Gott niemals loslassenImpulse aus der patristischen Exegese über Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32,23-33)

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Never Let Go of God. Impulses from the Patristic Exegesis on Jacob’s Struggle at the Jabbok (Gen 32:23-33). This article deals with important aspects of the patristic interpretation of the narrative of Jacob’s struggle at the Jabbok (Gen 32:23-33) and places it in the context of the hermeneutical prerequisites of patristic exegesis.

«Vom Gebetskampf renkt man sich nicht die Hüfte aus.»1 Als Hermann Gunkel im Jahr 1901 seinen berühmten Kommentar zum Buch Genesis veröffentlichte, verlieh er mit dieser süffisanten Bemerkung, mit der er sich gegen die allegorischen Auslegungen der Erzählung vom Kampf Jakobs am Jabbok richtet, seiner festen Überzeugung Ausdruck, dass «alle die ‹geistigen› Wahrheiten (…) im Text keinen Anhalt»2 haben. Vielmehr bezeugten die geistlichen Auslegungen dieser Geschichte lediglich die bemerkenswerte «Kraft der Religion, sich Fremdartiges anzueignen, Uraltes in neuem Sinne umzubilden und Schlacken in Gold zu verwandeln»3.

Die Kirchenväter, um deren Auslegungen der Erzählung vom nächtlichen Kampf Jakobs es in diesem Beitrag gehen soll, verstehen ihre geistliche Deutung keineswegs als Aneignung, Umbildung oder Verwandlung des Textes. In ihrer Hermeneutik klafft zwischen der historisch-philologischen Texterklärung und dem geistlichen Verstehen kein jäher Abgrund. Allerdings unterscheiden sich die Fragen, mit denen die Kirchenväter an den Text herantreten, zum Teil ganz erheblich von den Fragestellungen, unter denen ein moderner Kommentar die Perikope untersucht. Ich möchte in diesem Beitrag einige Aspekte der patristischen Auslegungen zur Erzählung von Jakobs Kampf am Jabbok vorstellen, und zwar vor dem Hintergrund ihrer grundlegenden hermeneutischen Voraussetzungen, ohne deren Kenntnis die Väterexegese für heutige Leser(innen) schwer nachzuvollziehen ist.

Schriftauslegung im Horizont der ganzen Heilsgeschichte

Grundlage der patristischen Exegese ist die Theorie vom «zweifachen Schriftsinn». In den Quellen kommt der Begriff «Sinn» (griechisch nous, lateinisch sensus) nur im Singular vor, das heißt, es gibt für die Kirchenväter nur einen Sinn der Schrift, der jedoch aus zwei unterschiedlichen Dimensionen besteht, der historischen und der geistigen, wobei sich die geistige Ebene nochmals in verschiedene «Fächer» unterteilen lässt.4 Die übliche Rede vom Literalsinn und vom Spiritualsinn sollte sich dessen bewusst sein, dass es sich dabei lediglich um Bedeutungsebenen oder Dimensionen des einen Sinns handelt, nicht aber um je eigenständige Sinne der Schrift.

Zur Unterscheidung dieser beiden Ebenen greifen die Kirchenväter auf die paulinische Terminologie von «Buchstabe und Geist» (2 Kor 3,4-18) zurück.5 Die Untersuchung der «buchstäblichen» Dimension geschieht im Rückgriff auf die etablierten wissenschaftlichen Methoden der antiken Philologie. Für die Erschließung der geistigen Bedeutungsebene verwenden die Kirchenväter dagegen eine andere Terminologie: «Öffnen», «Emporführen», «Aufsteigen» etwa sind Begriffe, die darauf hinweisen, dass der methodische Zugang zur geistigen Dimension des Textes ein anderer ist als der zur buchstäblichen.6 Die buchstäbliche, historische Bedeutung wird häufig als «Oberfläche» bezeichnet, die geistige dagegen als «Tiefe».7 Zwischen der Oberfläche und der Tiefe, dem Buchstaben und dem Geist, besteht eine bestimmte Beziehung; sie bilden eine dynamische Einheit. Der geistige Sinn wird dabei von den Vätern keineswegs als ein dem Buchstaben aufgesetzter oder fremder verstanden. Vielmehr sehen sie im Buchstaben das Medium, in dem die geistige Dimension durch das Wirken der inspirierten Verfasser der biblischen Schriften vermittelt wird. Deshalb sind die philologischen und historischen Methoden nach Ansicht der Kirchenväter das gebotene Mittel, um dem Text als historisch und kulturell bedingtem Zeugnis gerecht zu werden, aber sie reichen allein nicht aus, um den Sinn des Textes hinreichend zu erklären. Vielmehr schaffen sie im Horizont des inneren Zusammenhangs von Buchstabe und Geist die Grundlage der Sinnerschließung. Origenes hält als Aufgabe und als Grenze der philologisch-historischen Textanalyse fest: «Es wird nicht am falschen Platz sein, (…) an die Vertreter der Meinung, in diesen Berichten werde nichts über die geschichtliche Dimension hinaus kundgetan, eindringliche Worte zu richten, sie sollen in diesen Buchstaben als in Schriften des Geistes auch einen dem Geist würdigen Sinn suchen.»8 Der Heilige Geist als der eigentliche Autor der biblischen Schriften verbürgt die aktuelle Bedeutung aller Bibeltexte, insofern als jeder Text über seine historische Aussage und Situationsbedingtheit über sich hinausweist auf den Zusammenhang der gesamten Heilsgeschichte und damit eine Bedeutung auch für das Hier und Heute in sich trägt.

Die Verankerung der Perikope vom Kampf Jakobs am Jabbok in der Heilsgeschichte als ganzer – und diese umfasst nicht nur die biblischen Zeiten, sondern erstreckt sich über die Gegenwart hinaus bis zur Vollendung der Geschichte im Reich Gottes – ist also der Schlüssel zum Verständnis der patristischen Auslegungen. Der Schwerpunkt der Väterauslegungen zu Gen 32,23-33 liegt darum in dem Bestreben, den Text zu aktualisieren und seine Relevanz für die heute Glaubenden aufzudecken.

Gen 32,23-33 erzählt, wie Jakob am Vorabend der Begegnung mit seinem Bruder Esau, vor dem er sich fürchtet, seine Familie samt seinem Besitz über den Fluss Jabbok bringt, dann selbst zurückbleibt und in der Nacht mit einem Mann bis zum Morgen kämpft. Dieser Mann kann Jakob nicht besiegen und fügt ihm eine Verletzung an der Hüfte zu. Auf seine Bitte, ihn loszulassen, weil der Tag anbricht, verlangt Jakob im Gegenzug den Segen des Mannes, der Jakob den neuen Namen Israel verleiht. Jakob erkennt, dass dieser Kampf eine Begegnung mit Gott «von Angesicht zu Angesicht» (Gen 32,31) war. Die Kirchenväter befragen die Erzählung einerseits nach dem Gottesbild, das der Text zeichnet; sie suchen zu erklären, was der Gott, der mit Jakob ringt, von sich und seinen Absichten kundtut. Anderseits deuten sie die Gestalt Jakobs symbolisch, und zwar in doppelter Weise, nämlich einerseits als Bild für die Kirche und anderseits als Bild für den einzelnen Christen. Beide Größen, Kirche und Einzelner, hängen in der Exegese der Väter zuinnerst miteinander zusammen. In vielen patristischen Auslegungen kommt ein Gespür für die Gegensatzpaare innerhalb der Erzählung zum Ausdruck. Dazu gehören Überlegungen zu den Zeitangaben und ihrem Verhältnis zueinander, also die Nacht, in der der Kampf tobt, und die Morgenröte, zu der er beendet wird. Außerdem wird das Aufeinandertreffen von Mensch und Gott in den Blick genommen, dann der Umstand, dass der vermeintlich Unterlegene die Macht hat zu segnen, schließlich die Gegensätze innerhalb der Gestalt Jakobs: seine Angst vor dem Bruder und sein Mut gegenüber dem göttlichen Gegner, seine Unbezwingbarkeit und seine Verletzlichkeit.

Kaum ein Kommentar des 20. Jahrhunderts zum Buch Genesis ringt nicht mit dem verstörenden Gottesbild, das die Szene am Jabbok zeichnet: Gott greift Jakob an, «einem Raub- oder Mordüberfall darin gleichend, dass der Überfallene ahnungslos ist»9. Damit rückt der Vorfall am Jabbok in ein ähnlich unheimliches Licht wie der Angriff auf Mose, von dem das Buch Exodus berichtet: «Unterwegs am Rastplatz trat der Herr dem Mose entgegen und wollte ihn töten» (Ex 4,24).10 Eine Studie aus dem Jahr 2010 hält als Resümée der Forschungsgeschichte fest: «Alle Deuter können nicht verständlich machen, warum Gott unmotiviert gegen Jakob vorgeht.»11

Die Fragestellung der Kirchenväter über das Gottesbild, das beim Kampf am Jabbok zum Ausdruck kommt, unterscheidet sich ganz grundsätzlich von modernen Zugangsweisen. Motive wie Hinterhalt, Überfall oder Tötungsabsicht liegen überhaupt nicht im Blickfeld der Väter. Vielmehr sehen sie die Begebenheit unter den Schlagworten von Offenbarung, Zuwendung, ja sogar Menschenfreundlichkeit Gottes.

Die falsche Vorstellung von Gott loslassen

Am Ende der Nacht bittet der Kampfgegner Jakob, den er offensichtlich nicht besiegen kann, er solle ihn loslassen, da die Morgenröte aufziehe (vgl. Gen 32,27). Diese Bitte wird von Augustinus in einen inneren Zusammenhang mit der Aufforderung des Auferstanden an Maria Magdalena gebracht: «Lass mich los!» (Joh 20,17). Obgleich, so Augustinus, Jesus sich nach seiner Auferstehung von Thomas hatte berühren lassen, lässt er das bei Maria nicht zu. Jesus hätte nach Ansicht Augustins Maria die Berührung nicht verweigert, so wie er sie auch bei Thomas nicht abwehrte, wenn es um dieselbe Sache gegangen wäre. Bei Thomas ging es bei der Berührung um den Beweis, dass Jesus wirklich von den Toten auferstanden ist, bei Maria aber um etwas anderes. Bei Maria, schreibt Augustinus, sei das Wort «sinnbildlich gesprochen» (figurate dictum)12, weil Maria selbst ein Sinnbild sei, nämlich für die Kirche. Die Absicht Marias am Grab sei es gewesen, den Menschen Jesus anzufassen und festzuhalten, aber genau das dürfe die Kirche nicht, sondern ihre Aufgabe sei es, Christus «als dem Vater gleich»13 zu erfassen und zu verkünden. Maria wollte Jesus «dem Fleisch nach»14 (carnaliter), also nur als Menschen, festhalten. Darum verlangt der Auferstandene von ihr, ihn loszulassen, so wie Gott von Jakob am Jabbok losgelassen werden will. Jakob kämpfte in der Nacht mit einem Menschen, der sich ihm am Morgen als Gott offenbarte. Hilarius von Poitiers erblickt in Jakobs Kampf eine Disharmonie zwischen der «Erkenntnis seiner Seele» und dem «Handeln seines Körpers», die sich in dem Augenblick, da er seinen Gegner um den Segen bittet, zugunsten seiner Glaubenserkenntnis auflöst. Jakobs «körperliche Augen» haben nicht das gesehen, was ihm «im Glauben aufgeblitzt» ist.15 Damit deutet Hilarius das Kampfgeschehen als Wachstum des einzelnen Menschen in seiner Gotteserkenntnis, wobei Hilarius ebenso wie Augustinus damit die Erkenntnis der Wahrheit über Christus meinen. Ihm begegnet der einzelne zunächst als dem Menschen, und zwar in seiner vermeintlichen Schwäche und Unterlegenheit. Doch gerade darin offenbart sich Christus als der, von dem Segen zu erwarten ist.16

Der Morgen als Symbol für die endzeitliche Schau Gottes

Ganz anders als H. Gunkel, der von der These ausgeht, der Überlieferung liege eine uralte außerbiblische Göttersage, möglicherweise über einen Flussdämon, zugrunde, und der darum aus religionsgeschichtlichen Parallelen schließt: «Mit Sonnenaufgang muss die Gottheit verschwinden»17, verstehen die Kirchenväter den Motivzusammenhang von Dunkel und Licht, von Nacht und Morgenröte von seiner biblischen Symbolik her. Die Nacht ist Erfahrung der Ferne Gottes, der Mangel an Wahrnehmung seiner Gegenwart, während die aufsteigende Morgenröte als Bild für «das Licht der Wahrheit und der Weisheit, wodurch alles geschaffen wurde»18, gesehen wird. Der Morgen und damit das Licht der Sonne wird in einigen Psalmen ausdrücklich damit in Verbindung gebracht, dass Gott sich sehen und erkennen lässt, dass er sich dem Beter zuwendet und Hilfe bringt.19 Am Ende der Nacht und am Ende des Kampfes geht Jakob in doppeltem Sinn ein Licht auf, es ist «die Sonne der Gerechtigkeit, die ihm zugleich mit der Erkenntnis Gottes aufstrahlt, weil Gott selbst das ewige Licht ist»20. Beim Sonnenaufgang entschwindet Gott nicht ins unergründliche Dunkel, sondern er gibt sich zu erkennen. Und deswegen «endet mit dem Tagesanbruch der Kampf»21. Der Tagesanbruch trägt noch eine weitere symbolische Dimension in sich: Das Ende der Nacht weist zugleich auf das Ende der Welt und die beginnende Heilszeit hin. Was an Jakob exemplarisch geschah, sieht Augustinus als eschatologische Verheißung «für alle Heiligen am Ende der Zeiten»22. Daher hält Cyrill von Alexandrien fest: «Wer im Licht [der Gotteserkenntnis] lebt, für den gibt es keinen Kampf mehr.»23 Augustinus sieht das Leben der Christen in dieser Welt, ihr Ringen um die Frage nach dem Sinn und nach der Gerechtigkeit Gottes, als Situation zwischen Dunkel und Licht. Mit Paulus spricht er davon, dass «wir jetzt durch einen Spiegel nur Rätselhaftes erkennen, dann aber werden wir von Angesicht zu Angesicht sehen»24 (vgl. 1 Kor 13,12).

Gott sehen und leben

Der Ausgangs- und Zielpunkt der Väterauslegungen ist nicht die Kampfhandlung an sich, sondern ihr Ergebnis, das sich nicht nur in Jakobs Wort: «Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und mein Leben ist gerettet» (Gen 32,31), sondern auch im neuen Namen widerspiegelt. Zahlreiche patristische Quellen, griechische wie lateinische, erklären die Bedeutung des Namens «Israel» nicht nach der üblichen Etymologie mit «Gottesstreiter» – so wie Gen 32,29 und Hos 12,4 –, sondern mit «Gott-Seher». Johannes Chrysostomus erläutert in seinem Kommentar zum Buch Genesis: «‹Israel› klingt wie ‹der Gott Sehende›».25 Die Herleitung der Namensbedeutung vom Wortklang ergibt sich vermutlich aus der Silbentrennung «iš-ra-el», wodurch die hebräischen Worte «Mann», «sehen» und «Gott» zustande kommen. Das entspricht zwar nicht den hebräischen Buchstaben des Wortes Israel, und wieweit den Vätern das bewusst war, ist schwer zu klären, aber jedenfalls ist diese Deutung sicher seit Novatian († 258) belegt und spielt für das patristische Verständnis der Perikope eine bedeutsame Rolle.

Der Gott, der sich sehen und von Jakob erkennen lässt, ist für die Väter immer der Logos, Christus:26 Eusebius von Caesarea fasst diese Einsicht folgendermaßen zusammen: «Da es unmöglich ist zu behaupten, der allerhöchste Gott, der Unsichtbare, Ungeschaffene und Allmächtige lasse sich in einer sterblichen Gestalt sehen, so muss das Wesen, das sich sehen ließ, das Wort Gottes sein. (…) Derjenige, der von den heiligen Vätern gesehen wurde, war niemand anderes als das Wort Gottes.»27 Wenn die Kirchenväter nach der Möglichkeit des Menschen, Gott zu sehen, fragen, orientieren sie sich an den Aussagen der Heiligen Schrift zu diesem Thema. Dabei unterscheiden sie zwei Ebenen, denen die Zeugnisse der Bibel über die Gottesschau zuzuordnen sind. Wenn es um das Wesen Gottes geht, trifft Gottes Wort an Mose zu: «Du kannst mein Angesicht nicht schauen; denn kein Mensch kann mich schauen und am Leben bleiben» (Ex 33,20), sowie das Wort aus dem Prolog des Johannesevangeliums: «Niemand hat Gott je gesehen.» (Joh 1,18) Davon zu unterscheiden sind aber jene Aussagen der Heiligen Schrift, in denen «Gott sich in einer dem Fassungsvermögen der Menschen entsprechenden Weise, nicht aber in der Fülle seiner Gottheit»28 sehen lässt. Und alle diese Begegnungen bedeuten nicht Tod, sondern Heil und Leben für den Menschen: «Der Anblick Gottes stärkt uns»,29 kommentiert Hieronymus die Begegnung am Jabbok. In diesem Sinn verstehen die Kirchenväter den Ausspruch Jakobs am Ende der Kampfnacht nicht adversativ – so wie die Einheitsübersetzung (2016): «Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen» –, sondern konsekutiv: «und meine Seele wird gerettet».30

Gottes «philanthropische» Pädagogik

Hieronymus betont in diesem Zusammenhang, dass Jakob keineswegs aus eigener Kraft fähig war, in seinem Kampf Gott zu erkennen, sondern dass ihm diese Erkenntnis allein «durch die Zuwendung des Erbarmenden»31 zuteilwerden konnte. Gott zeigt sich und führt den Menschen dahin, ihn zu erkennen. Im Fall Jakobs geschieht dies durch die ringende Auseinandersetzung. Nach Johannes Chrysostomus wählt Gott für Jakob genau diesen Weg der Erkenntnis, weil er der Verfassung Jakobs am besten entspricht. Jakob fürchtet sich – aus gutem Grund – vor dem Zusammentreffen mit seinem Bruder Esau, wie Gen 32,8 berichtet. Diese Furcht will Gott ihm nehmen, indem er Jakob die Erfahrung ermöglicht, vor Gott bestehen zu können. Chrysostomus spricht von der «synkatabasis», dem «Hinabsteigen» oder der «Herablassung» Gottes – ein Begriff, der in der patristischen Literatur auch als Fachterminus für die Inkarnation gebraucht wird32 –, durch die er an Jakob seine «Menschenfreundlichkeit» (philanthropia) erweist. Am Ende des Kampfes weiß Jakob, dass er Gott gesehen hat, und diese Erfahrung, so Chrysostomus, gibt ihm die Zuversicht, dass er keine Angst mehr vor anderen Menschen oder vor Leid, das sie ihm zufügen könnten, haben muss.33

Als ein entfernter Anklang an diese Auslegung lässt sich die tiefenpsychologische Deutung des Kampfes am Jabbok lesen, wie sie C.G. Jung darstellt: Jakobs Kampf sei eine Konfrontation mit dem eigenen Schatten, in diesem Fall ist das im Wesentlichen die unverarbeitete Geschichte all seiner Betrügereien. Und diese Auseinandersetzung sei schließlich in eine erfolgreiche Integration der Schattenseite in die eigene Persönlichkeit gemündet.34 Der markante Unterschied zu den Väterauslegungen, die diesen Kampf in der Tat ja auch als einen personalen Reifungsprozess verstehen, besteht darin, dass Gott niemals in die «Bildhälfte» der Metapher gerückt und damit auf die Projektion eines innerpsychischen Vorgangs reduziert wird, sondern stets als ganz reales Gegenüber des Menschen die «Sachhälfte» der ansonsten durchaus als Metapher gedeuteten Erzählung bestimmt.

Das Wort Gottes als «Trainer» der Gottesschau

Im Sinne einer Erziehung zu Tugendhaftigkeit und Gotteserkenntnis versteht auch Clemens von Alexandrien die Erfahrung, die Jakob am Jabbok zuteilwird. In seiner Schrift «Der Pädagoge» greift Clemens auf die Deutung bei Philo von Alexandrien zurück, der wiederum in Anlehnung an Platon von drei Arten des Erwerbs von Tugend und Gotteserkenntnis spricht: durch Lernen, so wie Abraham, durch natürliche Veranlagung, so wie Isaak, und durch Üben, so wie Jakob.35 Jakob ist der Übende (asketes), und sein «Trainer» das Wort Gottes, der Logos. Er «trainierte mit dem im Training bewährten Jakob und machte ihn tauglich gegen den Bösen»36. Dabei bezieht Clemens diese Deutung nicht nur auf die geschichtliche Gestalt des Erzvaters und seinen Weg mit Gott, sondern sieht in ihm darüber hinaus auch ein Symbol für die Geschichte der ganzen Menschheit mit Gott, insofern nämlich, als der «Trainer» (aleiphôn) auf Jakobs Frage hin seinen Namen nicht preisgibt (vgl. Gen 32,29): «Denn noch namenlos war Gott der Herr, da er noch nicht Mensch geworden war. Jakob indessen nannte den Namen jenes Ortes Erscheinung Gottes; ‹denn ich sah›, so heißt es, ‹Gott von Angesicht zu Angesicht, und meine Seele wurde gerettet.› (Gen 32,31) Das Angesicht Gottes aber ist der Logos, durch den Gott sichtbar gemacht und geoffenbart wird.»37 Jakob kämpft also mit dem Wort Gottes und lernt von ihm sich zu bewähren, dem Logos, der sich unter der Gestalt des namenlosen Mannes verbirgt und letztlich auch verborgen bleibt bis zum Zeitpunkt der Inkarnation. Dann wird allen Völkern offenbar, was Jakob – nicht nur der historischen Gestalt, sondern dem ganzen Volk, für das er steht – schon am Jabbok aufleuchtete und was ihm den Namen «Israel», den viele Väter mit «Gott schauen» übersetzen, einbrachte: Die Erkenntnis, dass der Gott Israels ein Gott ist, der den Menschen sein Angesicht zuwendet.38

Die Absicht Gottes, mit der er Jakob als Gegner im Kampf entgegentritt, besteht also keineswegs in der Vernichtung Jakobs, sondern in der Vertiefung seines Gottesverhältnisses. Zu diesem Gedanken findet sich in der patristischen Literatur eine Parallele, und zwar in der Auslegung zu dem kurzen Gleichnis vom Gang zum Richter, das der Evangelist Matthäus in die Bergpredigt aufgenommen hat: «Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist! Sonst wird dich dein Gegner vor den Richter bringen und der Richter wird dich dem Gerichtsdiener übergeben und du wirst ins Gefängnis geworfen.» (Mt 5,25) Für Caesarius von Arles ist klar, dass der Gegner auf dem Weg zum Gericht niemand anderes ist als das Wort Gottes, also derselbe wie der Kampfgegner Jakobs: «Die Wahrheit ist dein Gegner, und du wirst bei ihm keinen Anklagepunkt finden. Mach sie zum Freund, wenn du kannst. Dein Gegner ist das Wort Gottes. Versöhne dich mit ihm, solange du mit ihm unterwegs bist. Der Weg ist das Leben. Das Wort Gottes ist wie dein Gegner mit dir auf dem Weg zum Gericht. Es steht in deiner Macht, dich mit ihm zu versöhnen. Denn nur dein eigenes Heil wird bei dieser Versöhnung gefordert. Soviel es an ihm liegt, ist das Wort Gottes nämlich dein Freund, du machst es nur selber zum Gegner.»39 Gott provoziert den Menschen zu einer Auseinandersetzung, zu einem Ringen mit der Wahrheit, durch das der Mensch «die Wahrheit zum Freund» gewinnt. Zu eben diesem Schluss kommt Ephraem von Nisibis in seinen Überlegungen zur Bedeutung des Kampfes am Jabbok. Er will die Bitte Jakobs um den Segen am Ende des Kampfes als Ausdruck von tiefer Freundschaft, die zwischen beiden Kämpfenden entstanden ist, sehen: «Er wollte gesegnet werden, um bekannt zu machen, dass sie sich aus Liebe aneinander geklammert hatten.»40

Der hinkende Jakob – Symbol für die Kirche

In den Väterauslegungen gibt es ein Erzählelement, das besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, nämlich die Ambivalenz in der Gestalt Jakobs: Er erlangt den Segen und zugleich trägt er eine Verletzung im Kampf davon, die ihn dauerhaft zeichnet. Welcher Art die Verletzung an Jakobs Hüfte ist, lässt sich aufgrund der anatomisch nicht eindeutigen Bezeichnungen im hebräischen Text nicht festlegen.41 Die Kirchenväter gehen jedenfalls davon aus, dass diese Hüftverletzung zur Folge hatte, dass Jakob hinkte. Das Stichwort «Hinken» führt Augustinus nun zu Psalm 17,45 (LXX), der von den «fremd gewordenen Söhnen» spricht, «die lahm abseits ihrer Wege hinken»42. Die Psalmüberschrift beschreibt den Psalm als ein Danklied, das David nach seiner Rettung «aus der Gewalt all seiner Feinde und aus der Hand Sauls» (Ps 17,1 LXX) anstimmte. Damit wird deutlich, dass es im Volk Israel eine Spaltung gibt, da ein Teil des Volkes gegen David steht und sich dadurch auch von Gott entfremdet hat. Diese Gottferne beschreibt der Psalm mit der Metapher vom «Hinken». In der Gestalt Jakobs sieht Augustinus deshalb die Geschichte Israels vorgezeichnet, insofern als die angeschlagene Hüfte symbolisiert, dass es im Volk Gottes immer einen Teil geben wird, der sich dem Ruf und dem Anspruch Gottes verweigert. Die Scheidelinie zwischen Frommen und Frevlern verläuft mitten durch das Volk Gottes, wie die Schriften des Alten Testaments, vor allem die Psalmen und Propheten, bezeugen.43 Für die Kirchenväter zieht sich dieser rote Faden nicht nur bis zur Ablehnung Jesu durch einen Teil seines Volkes durch, sondern führt darüber hinaus bis in die Situation der Kirche der Gegenwart. Diese Aktualisierung hat am eindrücklichsten Augustinus entfaltet: «Der verdorrte Teil Jakobs bezeichnet die schlechten Christen, so dass in ein und demselben Jakob sowohl der Segen als auch das Hinken gegenwärtig ist. (…) Gegenwärtig hinkt die Kirche. Einen Fuß setzt sie kräftig auf, den anderen zieht sie nach. Achtet auf die Heiden, Brüder! Sie finden manchmal gute Christen, solche, die Gott dienen, von denen sind sie fasziniert, werden von ihnen angezogen, und sie glauben. Dann wiederum widmen sie ihre Aufmerksamkeit denen, die ein schlechtes Leben führen, und sie sagen: ‹Sieh da, diese Christen!›»44 Im Zugleich von Segen und Verletzung Jakobs sieht Augustinus also die Realität der Kirche vorgezeichnet, die ihr als charakteristisches Merkmal bleiben wird bis zum Tag des Jüngsten Gerichts.45

Sich mit aller Gewalt an Christus festhalten

Als ein letzter Aspekt der patristischen Auslegungen, und von der Wirkungsgeschichte her betrachtet vielleicht ihr wichtigster, sei schließlich noch der Blick der Kirchenväter auf die Hartnäckigkeit Jakobs und seine unermüdliche Kampfkraft genannt. Augustinus bringt die Ausdauer Jakobs beim Kampf mit dem Wort Jesu zusammen: «Das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalt tun, reißen es an sich» (Mt 11,12).46 Da der Kampgegner, wie oben gezeigt, niemand anderes ist als Christus, kann Augustinus sagen, dass Jakob Christus mit aller Kraft und Gewalt festhält und ihn nicht loslassen will: «Das bedeutet: Kämpfe, um Christus festzuhalten und deinen Feind zu lieben. Hier hältst du nämlich Christus fest, wenn du deinen Feind liebst.»47 Das Gebot der Feindesliebe versteht Augustinus also als die Herausforderung, die dem Menschen am meisten Kraft und Anstrengung abverlangt und die ihn Christus ähnlich macht. Wer diese Kraft aufzubringen vermag, der kann Christus festhalten, also mit ihm so eng verschlungen bleiben, wie es die Ringkämpfer sind. In dem, der seinen Feind liebt, geschieht eine Verwandlung, die bei Jakob durch den neuen Namen Israel ausgedrückt wird. Justin der Martyrer legt eine eigene Deutung des Namens «Israel» vor, indem er das Wort mit «Mann, der die Kraft besiegt», übersetzt und dann ausführt, dass die besiegte Kraft der Teufel sei, und damit der Name «Israel» zutiefst der Name, der Christus selbst zusteht.48 Im Kampf gibt Christus Jakob Anteil an seinem eigenen Namen,49 und die Wunde Jakobs wird zum Sinnbild für das Kreuz Christi, in dem sich die Feindesliebe vollendet.50

Es gibt eine ganz bemerkenswerte Ähnlichkeit zu Augustins Gedanken in der Schrift «Der Liebe Tun» des Philosophen Søren Kierkegaard aus dem Jahr 1847. Kierkegaard geht es um die Bedeutung des Gebots der Nächstenliebe (Mt 22,39), und in diesem Zusammenhang entwickelt er am Bild des Kampfes am Jabbok den Gedanken von der Verwandlung der Selbstliebe durch die Nächstenliebe in eine echte christliche Liebe. Das Nächstenliebegebot umklammere die Selbstliebe und kämpfe mit dieser: «Wie Jakob hinkte, nachdem er mit Gott gerungen hatte, so wird die Selbstliebe gebrochen sein, falls sie mit diesem Wort [das Gebot der Nächstenliebe] gekämpft hat (…).»51 Für Kierkegaard bedeutet dieses Ringen eine echte Verwandlung des Menschen.

In vielen Väterauslegungen findet sich immer wieder der Hinweis auf den Glauben Jakobs, dank dessen er erkennen kann, wer mit ihm ringt. Und infolge dieser Erkenntnis will er Gott nicht mehr loslassen: «Ich lasse dich nicht los, es sei denn, du segnest mich.» (Gen 32,27) Augustinus bezieht die Einsicht Jakobs: «Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen» (Gen 32,31), also dass sich im realen physischen Kontakt zwischen Jakob und dem Mann in Wirklichkeit die Berührung zwischen Mensch und Gott ereignete, auf die Eucharistie: «Der Herr segnet uns zunächst durch seinen Leib. Die Gläubigen wissen, was sie empfangen, weil sie durch seinen Leib gesegnet werden.»52 Der Glaube ermöglicht Jakob den Durchblick auf die wahre Identität seines Kampfgegners, so wie der Glaube ermöglicht, im eucharistischen Brot in Wahrheit Christus selbst zu erkennen. «Wie aber wird Jakob gesegnet?», fragt Augustinus: «Weil er kraftvoll festhielt und durchhielt und nicht aus den Händen gab, was Adam losgelassen hatte. Lasst uns also gläubig festhalten, was wir empfangen, damit wir verdienen, gesegnet zu werden.»53 Adam hatte die Gemeinschaft mit Gott losgelassen und verloren, in Christus ist sie neu geschenkt.

Im Jahr 1727 wurde die Kantate «Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn» von J. S. Bach erstmals aufgeführt (BWV 157). Der Komposition liegt ein Text aus der Feder von Bachs Librettisten Picander zugrunde, in dem wesentliche Einsichten der Väterauslegungen zum Kampf Jakobs «verdichtet» nachklingen. Im zweiten Satz singt der Tenor die Arie: «Ich halte meinen Jesum feste, / Ich lass ihn nun und ewig nicht. / Er ist allein mein Aufenthalt, / Drum fasst mein Glaube mit Gewalt / Sein segensreiches Angesicht; / Denn dieser Trost ist doch der beste.»

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