Wolfgang Hilbig

erinnerung an einen apfel

weißbesäte wege geh ich unter bäumen voller
apfelblüten im april weiß noch
im sommer saß im sandigen gras
ich im schatten eines baums
irdisch und aß einen apfel
süß sein saft sein fleisch so
weich weiß und vergänglich
sind apfelblüten abends.

*

Es ist bekanntlich sehr sinnvoll, sich nicht nur mit literarischen Neuerscheinungen zu beschäftigen. So viele große alte Bücher gibt es doch, die kaum gelesen werden. Besonders schwer haben es solche, deren Autoren erst vor wenigen Jahren verstorben sind. Die öffentliche Trauer ist schon verebbt, aber eine sensationsheischende Wiederentdeckung steht noch lange nicht an. Da man dieses nun abgeschlossene Werk irgendwie zu kennen meint, sieht man keine Notwendigkeit, es selbst zu lesen. Doch da kann man sich sehr täuschen.

Nun habe ich vor kurzem, zugegeben mit erheblicher Verspätung, angefangen, die Gedichte von Wolfgang Hilbig zu lesen. Sie sind als Teil einer wunderbar gestalteten Gesamtausgabe in einem Band erhältlich. Hilbig war mir bisher nur aus der Ferne bekannt, als ein konsequent nonkonformistischer Autor. In der DDR ist er ebenso unbeirrbar seinen literarischen Weg gegangen wie nach der friedlichen Revolution im wiedervereinigten Deutschland. Höchste Qualität wurde seinen Texten einhellig bescheinigt. Manchmal mischte sich in das Lob eine Spur Herablassung, nämlich wenn betont wurde, dass Hilbig von Herkunft und Profession ein Arbeiter, also in literarischen Dingen ein Autodidakt sei. Zugleich umwehten Hilbig, zumindest in meiner bruchstückhaften Wahrnehmung, Tragik und Geheimnis. Einsamkeit, Bedrückung, Armut und Alkoholsucht kennzeichneten seine Biografie. Dass er in der DDR ausgerechnet als Heizer arbeiten musste, verlieh ihm eine kafkaeske Aura. Aber vielleicht ist das auch nur ein Klischee. In seinem sehr lesenswerten Nachwort jedoch hat der Lyriker Uwe Kolbe empfohlen, man müsse nachvollziehen, was Hilbig vorgelebt habe: «Sich zurückziehen auf ein Gebiet, das nur einem selbst gehört, sich abschließen von der Welt, als sei man ein Verächter derselben.»

Hilbigs gesammelte Gedichte sind eine Schatztruhe. Doch die darin enthaltenen Kostbarkeiten funkeln zumeist sehr dunkel und fremdartig. In diesem Funkeln verschmelzen Gegenwart und Geschichte. Viele Gedichte offenbaren eine innige Verbundenheit mit der romantischen Tradition. Aber sie leisten das gerade Gegenteil dessen, was Friedrich Schlegel programmatisch «die Welt poetisieren» genannt hat. In einem hohen Ton legen sie offen, in welch krasser Weise diese Welt entzaubert worden ist. Wie sie vergiftet wurde. Wie sie vergewaltigt wird. Wie finster es auf ihr ist. Je höher sich der Dichter aufschwingt, umso tiefer lässt er einen in den Abgrund schauen. So jedenfalls mein erster Leseeindruck.

Umso mehr geht mir ein Gedicht nach, das ganz anders wirkt, irgendwie aus diesem Werk herauszufallen scheint. Es stammt aus seinem ersten Lyrikband, der unter dem Titel «abwesenheit» 1979 bei S. Fischer in Westdeutschland erschienen ist. Damals war Hilbig 38 Jahre alt. Diese Verse sind gar nicht dunkel und unglücksgesättigt, nicht hermetisch und schwer zu entschlüsseln, nicht in sich verschlossen und einsamkeitsbestimmt. Das Gedicht beschreibt schlicht die Erinnerung an einen Apfel – etwas, was wohl jeder nachvollziehen kann. Doch wie Hilbig es tut, lässt daraus etwas Einzigartiges, fast Epiphaniehaftes werden. Das Ich, das sich hier ausspricht, geht einen Weg im Frühling, der etwas Himmlisches hat. Er ist weiß. Der Blick zu den Apfelblüten oben im Geäst lässt vor dem inneren Auge Erinnerungsbilder an den Spätsommer lebendig werden, als ein reifer Apfel eine unvergleichliche Süße schenkte. Nicht nur als Theologe denkt man da an die verbotene Frucht des Paradieses. In der Tat, dieses Gedicht feiert einen paradiesischen Moment – mitten auf dieser Erde. Aber nichts ist hier übernatürlich. Denn die Natur ist in dieser Gestalt, diesem süßen, weißen, weichen Fleisch, selbst das Paradies, in dem nichts böse oder verboten ist. Nur vergänglich ist es, so kurzlebig wie Apfelblüten. Doch das spricht nicht gegen es, ist nur die Kehrseite seiner Kostbarkeit. Und diese wird hier «anwesend», in der Sprache der Poesie von Wolfgang Hilbig.

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