that they nudge us into a life that we abhor. The following essay will discuss the question to what extent the basic assumptions of the confessionalized religions of the post-Reformation era distract us from this challenge.1

Als René Descartes in seinen 1644 publizierten Principia erklärte, er habe «die Erde und sogar die gesamte sichtbare Welt als Maschine beschrieben»,2 formalisierte er die Leitlinien eines Weltbildes, dass uns bis auf den heutigen Tag in ungläubigem Staunen erstarren lässt. Selbst in unserem ethischen Urteil vertrauen wir kritiklos auf automatisierte Verfahren, Schemata und Regeln der Verhaltensnormierung, die unsere Leben ‹effizienter› oder ‹gerechter› zu organisieren erlauben. Als kultivierte Menschen wissen wir zwar, dass es unhöflich und sogar ungerecht ist, sich im Umgang mit anderen Menschen von mechanischen Denkschablonen leiten zu lassen. Doch das hält uns heute weniger denn je davon ab, formalistische oder algorithmische Entscheidungsverfahren als ‹objektiver›, ‹unvoreingenommener› oder ‹gerechter› zu erachten als die durch Emotionen und Leidenschaften ‹verunreinigten› Entscheidungen menschlicher Verantwortungsträger.

In der klassischen Moderne wurden die entwürdigenden Züge dieses mechanistischen Weltbildes durch ikonoklastische Gegenbewegungen ausbalanciert. Reformatoren, Revolutionäre, Künstler, Avantgardisten und Freidenker arbeiteten sich an der Aufgabe ab, das ‹Andere der Vernunft› in Erinnerung zu rufen, das unser Leben dem Zugriff geistloser Steuerungsmechanismen entreißt. Und so schwankte unser Denken zwischen der hörigen Unterwerfung unter vermeintlich professionelle Strategien der Überwachung und Kontrolle und der Feier futuristischer Differenzdenkerinnen und -denker.

Statt in unreglementierten Träumen und Tagträumen das Material zu entdecken, aus dem kollektive und individuelle Zukunftsprojekte entstehen, begannen immer mehr Menschen «24 Stunden 7 Tage die Woche mit kompetitiven Postings» zu verbringen, «deren informationelle Abfallprodukte anschließend an Werbeplattformen, Forschungslaboratorien zum Trainieren ‹künstlicher Intelligenzen›, oder Strategieabteilungen politischer Parteien verkauft werden.»

Im Gefolge der digitalen Transformation wurde dieses duale Koordinatensystem aus der Balance geworfen. Statt in unreglementierten Träumen und Tagträumen das Material zu entdecken, aus dem kollektive und individuelle Zukunftsprojekte entstehen, begannen immer mehr Menschen «24 Stunden 7 Tage die Woche mit kompetitiven Postings» zu verbringen, «deren informationelle Abfallprodukte anschließend an Werbeplattformen, Forschungslaboratorien zum Trainieren ‹künstlicher Intelligenzen›, oder Strategieabteilungen politischer Parteien verkauft werden.»3 Das moderne Staunen gegenüber mechanischen Strategien der Kontrolle und Überwachung verwandelte sich in den alternativlosen Kniefall vor einem technischen «Lebensmilieu»4, in dem man von nun an systemkonform lebte, sich bewegte und (so gut als eben möglich) fortexistierte.

Um unsere Unfähigkeit zu verstehen, auf diesen Epochenumbruch angemessen zu reagieren, ist es unabdingbar, einen Blick auf seine Vorgeschichte zu werfen; lässt sich die Genealogie des ikonoklastischen Zweigs moderner Weltbilder doch bis ins Zeitalter der Reformation zurückverfolgen. Die seit dem 7. Ökumenischen Konzil, dem Zweiten Konzil von Nicäa (787), kanonische Einsicht, dass leibfeindlich-ikonoklastische Praktiken mit dem aufrichtigen Bekenntnis zur Fleischwerdung Gottes unvereinbar sind, war im westlichen Christentum niemals tief verankert.5 Doch nicht bei allen Reformatoren ging die Überzeugung, dass der Mensch unmittelbar zu Gott und der theophanische Glanz sakramentaler Medien zur Aktualisierung des Glaubens verzichtbar sei, mit offenen ikonoklastischen Gewaltakten einher. Im Gefolge von Francis Bacon kam es dann aber zu einer beispiellosen Ausweitung des frühmodernen Programms, alles, was Menschen lieb und heilig ist, unter den Hammer idolatriekritischer Reformprogramme zu zerren. Nur das sich immer schärfer herauskristallisierende, neuzeitliche Verständnis von Freiheit und Autonomie blieb von dieser Revolte unberührt. Und das hatte, wie James Simpson gezeigt hat, einen formalen Grund.6 So sehr man sich auch darum bemühte, das moderne Freiheitskonzept in sittlich qualifizierte, zivilgesellschaftliche Lebensformen einzubetten: Der harte Kern dieses Konzepts war nur ex negativo definierbar – als Abwesenheit von Bindungen, welcher Art auch immer. Und so erschöpfte sich die Sorge um das gemeinsame Leben schlussendlich darin, Bedingungen herzustellen, die jeder oder jedem erlaubten, seine subjektiven Wert- und User-Präferenzen, unter Respektierung der Interessen und Präferenzen anderer, im Namen autonomer Wahlentscheidungen zu verwirklichen.

Dieser zugleich bedeutungsleere und erhabene Zug moderner Fortschrittsnarrative prädestinierte das moderne Freiheitskonzept dazu, eine paradoxe Variante idolatrischer Alltagspraktiken zu begründen: das Verlangen, sein Herz an Idole zu binden, die die Freiheit von allen Bindungen symbolisieren.7 Doch es wäre uns wenig geholfen, würde man sich darauf beschränken, die nachreformatorische Fetischisierung formalistisch-entleerter Formen negativer Freiheit ihrer Selbstwidersprüchlichkeit zu überführen. Viel dringlicher ist aus heutiger Sicht die Frage, wie man Menschen dazu anleitet, zwischen dämonischen Objekten, Artefakten und Fiktionen zu unterscheiden, die unser Leben aus den Fugen geraten lassen, und eudaimonischen Wertträgern, die mit unserem natürlichen Verlangen nach einem guten Leben im Einklang stehen.

Der moderne Glaube, dass Dinge keine Macht über Menschen haben, hat diese Gabe verkümmern lassen. Immanuel Kants Überzeugung, dass subjektive Erkenntnis- und Willensakte, zumindest im Idealfall, spontane Handlungen eines autonomen Subjekts seien, das sich selbst unter Kontrolle hat, brachte diesen Glauben paradigmatisch auf den Begriff. Dass er hierbei einen abstraktiven Fehlschluss beging, hat die jüngere technikphilosophische Diskussion mit überwältigender Präzision gezeigt.8 Doch im Prinzip war dieses Problem bereits den ersten Schülern des Begründers bürgerlich-kritischen Denkens bekannt. Von der Frühromantik, über Karl Marx und Sigmund Freud bis hin zur kritischen Theorie der Frankfurter Schule füllte das Wissen um den aporetischen Charakter des modernen Autonomieideals die Bibliotheken aufgeklärten Denkens. Der blinde Fleck dieser Tradition lag an einem anderen Punkt: Namentlich darin, dass man die Not in eine Tugend verkehrte, und so das Oszillieren zwischen entmystifizierender Bürokratisierung und ikonoklastischer Subversion in Stein meißelte. Statt zu neuen Ufern aufzubrechen, verweilte man im Negativen, indem man – von Adorno bis hin zu Peter Sloterdijk, Slavoj Zizek und Giorgio Agamben – eine kulturkritische Verdachtshermeneutik kultivierte, die den neoliberalen Status quo der Spätmoderne genau in dem Maße zementierte, wie sie ihn nach Feierabend ‹subvertierte› oder selbstironisch ‹dekonstruierte›.

Dass auch die Sakralisierung subversiver oder dekonstruktiver Brüche zu einem Fetisch herabsinken kann, wurde vielen erst bewusst, als Islamisten, Rechtspopulisten und Querdenker die freiheitsgeschichtlichen Errungenschaften moderner Zivilgesellschaft für sich zu reklamieren begannen. Die Entdeckung, dass «dem kritischen Denken die Luft ausgegangen war»9 wurde aber zunächst durch futuristische Neuaufbrüche überdeckt, die die Heraufkunft einer Netzwerkgesellschaft autonomer Schwarmintelligenzen beschworen. Der «Arabische Frühling», die grüne «Twitter-Revolution» im Iran, Massenproteste in Spanien und im Nahen Osten, Occupy, Anonymous und Wikileaks inspirierten Kommentatoren und Journalisten. Und so träumte man den Traum, dass wir uns künftig «im Internet wie Spinnen bewegen würden, die das soziale Feld um sich herum neu weben und neue Formen von Demokratie, Mietbestimmung, Offenheit und globaler Freiheit entwickeln.»10 Erst in der Trump-Ära ist dieser Traum geplatzt: Er wich dem Eindruck, dass wir uns in «Fliegen» verwandelt haben, die gefangen sind in einem fremdgesteuerten digitalen Netz.

Sakramentalität, Technologie und Idolatrie

Nichts demonstriert den blinden Fleck dieser veränderten Ausgangslage des 21. Jahrhunderts anschaulicher als die Einführung des iPhones durch Apple-Gründer Steve Jobs am 9. Januar 2007. Anhänger der Firma Nokia hatten damals die Nachricht verbreitet, das Telefon der Firma Apple Inc. sei nicht zukunftsfähig. Diese Prognose war nicht unbegründet: Wenn Jobs Endgerät herunterfiel war es kaputt, seine Funktionalität war mittelmäßig, man musste es unablässig aufladen usw. Doch Jobs Revolution fegte binnen kürzester Zeit alle Konkurrenzprodukte vom Markt, die sich nicht am Vorbild seines neuen Endgeräts orientierten.

Wirtschaftsinformatikerinnen bezeichnen diesen Epochenumbruch heute als Werterevolution in der IT-Innovation.11 Seither sind technische Artefakte nicht mehr wertneutral – sie sind sogar erotisch. Jobs präsentierte der Welt Musik zum Anfassen: «You can just touch your music! It’s so cool!» Auf dem einschlägigen Video-Clip12 sieht man neben dem Apple Gründer auf einem übergroßen iPhone eine Projektion des Beatles-Albums Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Nachdem Jobs das Cover berührt hat, erklingt die Melodie: «Lend me your ears and I’ll sing you a song … With a little help from my friends.» Die Wahl dieses Songs war symbolträchtig. Unser kleiner Freund ist heute jederzeit in greifbarer Nähe – allzeit bereit, einsamen Herzen eine tröstende Hilfestellung zu leisten. Seit dieser Zeit braucht man keine ‹kritischen Theorien› mehr, um einzusehen, dass wir alle Fetischisten sind. Und das untergräbt den Anspruch einstiger Eliten, diesen menschlich-allzu-menschlichen Hang durchschaut oder gar einen Weg gefunden zu haben, die Menschheit von magischen Anhänglichkeiten zu befreien.

Aus phänomenologischer Sicht ist das obige Beispiel erhellend. Denn es veranschaulicht ein grundlegendes Merkmal sakraler Objekte: Sie lassen sich nicht auf neutrale Werkzeuge reduzieren, die unseren subjektiven Interessen dienen. Nicht anders als die körperleibliche Präsenz eines Menschen haben sie eine magische Präsenz, die unseren intentionalen Akten eine ungeplante Richtung geben kann. Empirische Forschungsarbeiten unterstreichen diesen phänomenologischen Befund.13 Doch konzentrieren wir uns zunächst auf das prototypische Exempel dieses Phänomens: die körperleibliche Präsenz eines Menschen.

Simone Weil exemplifiziert die magischen Züge dieser Modalität von Präsenz am Beispiel einer Reklametafel: Wir bewegen uns anders, wenn wir für einen Passanten auf der Straße zur Seite treten, als wenn wir einer Reklametafel ausweichen – aus demselben Grund, aus dem «wir ganz anders aufstehen, umhergehen, uns wieder hinsetzen», wenn wir uns alleine in einen Raum aufhalten.14 Der Leib eines Menschen hat den Charakter einer symbolisch aufgeladenen Entität, die die synästhetischen Dimensionen unseres Erlebens affiziert. Ich bin in der Lage, zu «hören» und zu «berühren», was ich sehe – zum Beispiel, wenn mich ein «sprechender» Blick «berührt», selbst wenn ich aus der Ferne in ein sprachloses Gesicht blicke. Als gläubige Anhänger der mechanistischen Metaphysik des 17. Jahrhunderts sind wir geneigt, diese Gabe auf ein ästhetisches Epiphänomen zu reduzieren. Doch die Ausdrucksdimensionen wahrnehmbarer Objekte sind ihrer Existenz nicht äußerlich.15 Ein aufrichtiges Lächeln oder Stirnrunzeln, das zu mir spricht, ist kein akzidentelles Merkmal des dazugehörigen Gesichts; es gibt sich mir zu verstehen als das, was ein wirkliches Lächeln von einem vorgetäuschten oder eingebildeten Lächeln unterscheidet. Und dieses verstehende Sehen ist, wie bereits Max Scheler erkannte, eine «ebenso originäre Quelle von Tatsachen und Anschauungsgegebenheiten wie ‹Wahrnehmen›.»16

Meine responsive Haltung zu symbolisch aufgeladenen Objekten ist demzufolge durch ihre wertesaturierte, leibliche Präsenz motiviert. Das schließt zwar nicht aus, dass wir diese Haltung unterdrücken. Der Augenarzt, der das Auge seines Patienten untersucht, sieht nichts anderes als die «empirischen» Merkmale eines toten Auges; der objektivierende Blick eines Gynäkologen nichts anderes als die Genitalien einer Leiche – schließlich sind moderne Mediziner trainiert, menschliche Körper als Leichen wahrzunehmen. Diese pragmatisch nützliche Beobachterperspektive ist aber das Ergebnis eines künstlichen Trainingsprogramms. Gestützt auf Grenzerfahrungen, in denen wir körperleibliche Resonanzen unterdrücken und einen Blick von Nirgendwo auf unser In-der-Welt-Sein entwickeln, lässt sie ein Randphänomen in den Rang einer epistemischen Einstellung aufrücken.

Moderne Gesellschaften tendieren dazu, Rand- und Grenzphänomene zu naturalisieren. Vom Kriegszustand Thomas Hobbes’, über den radikalen Zweifel Descartes’, bis hin zur universalen Gerichtsverhandlung Immanuel Kants, liebt man es, den Ausnahmezustand als Normalfall und den Normalfall als Ausnahme zu behandeln. Vormoderne Philosophen wie Thomas von Aquin oder Nikolaus von Kues hätten das mit Befremden zur Kenntnis genommen.

Das ist, für sich genommen, unproblematisch. Moderne Gesellschaften tendieren aber dazu, Rand- und Grenzphänomene zu naturalisieren. Vom Kriegszustand Thomas Hobbes’, über den radikalen Zweifel Descartes’, bis hin zur universalen Gerichtsverhandlung Immanuel Kants, liebt man es, den Ausnahmezustand als Normalfall und den Normalfall als Ausnahme zu behandeln. Vormoderne Philosophen wie Thomas von Aquin oder Nikolaus von Kues hätten das mit Befremden zur Kenntnis genommen. Weil ihr Denken der Versuchung widerstand, von unserer gelebten Erfahrung ohne triftigen Grund zu abstrahieren, gingen sie selbstverständlich davon aus, dass unsere synästhetische Gabe, sprechende Dinge zu sehen, oder sich durch Unberührbares berühren zu lassen, als anthropologisch fundamental einzustufen ist.17 In Anlehnung an Aristoteles nannten sie den hierfür grundlegenden synästhetischen Sinn sensus communis. Als innerer Berührungssinn garantiert dieser Sinn nicht nur die vorbegriffliche Harmonisierung verschiedener Sinnesmodalitäten; er verhindert auch, dass wir die Tuchfühlung zur Realität verlieren. Die analytische Kompartimentalisierung unserer Sinneswahrnehmung in auditive, visuelle, taktile, olfaktorische oder gustatorische Sinnesqualitäten ist demgegenüber sekundär.

Das war aus Sicht der jüngeren neurobiologischen Forschung korrekt.18 Als eine Art poetischer «Tastsinn» harmonisiert der sensus communis das Zusammenspiel unserer fünf Sinne, indem er Konkordanzen zwischen ihren charakteristischen Merkmalen erschließt. Doch dieses Konkordanzphänomen vollzieht sich nicht auf einer einsamen Insel. So ist z. B. meine Gabe, mich von «sprechenden» Gesichtern «berühren» zu lassen, von vornherein mit meiner Gabe verschränkt, meine Wahrnehmungen mit anderen Menschen zu teilen: kein sensus communis ohne Gemeinsinn. Es ist kein Zufall, dass sich der englische Ausdruck common sense vom lateinischen Wort sensus communis ableitet.

Als Kinder des Industriezeitalters sind wir geneigt, Dieselmotoren als wertneutrale Mittel für äußerliche Zwecke zu behandeln. Doch in ihrer Realpräsenz manifestiert sich, nach Jones, immer auch das, was vormoderne Denker wie Thomas von Aquin proprotio (Wohlproportioniertheit), integritas (Integrität) und splendor (Glanz) nannten. Der Dieselmotor «schenkt sich dem Betrachter in einem «Überfluss an Präsenz».

Was das für unseren Umgang mit Artefakten bedeutet, zeigt das obige Zitat von Steve Jobs: «You can just touch your music! It’s so cool!» Jobs war der Sohn eines Automechanikers und von der Idee besessen, selbst den unsichtbaren Teilen seiner Maschinen eine kompromisslos perfekte Formgestalt zu geben.19 Das erlaubt uns besser zu verstehen, aus welchen Quellen sich seiner Werterevolution speiste. Der britische Dichter, Maler und Thomist David Jones (1895 –1974) hatte diese Quelle bereits 1959 im Blick, als er das Paradebeispiel für ein modernes sakramentales Objekt unter der Motorhaube eines Kraftfahrzeugs entdeckte – in der wohlproportionierten Integrität eines glänzenden Dieselmotors.20

Als Kinder des Industriezeitalters sind wir geneigt, Dieselmotoren als wertneutrale Mittel für äußerliche Zwecke zu behandeln. Doch in ihrer Realpräsenz manifestiert sich, nach Jones, immer auch das, was vormoderne Denker wie Thomas von Aquin proprotio (Wohlproportioniertheit), integritas (Integrität) und splendor (Glanz) nannten. Der Dieselmotor «schenkt sich dem Betrachter in einem «Überfluss an Präsenz».21 Natürlich können technische Artefakte den wohlproportionierten Glanz genuiner Vollkommenheit auch vortäuschen. Doch in diesem Fall tendieren wir dazu, sie als austauschbare Machwerke zu behandeln, die ihren Mangel an Realität verschleiern. Das unterscheidet sie von dem, was man im Englischen ‹the real thing› nennt.

Die Bedeutung von Steve Jobs Werterevolution liegt in diesem Punkt: Er sah als erster, dass selbst Träger virtueller Realitäten sich als ‹reale Dinge› in eine Welt einfügen können, die sich dem Benutzer durch einen Überfluss an Präsenz präsentieren. Oder negativ formuliert: Er erkannte, dass auch digitale Artefakte einen irrealen Charakter haben können – und zwar nicht deshalb, weil sie das Potential haben, uns vorübergehend in virtuelle Realitäten zu versetzen, sondern weil sie unter einem Mangel an Integrität leiden.

Das führt mich zum kritischen Punkt meiner kurzen Einführung in die Phänomenologie sakramentaler Objekte: Wie unterscheiden man zwischen sakramentalen Objekten und Idolen oder Simulakren? David Jones Gemälde Vexilla Regis22 ruft diesen Unterschied plastisch in Erinnerung.23 Das markanteste Merkmal dieses Gemäldes ist, dass es nicht mit einem Mal überblickt werden kann. Wie bei byzantinischen Ikonen müssen wir Jones‘ gemalten Weltenbaum lesen, wenn wir den sakralen Dimensionen seiner Präsenz auf die Spur kommen wollen. Damit erinnert es an eine der etymologischen Wurzeln des lateinischen Wortes religio, re-legere, die auf Cicero zurückgeht: Religiöse Individuen sind Menschen, die «achtsam aussuchen», «sammeln», «sorgfältig wählen» (relegere, diligere), und «erwählen» (eligere), um im bedenkenden «Verstehen» (intellegere) einer Sache zur Ruhe zu kommen.24

Nach dieser ersten Wurzel des Wortes religio sind sakrale- und sakramentale Objekte immer in ein offenes Netz von Erzählungen und sozialen Interaktionen eingebettet. Das unterscheidet sie von Simulakren wie der Gamer-Welt in Steven Spielbergs Film Ready Player One – einer Science-Fiction-Version von Mark Zuckerbergs Metaverse: Die Geschichten, die sakramentale Objekte mit realer Bedeutung aufladen, sind immer Teil der analogen Welt, die wir bewohnen – einer Welt mit offenen Horizonten, in der Menschen zusammenkommen, um die unvorhersehbaren Sorgen und Freuden ihres Lebens zu teilen und zu feiern. Im Gegensatz zu fiktionalen Welten, deren Produktdesign sich an vordefinierten Zielvorgaben ausrichtet, ist es niemals möglich, den Horizont unserer analogen Welt unter Kontrolle zu bringen. Ihre zeit-räumlichen Ränder sind unscharf und lassen diejenigen, die sich in ihnen um sakrale Objekte versammeln, als physisch und psychisch verwundbar erscheinen.25

Ich nenne dies ihren dezentrierenden Zug. Nach Jones muss dieser durch einen rezentrierenden Zug ausbalanciert werden, der die Multidimensionalität sakraler Objekte an ein einendes Zentrum zurückbindet. Dieser einheitsstiftende Zug steht im Einklang mit Lactantius (250–325 n. Chr.) zweiter Etymologie des Wortes Religion als re-ligare: religiöse Praktiken erinnern an das Band der Frömmigkeit, durch das Gott den Menschen an sich bindet (ligare).26

Der weise Mensch ist wie ein Künstler, der eine sinnvolle Ordnung entdeckt, wo Banausen nur Chaos und Computer nur probabilistische Muster ausmachen.

Das Verlangen, komplexe Strukturen auf einen einheitsstiftenden Grund kontemplativer Sammlung zurückzubeziehen, erfordert demzufolge weise und umsichtige Menschen, die ein Gespür für noch undefinierte Ziele und Zwecke entwickelt haben. Das ist der Grund, aus dem die Aufgabe, Ordnung in unserer Welt aufzuspüren, nicht Algorithmen oder probabilistischen Kalkulatoren überlassen werden kann. Sapientis est ordinare:27 Der weise Mensch ist wie ein Künstler, der eine sinnvolle Ordnung entdeckt, wo Banausen nur Chaos und Computer nur probabilistische Muster ausmachen. Das Medium dieses Ordnungssinns ist das einsehende Verstehen (intellegere), das im Betrachtenden etwas wieder-aufgehen lässt, das die Welt buchstäblich zum Sprechen bringt. Um mit Rowan Williams zu sprechen: Wir müssen Jones‘ Gemälde «lesen», bis sein Weltenbaum «von der nichtlokalen und doch gänzlich konkreten Gegenwart des Kommens des Wortes Gottes ‹wieder-erleuchtet› (re-lit) wird».28

Das führt uns zum dritten und letzten Merkmal: Sakrale Objekte sind transformativ – sie lehren uns, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Dieser Zug unterscheidet eine Ikone von einem Simulakrum, «das nur das zurückspiegelt, was auf es projiziert wird – wie der schillernde Fetisch des Geldes».29 Ein Simulakrum erschöpft sich in dem, was wir in es hineinlegen. Es ist, biblisch gesprochen, wie Dampf (hevel), der sich verflüchtigt (Dtn 32,21). Moses Begegnung mit dem Feuer des brennenden Dornbusches auf dem «Berg Gottes» (Exodus 3,1) war demgegenüber, nach Jones, ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte sakramentaler Praktiken. Die Begegnung mit einem Feuer, das sich nicht verzehrte, führte den «Sinn des Sinns» in das religiöse Denken und Erleben ein. Denn es lenkte unsere Aufmerksamkeit auf eine Realität, die Kraft ihrer Seinsfülle das Potential hat, uns in unserem innersten Wesen zu verwandeln. Nach Jones hat dieser transfigurative Zug sakramentaler Objekt im letzten Abendmahl Christi seine endgültige Gestalt angenommen: Die «Realpräsenz» des Leibes Christi in der Eucharistie markiert den Punkt, an dem die Ordnung der «Zeichen» (signum) unter der Gestalt (species) eines «realen Dings» (res) mit der unerschöpflichen Fülle des Seins selbst zusammenfällt (Exodus 3,14).

Kehren wir nach dieser knappen Skizze der Phänomenologie sakraler und sakramentaler Objekte zurück zu den IKT (Informations- und Kommunikationstechniken) des 21. Jahrhunderts. Das iPhone löste eine «Wertrevolution» aus, weil ein Artefakt den Markt eroberte, das nicht nur auf subjektive Wertepräferenzen zugeschnitten war, sondern Werte real präsent werden ließ. Jobs Endgerät hatte den Charakter eines symbolisch aufgeladenen Artefakts, das dessen User zu responsiven Interaktionen motivierte, die ihrer reflexiven Kontrolle entglitten und ihren intellektuellen, sozialen und kulturellen Habitus transformierten.

Wir müssen wieder lernen, zwischen idolatrischen Anhänglichkeiten zu unterscheiden, die unser Leben aus den Fugen geraten lassen, und symbolisch gesättigten Objekten, die mit unserem natürlichen Verlangen nach Lebensfülle in Einklang stehen.

Das beantwortet noch nicht die Frage, ob diese Revolution als echter Fortschritt zu werten ist. Ob sie, theologisch gesprochen, unser Sensorium für das Leben in Fülle stärkte, oder uns in eine neue Form der Idolatrie verstrickte, ist heute mehr denn je eine offene Frage. Doch genau darin liegt der kritische Punkt, der uns dazu drängt, die Zeichen der Zeit neu zu lesen: Wir müssen wieder lernen, zwischen idolatrischen Anhänglichkeiten zu unterscheiden, die unser Leben aus den Fugen geraten lassen, und symbolisch gesättigten Objekten, die mit unserem natürlichen Verlangen nach Lebensfülle in Einklang stehen.

Da diese Gabe an unser Sensorium für objektive Wertverhalte gebunden ist, lässt sie sich nicht an Algorithmen delegieren, deren Design sich am Gesetz von Angebot und Nachfrage orientiert. Sofern es uns gelingt, sie zu kultivieren, lässt sie sich aber durchaus wiederverwerten. Wie die Wirtschaftsinformatikerin Sarah Spiekermann gezeigt hat, lässt sich die Gabe weisheitlich geschulter ‹Value-Leads›, zwischen objektiven Wert- und Unwertverhalten zu unterscheiden z. B. in Produktentwicklungserfahren integrieren, die IKT-Konzernen erlauben, bessere Endprodukte zu entwickeln.30 Die vormoderne Tradition hatte demzufolge gute Gründe, sakramentale Praktiken zu kultivieren, die uns zwischen dämonischen und eudaimonischen Objekten zu unterscheiden erlauben. Aus heutiger Sicht ließe sich diese Gabe sogar wirtschaftlich nutzen. Doch die Moderne hat diese Gabe und den in ihr verwurzelten Sinn für objektive Seins- und Wertehierarchien verkümmern lassen.31 Deshalb möchte ich mich im letzten Teil meines Essays auf die Frage konzentrieren, wie es zur modernen Indifferenz gegenüber dem magischen Eigenleben der Dinge kommen konnte.

Gutenbergs Erbe: Zur Genealogie des idolatrischen Ikonoklasmus der Moderne

Nach den Entzauberungsnarrativen der klassischen Moderne, die in der vermeintlichen Überwindung magischen Denkens einen Grundbaustein moderner Freiheitsgeschichte entdecken zu können glaubte, hatte die Reformation den Charakter eines Wendepunkts.32 Doch unser modernes Weltbild war, streng genommen, das Ergebnis einer Serie von Reformen, die sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen lassen.33 Und diese Reformen gingen, wie ich in meinen eigenen Forschungsarbeiten gezeigt habe, nicht immer in dieselbe Richtung. So stützte sich z. B. der Philosoph und spätere Stellvertreter des Papstes, Nikolaus von Kues, im 15. Jahrhundert auf die durch Albert den Großen geprägte Tradition holistischen Denkens, die sowohl mit dem scholastischen Mainstream seiner Zeit als auch mit dem Humanismus der florentinischen Renaissance inkompatibel war.34 Für Cusanus hatte die gesamte Schöpfung einen sakramentalen Zug: Das Unsichtbare ist sichtbar – die Gegenwart des Schöpfers kann in der physisch greifbaren Realität seiner Schöpfung auf nicht-berührende Weise berührt werden. Die davon abweichenden scotistisch und nominalistisch geprägten Traditionen fokussierten demgegenüber auf die unergründliche Macht eines göttlichen Gesetzgebers und beförderten damit ein transaktionales Verständnis von Erlösung: Wenn man sich aufrichtig an die Gesetze des Allmächtigen hielt, konnte man im Gegenzug mit einer gebührenden Entlohnung rechnen.

Luthers Angriffe gegen den Ablasshandel nahmen diese Transaktionslogik ins Visier. Langfristig folgenreicher war jedoch die Tatsache, dass die Konzentration auf göttliche Gebote – wenn auch unbeabsichtigt – eine säkulare Einstellung zu ethischen und politischen Angelegenheiten beförderte, die von Luther nicht infrage gestellt wurde. Charles Taylor macht auf dieses Phänomen aufmerksam, wenn er daran erinnert, dass die meisten spätmittelterlichen Reformatoren dazu tendierten, sich auf Fragen der Disziplin und Moral zu konzentrieren – auf Kosten der Pflege sakramentaler Praktiken und Rituale, sowie der festlichen Dimensionen spätmittelalterlicher Volksfrömmigkeit.35

Die Reformation kann als Gegenreaktion auf diesen moralischen Reduktionismus gedeutet werden, ging aber mit einer antisakramentalen Haltung einher.36 Die Erlösung des Menschen war nicht mehr eine Frage spiritueller und liturgischer Praktiken der Selbsttransformation, sondern «eine Frage des Glaubens an die Barmherzigkeit Gottes, der allein rechtschaffen ist».37 Das war fatal nicht nur, weil es die Tendenz beschleunigte, Common-Sense-basierte Alltagspraktiken auf eine Angelegenheit «entzauberter» pragmatischer Bequemlichkeit zu reduzieren; die Konzentration auf den «Glauben allein» verstärkte auch ein autoritätsfixiertes Glaubensverständnis.

Was das konkret bedeutete, lässt sich an der Transformation spiritueller Alltagspraktiken ablesen: Der Brennpunkt spiritueller Praktiken verlagerte sich konfessionsübergreifend auf autoritätsverbürgende Zeichenkörper wie die Bibel oder die Hostie, die das einheitsstiftende Korrelat religiöser Praktiken der Rückbindung (re-ligare) zu objektivieren erlaubten. Um einen Fachterminus des Psychoanalytikers Jacques Lacan zu gebrauchen: Die Welt drehte sich von nun an um autoritätsverbürgende «Herrensignifikanten».38

Der Lacan-Schüler Michel de Certeau SJ war einer der ersten, der diesen spiritualitätgeschichtlich Bruch systematisch erforschte. An seinem Ausgangspunkt stand die Erfahrung eines Sprachverlusts. In der Vormoderne hatte das göttliche WORT zu den Menschen gesprochen: «Die ‹Moderne› [kommt] dadurch zustande, dass man feststellt, dass dieses WORT nicht mehr vernehmbar ist [ … ]. Die ‹Wahrheit› hängt nicht mehr von der Aufmerksamkeit des Hörers ab [ … ]. Sie ist nun das Resultat einer historischen, kritischen und ökonomischen Arbeit. Sie beruht auf einem Machen-Wollen.»39

Um Certeaus Analyse dieses Sprachverlusts zu verstehen, müssen wir einen Blick auf den Gegenpol zu Re-zentrierungsbewegungen (re-ligare) werfen, die den Menschen auf das WORT ausrichten: auf die dezentrierende Dynamik des re-legere und die hierfür, aus christlicher Sicht, grundlegende Praxis der Schriftlektüre. Im Gefolge des Spätmittelalters hatte sich diese Praxis immer mehr aus ihrer Einbettung in Common-Sense-basierte öffentliche Lektürepraktiken herausgelöst.40 Medientheoretiker wie Walter Ong und Marshall McLuhan stützten sich auf ähnliche Beobachtungen, als sie darauf aufmerksam machten, dass sich das Lesen von Schriften zunehmend dekontextualisierte.41

Exemplarisch für die ältere Lektürepraxis sind illuminierte Handschriften wie das Book of Kells (800) oder der Luttrell-Psalter (1325–35). Moderne Menschen tendieren dazu, Buchmalereien als Dekoration wahrzunehmen. Doch die mühsame Arbeit der Buchillustration und -glossierung war Teil einer subtilen individuellen und kollektiven Gedächtniskunst (ars memorativa).42 Aus diesem Grund war es unmöglich, den Gebrauch heiliger Schriften von kollektiven mündlichen Praktiken der Schriftlektüre zu isolieren. Unter den Vorzeichen imaginativ einprägsamer Bildgebungsverfahren, deren Ausgestaltung sich am Erbe der großen Meister spiritueller und allegorischer Schriftlektüre orientierte, waren sie eingebettet in Praktiken nicht-identischer Wiederholung: Im Einklang mit den Zyklen des Jahreskreises und den unkalkulierbaren Wechselfällen der Zeit, musste ihr Sinn immer wieder neu in Erinnerung gerufen werden. Keine Schrift ohne gedächtnistechnologisch disziplinierte Praktiken der performativen Inszenierung, die ihnen einen Platz im öffentlichen Leben zuwiesen und sie wieder zum Sprechen brachten.

Als die reformatorische Tradition diese Common-Sense-basierte Lesepraxis zugunsten des Sola-Scriptura-Prinzips zurückzudrängen begann, beanspruchte sie, das biblische Bilderverbot zu erfüllen. Doch tatsächlich wurde dadurch nur die Tendenz verstärkt, dass Denken in Bildern zu privatisieren. Dass «die Schrift» immer mehr verstummte, war eine Konsequenz dieser Privatisierungsdynamik: Sie hörte auf zu sprechen, weil sie den Common-Sense-basierten Zug des sensus communis nicht mehr unterstützte. Statt für eine gemeinsame Sache zu stehen, zog sie sich das Denken in Bildern auf die einsamen Inseln narzisstischer Traumwelten zurück.

Im zweiten Kapitel seines Hauptwerks La fable mystique illustriert Certeau diesen epochalen Bruch an einem berühmten kunstgeschichtlichen Beispiel: Hieronymus Boschs Triptychon Der Garten der Lüste (1500). Das surrealistisch anmutende Meisterwerk des spätgotischen Malers unterläuft jeden Versuch, ein stabilen Bezug zwischen seinem Bildprogramm und seinen Bedeutungskorrelaten herzustellen. Indem es endlose Interpretationsmöglichkeiten bedient, setzt es vielmehr die frühneuzeitliche Subjektivierung unserer Wahrnehmungs- und Vorstellungskraft ins Bild. Überwältigt von einer unbegrenzten Palette von Deutungsmöglichkeiten, untergräbt es die Gabe des Betrachters, die de-zentrierende Bewegung ins Unbegrenzte (re-legere) mit einer re-zentrierenden Sammlungsbewegung (rel-ligare) in Balance zu bringen. Die dadurch provozierte Paralyse sakramentaler Resonanzbeziehungen zeichnete sich bereits im Nominalismus des Spätmittelalters ab, der den Akt der Bedeutungszuweisung als Produkt willkürlicher Konventionen erscheinen ließ. Das Triptychon von Bosch markiert nur insofern einen Wendepunkt, als es die Destabilisierung des Verhältnisses zwischen dem, was man sieht, und dem, was es bedeutet, bewusst herbeiführt. Die Erfahrung, dass die Welt zu sprechen aufgehört hat, wird nicht mehr als ein befremdliches Schicksal empfunden. Sie wird stilbildend.

Die autoritäre Kehrseite dieser nominalistischen Tendenz kommt in den Blick, wenn man auf den zweiten Brennpunkt von Certeaus genealogischer Rekonstruktion des Epochenumbruchs der frühen Neuzeit fokussiert: die Funktion autoritativer Herrensignifikanten. Nach Certeau, der sich hier auf Forschungsarbeiten seines theologischen Lehrers Henri de Lubac stützt,43 lässt sich dieser Bruch an einer Bedeutungsverschiebung der Begriffe ‹wahrer Leib› und ‹mystischer Leib› ablesen, der das mittelalterliche Eucharistieverständnis betraf. Von einem bestimmten Zeitpunkt an bezeichnete ‹mystischer Leib› (corpus Christi mysticum) nicht mehr die Hostie des Abendmahls, sondern die Kirche als «Leib Christi»; und umgekehrt bezeichnete ‹wahrer Leib› (corpus verum) nicht mehr die Kirche, sondern die Hostie.

Im Gefolge dieser Verschiebung konzentrierte sich die Praktik christlichen Lehrens und Lernens zunehmend auf die autoritative Präsenz eines positiv objektivierbaren Herrensignifikanten – den (nunmehr) ‹wahren Leib›. Am deutlichsten wird das im nachtridentinischen Sprachgebrauch der katholischen Tradition. Dieser Sprachgebrauch stützte sich zwar auf Thomas von Aquins Begriff der «Transsubstantiation», tendierte aber dazu, den Transsubstantiationsvorgang zu vergegenständlichen: Man sprach, ähnlich wie David Jones, von der ‹Realpräsenz› des Leibes Christi; interpretierte den Fachterminus «real» aber zunehmend als Bezeichnung für eine diskrete Entität (res) – als ob der gewandelte Leib der eucharistischen Hostie ein Behältnis des «realen Leibes» Christi wäre und nicht, wie bei Jones, der Brennpunkt einer nicht lokalisierbaren theophanischen Form von Präsenz.44

Die frühmoderne Begeisterung für fetischhafte Objekte blieb aber nicht auf die Hostie beschränkt. Auch die «Bibel» verwandelte sich in ein Simulakrum. Dank der Druckpresse Johannes Gutenbergs wurde die Bibel zum Prototypen eines modernen Warenfetischs und seines konfessionell-politischen Pendants, des modernen Parteibuchs.

Hierin liegt der wahre Kern des reformatorischen Idolatrieverdachts gegenüber der eucharistischen Frömmigkeit des ‹Papismus›. Die frühmoderne Begeisterung für fetischhafte Objekte blieb aber nicht auf die Hostie beschränkt. Auch die «Bibel» verwandelte sich in ein Simulakrum. Als objektivierbarer Zeichenkörper, der flächendeckend reproduziert und distribuiert werden konnte, sicherte er die Legitimation ‹aufgeklärter› Humanisten, die in seinem Namen historisch-kritische abgesicherte, autoritative Willensbeschlüsse promulgierten.45 Kurz, dank der Druckpresse Johannes Gutenbergs wurde die Bibel zum Prototypen eines modernen Warenfetischs und seines konfessionell-politischen Pendants, des modernen Parteibuchs.

Luthers sola-scriptura-Prinzip war demzufolge, semiotisch betrachtet, gleichbedeutend mit der Substitution des ‹wahren Leibes Christi› durch einen konkurrierenden autoritativen Zeichenkörper. Und damit markierte es den Umschlagpunkt zu den vermeintlichen ‹Religionskriegen›46 des konfessionalisierten Gutenbergzeitalters. Die katholische Tradition hielt zwar an der Einheit von Schrift und Tradition fest, betrachtete letztere aber immer mehr als ein depositum fidei – als Sammlung autoritativer Lehrsätze, die sich auf diskreten Speichermedien, wie dem modernen Katechismus, in kontrollierter Weise distribuieren ließen. Von daher überrascht es nicht, dass nicht-linguistische Zeichenkörper, Bilder und Symbole immer mehr in Werkzeuge im Dienste klerikaler Propagandastrategien umfunktioniert wurden.47 Die Kultivierung Common-Sense-basierter Gedächtnistechnologien war für das konfessionelle Zeitalter nur noch von marginaler Bedeutung.48

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass bereits im 17. Jahrhundert weltliche Mächte in den Kampf um den verstummten Leib Christi intervenierten: der mystische Leib des Herrn wurde durch weltliche Zeichenkörper verdrängt, die sich am Vorbild des Porträts von König Ludwig IV. orientierten.49 Von jetzt an sah sich jedermann gezwungen, unter konkurrierenden Kandidaten für den maßgeblichen Platz des «wahren Leibs» Partei zu ergreifen – von Ludwig XIV. über Napoleon, Lenin, Hitler und die Freiheitsidole des Liberalismus bis hin zur (wiederum nahezu körperlosen) «technologischen Singularität»50 des spätmodernen Transhumanismus.

Im Gefolge dieses Bruchs haben wir uns von resonanzsensiblen Subjekten in die abgepufferten Bewohner einer Weltmaschine verwandelt, deren Freiheit sich darin erschöpft, autonome ‹Wahlentscheidungen› zu treffen. Umso bemerkenswerter ist, dass Marshall McLuhan bereits 1962 das Aufkommen einer neuen, zweiten Art von «Mündlichkeit» prognostizierte, die die Logik der Gutenberg-Galaxie hinter sich lassen würde. McLuhan erkannte allerdings auch die Risiken, die mit diesem Transformationsprozess verbunden sind. Er sah voraus, dass die Rückkehr neuer Formen der Echtzeitkommunikation uns hineinstürzen würde in eine demagogische Welt «panischen Schreckens […], die präzise zusammenpasst mit einer kleinen Welt tribaler Trommler, totaler Interdependenz und überlagerter Koexistenz.»51 Und er fürchtete, dass wir darauf ebenso wenig vorbereitet sein würden, wie wir einst darauf «vorbereitet waren, die Zersplitterung der menschlichen Psyche durch die Druckkultur zu bewältigen.»52

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