Robert Lax und die Poetik der Unschuld

Zirkuskünstler und griechische Fischerleute – warum waren diese sonst so wenig beachteten Menschengruppen so reizend für Robert Lax? Wer versteht, warum er voller Bewunderung für sie war, kann auch dem Verständnis seines ganzen unregelmäßigen Lebens und Werkes näherkommen. Zirkuskünstler und Fischerleute fesselten seine Aufmerksamkeit vor allem wegen ihrer erlebten Einheit von Spontaneität und Bewusstheit, und diese Einheit begriff Lax als höchste Ausdrucksform des klaren und reinen Daseins. Dieser Begriff – reines Dasein – bedeutete für ihn die fast unerreichbare Einheit von eingeübter Spontaneität und unerlässlicher Bewusstheit, die Einheit von Spiel und achtungsvoller Anwesenheit; eine Tätigkeitsform, die in die direkte Nähe des Wesens gelangt, das man Gott nennt. Robert Lax war natürlich kein Theologe, sondern ein Dichter, ein Einsiedler der Avantgarde-Dichtung, der in mehreren Perioden seines Lebens in Kreisen der bildenden Kunst bekannter war als in denen der Literatur, der sich jedoch dem Schreiben widmete – dem Schreiben, dem Warten, der Beobachtung und der Langsamkeit.

Die Gestalt von Robert Lax (1915–2000) brauchen wir nicht aus dem Dunkel der Vergessenheit hervorzurufen, das Bühnenlicht der Bekanntheit war nämlich nie wirklich auf ihn gerichtet. Vielleicht liegt es daran, dass er sich – zusammen mit seinen Freunden, Künstlerkollegen und Förderern – zwischen zwei lauten Generationen befand, die sich die Beachtung nahezu erzwungen haben. Die eine ist die verlorene Generation: Das Zeit der amerikanischen literarischen Größen, die den Illusionsverlust und den Lebensdrang vorwiegend in Europa zu verarbeiten versuchten – sie hatten Lax nicht viel zu bieten. Zur Zeit der Erscheinung von Der große Gatsby sammelt er noch als Kind unter Behütung seiner jüdischen Mutter Geld für die Bauten der Synagoge seiner Geburtsstadt, der ostamerikanischen Kleinstadt Olean; später besucht er zusammen mit seiner Mutter Universitätsvorlesungen in der nahe gelegenen New York. Als Wem die Stunde schlägt erschien, veranstaltete er zusammen mit seinen Universitätsfreunden Vorlesewochen und Romanwettbewerbe im Berglandhaus seines Schwagers. «Wir mit meinem Freund denken manchmal darüber nach, ob wir nicht die Letzten sind, die die Sachen der Welt so melancholisch sehen. Uns beiden wird schlecht, wenn Hemingway sagt: Es lohnt sich für das Leben zu kämpfen.»1

Die andere Generation ist die der großen Rebellen, der Beat-Autoren, deren laute Gesprächigkeit ebenfalls gar nicht an die Kunst von Lax erinnert. Jack Kerouac war zwar nur um sieben Jahre, Allen Ginsberg nur elf Jahre jünger als Lax, jedoch sind ihre Töne völlig anders gestimmt. Es gab Zeiten, als Kerouac ein echter Anhänger von Lax wurde; seine Ruhe und Frömmigkeit fesselten ihn, er folgte seinem Freund sogar fast beim Eintritt in die katholische Kirche (er stellte ihn seiner tiefgläubigen katholischen Mutter, mit der er fast auch sein ganzes Erwachsenenleben zusammen verbrachte, mit den Worten vor: «Mutter, er ist ein Heiliger»). Aber wie stark er auch Anhaltspunkte unter seinen – dank des stürmischen Erfolgs von Unterwegs – veränderten Lebensumständen brauchte, es war der Buddhismus, der ihn mitriss, bevor er vom Erfolg völlig zugrunde gerichtet wurde. «Ich bin kein Heiliger, ich bin ein sinnlicher Mensch, ich kann dem Wein nicht widerstehen, ich neige zum Spott und verstecktem Zorn, und ich bestehe auf den imaginären Lebenswelten vor meinen Augen, aber stufenweise, durch Selbstdisziplin will ich zum Eid aufsteigen, der allen fühlenden Wesen Hilfe verspricht» – schreibt Kerouac an Lax 1954. Danach lebt er nur noch fünfzehn Jahre, sein Freund noch sechsundvierzig.

Zwischen der enttäuschten und der lauten Generation bleibt Robert Lax leicht unbemerkt, der weder gekämpft noch geschrien hat. «Langsames Schiff/ruhiger Fluss/stille Landung»: diese drei Zeilen stehen auf seinem Grab – zutreffend, keiner kann daran zweifeln. Viele Jahre mussten aber vergehen, bis er an die gesuchte Ruhe und Einsamkeit gelangte. Diese zu finden war hauptsächlich deswegen schwierig, weil er sich nicht nach schweigender Stille und menschenferner Einsamkeit sehnte, und er war nie in dem Sinne einsam, dass er nicht von anderen umgeben wurde: Er war der große Eremit der amerikanischen Literatur (viele beginnen seine Vorstellung mit Hinweisen auf Thoreau), aber ein kontaktfreudiger Eremit, der sich nie an die Verhältnisse der amerikanischen Gesellschaft anpassen konnte – allmählich stößt ihn das laute New York und seine überfüllte Umgebung, wo er seine Jugend verbrachte, ab, aber in allen einsamen Perioden seines Lebens hatte er Menschen um sich. 1962, mit siebenundvierzig Jahren übersiedelte er endgültig nach Griechenland, jedoch vor allem, weil er von den Menschen der östlichen Inseln verzaubert wurde. Davor passierte aber natürlich noch Vieles.

Der Prozess bis zu seiner Niederlassung in Griechenland ist trotz aller seiner Vielfältigkeit und Kompliziertheit relativ leicht zusammenzufassen, wenn ja das Leben eines Menschen sich überhaupt leicht zusammenfassen lässt. Seit er vom Anfang der 30’er Jahre Student an der Columbia-Universität war, arbeitete er als Redakteur bei kleineren und größeren Blättern, er lebte von gelegentlichen Lehraufträgen an kleineren und größeren Universitäten, auch Hollywood hat ihn erreicht – er wurde Mitverfasser eines Drehbuchs («es war der schlechteste Film aller Zeiten», sagte er später) –, er schrieb kontinuierlich, und er dachte ununterbrochen darüber nach, wie er leben sollte. Alle hatten den Eindruck, dass er nicht dorthin gehört, wo er gerade ist, und dass sein natürliches Umfeld eben wo anders liegt. Lax suchte, experimentierte, aber vor allem fand er Freunde fürs Leben.

Der Geburtsort dieser Freundschaften war die Columbia. 1935 traf er dort Thomas Merton. Die folgenden drei Jahre verbrachten sie zusammen mit Redigieren von Studentenblättern, unermesslichem Lesen, ständig anhaltender Wegsuche. Wer ihren Briefwechsel2 liest, kann erfahren, dass Merton nie so lebendig und ausgelassen wirkt, wie in seinen Briefen an Lax – albern, von Witzen wimmelnd und literarischen Hinweisen überfüllt, praktisch in einer eigenen Sprache verfasst. Nachdem Merton 1941 Mönch geworden war, trafen sich die beiden bis zu seinem unerwarteten Tode im Jahre 1968 nur sechsmal, aber ihre Beziehung kannte weder zeitliche noch räumliche Distanzen. Es ist wenig bekannt, dass die letzte Bemühung Mertons gerade darauf gerichtet wurde, zu seinem Freund in die griechische Inselwelt zu ziehen. Lax schrieb nie über Mertons Dichtung oder seine anderen Werke, nur zu einer Rezension ließ er sich überreden, und nur ein Gedicht hat er verfasst, als er am 11. Dezember durch seine Schwester von dem Tod des Trappisten benachrichtigt wurde. «Jemand fragte mich, wie ich es empfand, als Merton starb. Ich sagte, ich empfand, als hätte ich einen Brieffreund verloren. Ich verlor keinen Freund, denn auch heute spüre ich seinen Verlust nicht. In diesem Sinne ist mein Freund hier, er ist für mich anwesend. Aber als Brieffreund ist er nun schwer zu kontaktieren», äußerte er sich in einem Interview.

Sein ganzes Leben lang behielt er immer ein kleines Notizheft bei sich, um seine Eindrücke niederzuschreiben; er nahm die Kleinausgabe der Psalmen überallhin mit; und er hatte immer ein Foto von Merton bei sich. Columbia gab ihm aber wenigstens noch zwei lebenslange Beziehungen. Stütze und Richtungspunkt für Lax war der Avantgardemaler Ad Reinhardt, von den Universitätsjahren an bis zu seinem Tode ein Jahr vor Mertons Tod. Er war in kultureller Hinsicht auch die wichtigste Gestalt in Lax’ Leben – seine sich immer mehr vereinfachende Kunst, seine schließlich nur noch schwarzen Bilder auf schwarzem Grund hatten eine tiefe Wirkung auf die Dichtkunst von Lax. Die zweite Stütze, eher Mentor war Mark van Doren, der äußerst populäre und ganz originelle Professor der Columbia, dessen legendärer Shakespeare-Kurs die in den Zehner Jahren geborenen Studenten genauso sehr begeisterte wie seine Dichtkunst. Allmählich wurde van Doren selbst der ideale und aufmerksame Leser für seinen ehemaligen Studenten: Lax schickte seinem damaligen Lehrer alle seine neuen Gedichte und Tagebuchskizzen, welche dann die anfängliche Sympathie seines Mentors ganz zur Bewunderung steigerten. Es gab noch viele Personen, die in der sich ständig formenden ersten Hälfte von Lax’ Leben eine wichtige Rolle spielten – z.B. der Privatverleger Emil Antonucci, der etliche Gedichte von Lax durch seine eignen Grafiken illustriert in seiner Handdruckwerkstatt herausgegeben hat, oder Catherine de Hueck Doharty, ein katholisches Genie der karitativen Sozialarbeit unter Menschen in Not und Elend, in deren Häusern der schlendernde Dichter für lange Jahre ein Heim gefunden hat. Die Baronesse erwies sich auch als Prophetin: Einst sah sie im Traum, dass Lax, der zwar 1943 getauft wurde, mit seinem Leben jedoch nichts wirklich Sinnvolles anfangen konnte, eigentlich ein Imitator von Benoît Labre, d. h. dem Heiligem Benedikt Labre sein solle: Immer alleine, aber immer unter anderen, dauernd unterwegs solle er den Weg zu sich selbst finden.

Eine gewisse Form von Reisen war auch schon früher faszinierend für Lax. In seiner Kindheit nahm ihn sein Vater mehrmals in den Zirkus mit, und dieses Erlebnis hat einen nachhaltigen Eindruck auf sein Leben hinterlassen. Wann immer er die Gelegenheit hatte, besuchte er später Zirkusvorstellungen; als er 1943 die berühmte Zirkusfamilie Cristiani traf, wusste er sofort, dass dabei «etwas Großartiges passiert ist». Wie typisch, dass Lax im Frühling 1949, als Merton zum Priester geweiht worden ist (die komplette ehemalige Mitgliedschaft aus der Columbia erschien im Kloster), nach der Weihe mit der Familie Cristiani nach Kanada fährt, so dass er sie einen Monat lang auf ihre Auftritte begleiten kann (ab und zu spielt er auch eine Narrenrolle bei den Vorstellungen). Wie lange er mit den Cristianis unterwegs gewesen sei, fragte ihn Jahre später einer seiner Biografen. «Bis heute», lautete die Antwort.3 In der Familie wurde seine Beziehung besonders mit dem jungen Mogador (der nach seiner marokkanischen Geburtsstadt benannt wurde) eng; aus seinem Spiel begriff er, dass der Zirkus nichts Anderes sein will, als sich selbst, der Zirkus ist ein Selbstzweck, in dem sich Selbstvergessenheit und Selbstdisziplin vereinigen. Der Gaukler will die Leute dazu bringen, zu sagen, wie gut er sei; der Künstler hingegen, wie gut die Menschen seien. Solche Anmerkungen sammelte Lax von Mogador, obwohl Mogadors Book erst 1992 erscheint. Der Zirkus war für Lax eine kleine Utopie der Welt, «eine Lebensform, die sich nach entfliehender Vergänglichkeit des Menschenlebens richtet, das Gefühl, dass der Mensch ins allgemeine Alltagstreiben, in eine umfassende Familie eingegliedert ist und dadurch ein Leben lebt, das für alles, was im Moment passiert, offen ist, denn sein Weg ist durch keinerlei unnötige Mühe belastet.»4

Sein erster, 1959 erschienener Band bekam selbst den Titel The Circus of the Sun. Wie zahlreiche andere erste Romane und erste Gedichtbände fand auch dieser zuerst zehn Jahre lang keinen Verleger, aber nach der Herausgabe von Emil Antonucci mit fünfhundert Exemplaren wurde er in gewissen Kreisen sofort begeistert empfangen. Leidenschaftlich äußert sich zu ihm Denise Levertov, E. E. Cummings und Thomas Merton wurden seine hingerissenen Anhänger. Der Band setzt Zirkus gleich in kosmische Verbindungen, indem er durch die Darstellung eines Werktags im Ensemble von frühmorgens bis spätabends eigentlich die gelassene Hymne der Schöpfung, der Ordnung, des Spiels, der Selbstlosigkeit, der Rücksicht und des Zusammenseins verfasst. «Manchmal machen wir uns auf Suche/nach etwas Unbestimmbarem/bis wir zurück an den Anfang gelangen» – so beginnt Circus, und schildert von der Schöpfung der Welt an den Aufbau des Zirkuszelts und der Gebäude hindurch die Darstellung des Ensembles. Mogador erscheint bei der Übung einer Pferdedressur vor Penelope, aber so oft er sich geschickt und anstellig sieht, fällt er herunter; wenn er jedoch nichts bedenkt, kann er das Stück meisterhaft durchführen. «Sie sind jetzt bei mir, die Goldmenschen; ihre Glieder/verflechten sich im goldenen Lichte», schreibt Lax zum Abend näher rückend: Sie waren immer, auch später bei ihm, denn sie stellten diejenigen für ihn dar, die ihr Leben nicht weitgreifend planen, sondern schreiten mit der vorangehenden Zeit zusammen, und sie führen die Kunst der Schöpfung und des bewussten Lebens so aus, dass sie sich dabei trauen frei zu sein. Es lohnt sich, etwas länger aus der Nachschrift von Circus zu zitieren: «Bedenke, Mogador, die Freiheit in der gebundenen, aus Eden vertriebenen Welt; die Freiheit der Priester, der Künstler und der Akrobaten. In der Welt, wo der Mensch sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu erwerben gezwungen ist, ist es die Freiheit derer, die – ähnlich wie die Lilien auf dem Feld – vom Spielen leben. Denn Spielen ist der Weisheit vor Gott ähnlich. Das Spiel dieser Menschen ist ein Lobpreis. Ein Gebet. Ihr Spielen, wie die ritualen Gesten des Priesters, wird von Gnade getragen. […] Wir sind alle Wanderer auf der Erde, aber in allen Menschenaltern gibt es nur wenige, die das von Gaben gelebte Leben entdecken, nur wenige leben von Tag zu Tag, die Gnadengaben dankbar annehmend und durch Gnade vermehrt dem zurückgebend, von wem sie diese bekommen haben. Genau das bedeutet die ausgedehnte, gebogene Bewegung deiner Arme, wenn du landest; die durch Schönheit und Gnade getragene Rückgabe, Hingabe und Dank.»5

Zur Zeit der Erscheinung des Gedichtbandes wusste Lax schon ungefähr, dass die Antwort auf die große Suche seines Lebens Armut heiße. Nie machte er eine Pose aus seiner Armut, die zu seinem natürlichen Umfeld wurde. In seiner Jugend wurden einige seiner Gedichte im New Yorker veröffentlicht, eine Zeitschrift, die in seinem Freundeskreis die Spitze der Spitzen bedeutete, er wurde also erfolgreich, gelangte in den Mittelpunkt der Gesellschaft, aber gerade dieser amerikanische Erfolgsgeschmack wurde ihm bitter. Da er eine riesige Menge Tagebucheinträge schrieb (seine Tagebücher erschienen im schweizerischen Pendo Verlag, der ursprünglich zum Zweck der Herausgabe seiner Schriften gegründet wurde), und da es von den achtziger Jahren an immer wieder Leute gab, die ihn an seinem Wohnort in Ostgriechenland für längere oder kürzere Zeit aufsuchten (die Inseln Kalymnos und Lipsi, wo er lange gelebt hat, vertauschte er später endgültig mit Patmos, u.a. wegen des Apostels Johannes, dessen Bild, in dem er in seiner Höhle an den Offenbarungen arbeitet, an der Wand seines ehemaligen Zimmers noch in Marseilles die Sonne jeden Morgen beschienen hatte), wissen wir, was für innere Motivationen er hatte. Er wollte arm sein, weil er sich von Natur aus nicht nach Besitz sehnte; arm wollte er sein, weil ihn die sinnlose Arbeit abstieß; arm wollte er sein, weil er meinte, durch die Verminderung der Bedürfnisse kann der Mensch Gott leichter vernehmen und befolgen, und weil er die Menschen der gesellschaftlichen Peripherie immer geliebt hat. Er wurde überzeugt, dass das Leben durch Liebe zusammengehalten und bewegt ist, und so sehnte er sich einfach nach einem Leben, das auf Liebe basiert ist: Er wollte so sehr von Gott erfüllt sein, von der Liebe zu den Menschen und der Welt erfüllt, dass er reine Liebe werde.6 Er hielt die Menschen für grundsätzlich gut, er sah die Menschheit kontinuierlich vervollkommnen, und das Böse, das Übel seien nur erhalten, weil es noch viele gebe, die die Liebe nur wenig kennten. Er kritisierte nie jemanden, sagte nichts Böses über jemanden, sondern begann ganz einfach unter den «einfachen» Leuten zu leben, passte stets auf und schrieb seine Beobachtungen nieder, er bemühte sich, als Friedensbote für diejenigen dazustehen, die Seelen- oder körperliche Not litten. Es war nichts Manieriertes daran, nichts Gekünsteltes, er entwickelte keine Theorie über Einsamkeit, und er hängte seine Lebensumstände nicht an die große Glocke: Er rief nicht ständig aus, wie sehr er allein sein möchte, wie Thomas Merton, er bestrebte die Heiligkeit nicht, denn die Heiligkeit des Daseins war sein Zuhause, er quälte sich nicht mit Unsagbarkeit und er sonnte sich nicht im Bewusstsein seiner eigenen Besonderheit, wie sein Freund bei den Trappisten, sondern er lebte, beobachtete und schrieb. «Was du sagen/kannst/wird/gesagt/sorge dich nicht/wer sorgt sich?/nur so viel/sage ich/dir:/nicht.»7

Er entdeckte ähnliche Züge in den Eigenschaften der Zirkusleute und der griechischen Fischerleute, die nicht besonders redselig waren, wie die Griechen im Allgemeinen, aber sie waren freundlich, und übten ihren Beruf nach ihren weit zurückreichenden Traditionen aus. Er idealisierte sie, aber das wusste er auch selbst. «Wo wohnt Petros?» – auf diese Frage konnten die Inselbewohner jedem Interessenten in der Dichte der gewundenen Straßen in Patmos den Weg weisen (aus irgendeinem Grund bekam Lax den Namen Petros im Griechischen). Am Leben der Fischerleute entdeckte er hauptsächlich die Abdrücke der Weisheit. «Wenn man unter Griechen (und vielleicht besonders unter denen in Kalymnos) lebt, dann lebt man in der Atmosphäre der Weisheit. Wo ist die höchste Stufe der Weisheit unter den Kalymner auffindbar? Ich bin mir fast sicher, im Kreise der Fischerleute. Was sagen sie, was tun sie für Weises? Man soll unter ihnen leben, sie wachsam beobachten, ihnen sorgfältig zuhören, um dadurch allmählich von ihnen lernen zu können. Mögen wir die Fischerkunst erlernen? Wir mögen allmählich die Kunst erlernen, weise zu werden. Unter weisen Menschen lebend erlernen wir stufenweise die Weisheit selbst. Ist die Weisheit erlernbar? Kann jeder weise werden? Ich glaube, fast jeder kann sich in Weisheit vermehren und immer weiser werden, wenn er unter Weisen lebt.»8

Parallel mit der inneren und äußeren Einfachheit formte sich auch seine Dichtung um. Nach Circus wurden vollkommen andere Gedichte geboren. Ein charakteristisches Kennzeichen in der Dichtkunst von Lax wurde die vertikale Anordnung der Wörter, der Wortsilben, manchmal sogar von einzelnen Buchstaben: Je Seite finden wir lediglich Wörter und Silben untereinander gereiht, was eine ungewohnte Aufmerksamkeit des Lesers erfordert. «Ein Stein/ein Stein/ein Stein/in meiner Hand/ein Stein/ein Stein/in meiner Hand/ein Stein/und ich denke/nach.» Dem legendären Öffnungsstück des Bandes New Poems (1962) folgten zahlreiche ähnliche Werke, die mit dem Silben- und Wortrhythmus spielen, Wiederholungen anreihen, den ausgesprochenen Inhalt weitgehend reduzieren, und oft nur Farbennamen anrollen – alle erfordert eine von der eingeübten abweichende Leseart. Sehr typisch für Lax ist, dass er einst gesagt hat, er wolle so schreiben, dass es keinesfalls missverstanden werden könne: Die vertikal angeordneten Wörter fördern dieses Missverständnis tatsächlich wenig. Aber auch nicht das Verständnis, was sich auch daran zeigt, dass viele seiner Verehrer von den Gedichten nach Circus enttäuscht wurden. «Sie haben mich betrübt», äußerte sich zu ihnen Denise Levertov. Lax ließ sich von den unverständigen Reaktionen nicht stören, und auch Merton hatte bei seiner Andeutung recht, diese neuen Gedichte seien erst dann verständlich, wenn man weiß, was es an den leeren Stellen steht. Die Dichtung von Robert Lax entfernte sich vom Treiben der großen Zeitschriften, aber in Avantgarde-Kreisen erlangte sie langsam einen Ruhm.

Die Pioniere der «konkreten Dichtung» sahen den Einsiedler von Patmos gern in ihren eigenen Reihen, er aber bevorzugte lieber die Bezeichnung ‹Minimalist›. Eine große Rolle spielte dabei der minimalistische Maler Ad Reinhardt, dessen auf schwarzen Grund gestrichene schwarze Bilder häufig mit Lax’ Dichtkunst verglichen werden.9 In den Rhythmen ist aber auch Jazz, was Merton und sein Freund während der New Yorker Jahre von spät bis frühmorgens angehört haben, genauso dabei. «Es gab etwas Prophetisches/in seinem Trompetenspiel:/ist man so sehr gut/so soll er eins/mit der Quelle/aller guten Dinge/sein/los!/höher/und höher/und höher/ist man so hoch/so soll er eins/mit der Quelle/aller wahren Segen sein/darum schrien sie/beim Louis’ Überquer/auf höhe Stimmen:/sie dachten/das Dach/öffnet sich/und die Engel/rennen hinein» – schrieb er einmal über Amstrongs Spiel. Die abgeschiedene Improvisation und das gemeinsame Spiel der Jazzmusiker erhob Musik in seinen Augen zur Metapher des Lebens. In den minimalistischen Poemen erscheint gleichzeitig paradoxerweise auch der redselige Kerouac, der durch Ermutigung auf sofortige, spontane Aufzeichnung von Gedanken und Eindrücken Lax ansprach. Als weiterer überraschender Hintergrund für die Gedichte ist J.D. Salinger zu erwähnen, den Lax besonders für seinen Mut zur Benutzung der Alltagsprache schätzte.

Robert Lax lebte still und zurückgezogen auf Patmos, aber er scheint auch noch in seiner gefundenen Heimat Außenseiter zu sein: «hier stehe ich, mein Fuß/ist auf der Erde./Doch bin ich nicht hier.»10 Er wurde auch ein Außenseiter der Literaturwelt – obwohl auch noch ein halbes Jahrhundert nach seinem Abschluss an der Columbia davon die Rede war, dass ihr ehemaliger Student bekannter Dichter wurde, er habe sich aber von der Landkarte entfernt. Die Dichotomie von An- und Abwesenheit, von Verschwinden und Verwurzelung zeigt sich auch an Lax’ Reaktionen auf die literarische Aufnahme seiner Werke. Jedes Jahr unternahm er europäische Reisen, um an Kunstfestivals teilzunehmen, Universitätsvorlesungen zu halten und von seinen Büchern und Gedichten vorzulesen, aber das Ausbleiben des kritischen Empfangs störte ihn scheinbar nicht. Scheinbar. 1971 brachte Robert C. Kenedy eine längere Schrift über Lax’ Dichtung in der wenig bekannten Zeitung The Lugano Review, und die Anerkennung war für den Autor so wichtig, dass er sagte, endlich habe jemand so Vieles über ihn gesagt, was schon längst hätte gesagt werden müssen, dass er am liebsten in Tränen ausbrechen würde. Kenedy stellte tatsächlich viel Wichtiges und Schönes fest. Seiner Ansicht nach gehörten einzelne Stücke des Bandes Circus zu großartigsten englischsprachigen Dichtungen aller Zeiten – das brauchen wir noch nicht unbedingt ernst zu nehmen, die Fortsetzung ist aber ernsthafter. Laut des Kritikers wandeln sich die Alltagsbanalitäten in den mit Wiederholungen beladenen neuen Gedichten in Gesang um, und dienen so der Verwirklichung des Wunders; ebenfalls treffende Bemerkung ist, dass die Gedichte in vieler Hinsicht «antivisionär» seinen, sie seien in erster Linie nicht zu lesen, sondern anzuhören. Lax, sagt er, «reagiert auf unmittelbar dargebotene Erscheinungen, und seine Unschuld ist faszinierend. Als erblickte er die Sachen zum ersten Mal, und sein Dichtungslabor, wo er sich offenbar auskennt, enthüllt verborgene Komponenten dank sorgfältiger Betrachtung des nahe Stehenden. […] Er schafft ehrliche und aufrechte Werke, und seine Denkweise ist so klar wie logische Aufgaben.» Die vertikal angereihten Wörter betonen «die äußerste Einsamkeit der durch gähnende Leere dringenden Stimme», und zeugen davon, dass «alles umformbar ist und symbolisch verstanden werden kann, was mit einem leidenschaftlichen Menschen verbunden wird.» Von besonderer Sensibilität zeugen schließlich die zwei Erläuterungen, laut deren Robert Lax über alltägliche Erfahrungen schreibe, weil er «den Schein des Auserwähltseins vermeiden will», und «Heiligkeit ist für ihn nur insofern auffassbar, soweit sie in allem vorhanden ist.»11 Man könnte Lax’ Kunst auch als die Kunst der Unschuld bezeichnen.

Man stößt erst wirklich auf Schwierigkeiten, wenn man diese unschuldige Kunst der reinen Liebe und Wachsamkeit mit der frommen Literatur und dem Begriff der christlichen und katholischen Dichtung in Verbindung zu setzen versucht. Nicht jeder erkennt die Existenz einer eigenen christlichen Literatur an, aber wenn Zugehörigkeit nach Sprache (englische Literatur), nach Geschlecht (Frauenliteratur), chronologische Reihenfolge (moderne Literatur) zu literarischen Bewertungsaspekten werden können, warum nicht auch religiöse Zugehörigkeit? Problem ist nur, dass kein bekanntes Element der christlichen und katholischen Literatur bei Lax wiederzufinden ist. Keine strömenden Hymnen an Gott oder die Heiligen wie bei Paul Claudel, keine in Gottes Mund gelegten Monologe wie bei Charles Péguy, keine Gott lobenden Spracherfindungen wie bei Hopkins. Selbst die Hagerkeit des ungarischen katholischen Dichters János Pilinszky ist üppiger als die kahle Welt der New Poems, und die Bilder des vorigen erinnern unmittelbarer an die Bibel und die christliche Tradition als die regnenden Silben des letzteren. Es wäre billig zu sagen, dass Lax die pure Heiligkeit des Lebens erfasst: Er hätte für diese Worte höflich und lächelnd den Kopf geschüttelt. Eine andere Form der katholischen Beschaffenheit tritt in seiner Dichtung auf, vielleicht der Gegenpol derer von James Joyce. Die jungen Studenten der Columbia hielten Joyce für den größten Autor, neben Ulysses blätterten sie auch Finnigans Wake immer wieder. Auch der alte Lax ernannt Joyce als der Autor, der die größte Wirkung auf ihn hatte. Vielleicht sollte man diesem Faden nachgehen, wenn man die Religiosität des Dichters von Patmos erkunden möchte: Entscheidend wären dabei sicherlich die Kraft der Sprache, die das Lesen gleichzeitig verhindernde und weiterrückende Einstellung, das die Vielfältigkeit und Einheit der geschaffenen Welt erhellende Sprachverfahren.

Robert Lax verschwand allmählich von seinen Gedichten, im Großteil seiner Werke nach Circus sind keine Spuren des Autors zu finden. Aber auch in seinem Verschwinden war er nicht allein.

«keinen vielerlei Gesang/es gibt nur einen Gesang/danach hüpfen die Tiere/danach schwimmen die Fische/danach geht die Sonne herum/Sterne gehen auf/Schnee fällt/Gras wächst/Gesang hat kein Ende und keinen Anfang/Sänger kann abscheiden/aber Gesang ist ewig/Wahrheit heißt der Gesang/und Gesang ist Wahrheit»

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt testen