Seit der Auflösung der letzten Konfessionsstaaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, das bereits in mehreren Schüben konfessionelle Durchmischungen der Bevölkerung brachte, ‹Mischehen›, wie es damals und später noch hieß, eingeschlossen, ist in ihr auch eine wachsende Entkonfessionalisierung erkennbar. 1988, ein Jahr vor der deutschen Wiedervereinigung, schrieb Thomas Nipperdey in seinem vielbeachteten Rück-, Aus- und Überblick über die «Religion im Umbruch»: «Ein großer Vorgang in der Geschichte der Deutschen, nach rückwärts wie vorwärts übers Kaiserreich hinausreichend, ist das, was wir einerseits die Entkirchlichung und andererseits die Entchristianisierung nennen. Die Deutschen hören auf, in ihrer Mehrheit Christen zu sein, oder wenigstens: sich als Christen zu verstehen. Dieser Tatbestand ist 1914 noch nicht so augenfällig wie heute, aber im Vergleich zu 1815 oder 1850 z.B. ist die Entwicklung schon fortgeschritten – weniger im katholischen, viel stärker im protestantischen Bereich.» Was heißt «wie heute»?
Konfessionslose und Konfessionsfreie
35 Jahre später – mit der deutschen Wiedervereinigung, die auch (vergebliche) Hoffnungen auf eine Neuverkirchlichung in Ostdeutschland auslöste – scheint sich die hier gemeinte Entwicklung zugespitzt und im katholischen Bereich fortgesetzt zu haben. Mit einem Schlag war das um die Bevölkerung der ehemaligen DDR erweiterte ‹neue Deutschland› konfessionsloser geworden – die betreffenden Personen, insbesondere in Ostdeutschland, die noch nie Mitglied einer Kirche und somit auch nicht aus ihr ausgetreten waren, bezeichnen sich gern auch als ‹konfessionsfrei›. Auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik gab es 1988 laut Selbstauskunft (ALLBUS) 8 Prozent Konfessionslose neben 43 Prozent Mitgliedern der römisch-katholischen und 46 Prozent Mitglieder der evangelischen Landeskirchen. 1992 waren es 12 Prozent Konfessionslose, auf dem ehemaligen Territorium der DDR 66 Prozent Konfessionsfreie, auf dem Gesamtgebiet der ‹neuen› Bundesrepublik im gleich Jahr mithin dann schon 30 Prozent ‹Konfessionslose› und ‹Konfessionsfreie›. Das hohe ‹Felsengebirge› an Konfessionsfreien in Osten Deutschlands weist kaum Erosionsspuren auf. Der Religionsmonitor von 2008 ließ dann sogar die Schlussfolgerung zu: «Der Osten Deutschlands wurde in der Zeit der DDR nicht nur entkirchlicht, sondern auch der Religiosität weitgehend entleert» (Monika Wohlrab-Sahr). Die meisten Konfessionsfreien wohnen laut einer Umfrage von 2018 (ALLBUS) mit jeweils 80 Prozent in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, gefolgt von Sachsen (69%) und Thüringen (57%). Ähnliche Mehrheitswerte erreichen nur Berlin (68%) und Schleswig-Holstein (52%).
Schon bald nach der deutschen Wiedervereinigung fiel auf, dass man die kirchlich nicht organisierten Ostdeutschen und Westdeutschen nicht ‹in einen Topf› werfen sollte, da sie sich in vielerlei Hinsicht unterschieden. Wie bereits angedeutet, hatten unter den religiös Nichtorganisierten in Westdeutschland drei Viertel früher einer Kirche angehört, was für Ostdeutschland nur für die Hälfte der religiös Nichtorganisierten galt. Diese gehörten bereits in der zweiten Generation keiner Religionsgemeinschaft an. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass sich die Mehrheit von ihnen – weit mehr als in Westdeutschland – als dezidiert nicht-religiös beschrieb und – bis heute – einem säkularistischen Weltbild mit einer starken Wissenschaftsgläubigkeit folgt. Auch stellten sich diese Konfessionsfreien als familienorientierter als die westdeutschen Konfessionslosen heraus. Jene neigten in ihrer Parteienpräferenz zur PDS, diese zur Partei ‹Bündnis 90/Die Grünen›, aber auch zu Rechtsradikalen. Hier wie dort standen sie der CDU/CSU deutlich distanzierter gegenüber, auch der FDP, während sie gegenüber der SPD nicht vom Bevölkerungsdurchschnitt abwichen. 1995 schon fasste Karl-Fritz Daiber («Religion unter den Bedingungen der Moderne») die weiteren Ergebnisse seines Vergleichs wie folgt zusammen: «Übereinstimmungen zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es eindeutig hinsichtlich der Altersgliederung. Sowohl im Osten wie im Westen sind Jüngere bis zu 44 Jahren unter den religiös Nichtorganisierten überrepräsentiert. Dies gilt auch für den Zusammenhang zwischen Bildung und Nichtzugehörigkeit zu einer religiösen Gruppierung: im Osten wie im Westen sind unter den religiös Nichtorganisierten diejenigen ohne Schulabschluss oder mit Volks- und Hauptschulabschluss unterrepräsentiert […] Deutlich überrepräsentiert sind mittlere Bildungsabschlüsse […], wiederum im Westen ausgeprägter als im Osten. Höhere Bildungsabschlüsse sind im Westen schwach überrepräsentiert, im Osten so gut wie nicht. Hier scheint sich die Anziehungskraft der Kirchen als Sammelbecken für oppositionelles Denken ausgewirkt zu haben. Eher überraschend ist, daß sowohl in Westdeutschland wie in Ostdeutschland Menschen mit mittleren Bildungsabschlüssen die stärkste Distanz zu organisierten Religionen entwickeln».
Wachsende ‹Berge› und ‹Hügel› von religiöse Nichtorganisierten
Im Osten wie im Westen blieben seitdem Eintritte oder Wiedereintritte in die Kirchen Einzelfälle und konnten bis heute die Entkirchlichungskurve nicht umkehren. Diese bildet wachsende Austrittszahlen ab, die mit dazu beitragen, dass der statistische ‹Berg› an Konfessionslosen in der gesamtdeutschen Bevölkerung, seit der Wiedervereinigung kräftig angeschwollen, inzwischen massig in die Höhe ragt. Laut der ‹Forschungsgruppe Weltanschauung in Deutschland› (Fowid), die ein Projekt der laizistisch eingestellten Giordano Bruno-Stiftung ist, hatte dieser Berg bereits 2006 die Ein-Drittel-Marke in der deutschen Bevölkerungsstatistik überschritten. Schon um die Jahrtausendwende war der Bevölkerungsanteil der beiden großen Kirchen unter die Zwei-Drittel-Marke gefallen. Die EKD gab für das Jahr 2000 ihren Bevölkerungsanteil mit 32,4 Prozent an, die DBK mit 32,6 Prozent. Derzeit (2022) gipfelt sich die Gesamtkurve der Konfessionslosen und -freien auf 42 Prozent auf. Die Quote der kirchlich organisierten Christinnen und Christen sinkt damit in den letzten fünf Jahren von 57 (2017) auf heute knapp 53 Prozent, die Gläubigen der orthodoxen Kirchen und anderer christlicher Gemeinschaften (Freikirchen) mitgezählt.
Wer keiner religiösen Organisation angehört, kann – ob politisch aktiv oder nicht – durchaus ‹religiös› oder ‹christlich› sein bzw. sich auf diese Weise selbstbeschreiben (‹believing without belonging›). Dies gilt auch umgekehrt (‹belonging without believing›), und an basalen Merkmalen des Christlichen gemessen, kann es sogar Kirchenmitglieder geben, denen christliche Glaubensvorstellungen abgehen, wie wir in einer Studie in Hessen detailliert sehen konnten (Michael N. Ebertz/Meinhard Schmidt-Degenhard, «Was glauben die Hessen?», 2014): ‹Konfessionslosigkeit› also auch unter Kirchenmitgliedern! Vor 65 Jahren hatte Joseph Ratzinger bereits über die «neuen Heiden und die Kirche» einen interessanten Beitrag in der Zeitschrift Hochland (51/1958) verfasst.
Erodierende Kirchenbindung
Tatsächlich erodiert die gefühlte Kirchenbindung auch unter Kirchenmitgliedern, so die «Ergebnisse einer repräsentativen Befragung des Sinus-Instituts unter Deutschlands Katholiken» von 2018. Mehr als ein Drittel (38%) aller katholisch Getauften sagt im Rückblick, sich zwar mit der Kirche verbunden zu fühlen, dass aber die Bindung nachgelassen habe; und 6 Prozent äußern sogar, sich «weniger denn je» mit der Kirche verbunden zu fühlen. Diesen ‹schwächelnden› Mitgliedern steht nur eine – vielleicht ‹trotzige› – Minderheit entgegen, die «mehr denn je mit der Kirche verbunden» (7%) zu sein glaubt. Auch weisen die Befunde der Sinus-Studie von 2018, auf die ich mich auch im Folgenden (neben Allensbacher Daten von 1999) beziehe, kirchenintern ausgeprägte Distanzierungsphänomene auf:
1.) Nicht einmal jede(r) fünfte katholisch Getauften akzeptiert für sich inzwischen die Selbstbeschreibung, «gläubiges Mitglied der Kirche» zu sein und sich «mit ihr eng verbunden» zu fühlen. Das waren vor gut 20 Jahren (1999) auch nicht viel mehr (18%). Unter diesen Mitgliedertyp der ‹eng Verbundenen› (16%) sind überdurchschnittlich viele über 66-Jährige (29%), Frauen (19%) und Menschen mit unteren Bildungsabschlüssen(22%). Hochgebildete (10%), Männer (14%) und die beiden jüngsten Altersklassen (18-29: 9%; 30-49: 12%) sind unter den ‹eng Verbundenen› nur unterdurchschnittlich vertreten.
2.) Zum Mitgliedertyp der ‹kritisch Verbundenen› werden diejenigen Katholikinnen und Katholiken gerechnet, die von sich sagen: «Ich fühle mich mit der Kirche verbunden, auch wenn ich ihr in vielen Dingen kritisch gegenüberstehe». Das waren 1999 erheblich weniger (33%), ordnen sich doch heute 45 Prozent diesem Typ zu, quer durch alle Kategorien, mit Ausnahme der Jüngsten (37%).
3.) Mehr als jede(r) Fünfte unter den katholisch Getauften (21%) definiert sich als kirchenunabhängig und sagt: «Ich fühle mich als Christ oder Christin, aber die Kirche bedeutet mir nicht viel». Das waren 1999 erheblich mehr (33%), möglicherweise haben sie inzwischen ihre Kirchenmitgliedschaft aufgekündigt. Unterdurchschnittlich häufig ordnen sich diesem Typ der ‹Kirchenunabhängigen› die über 66-Jährigen (14%) zu, überdurchschnittlich häufig dagegen die Jüngsten (29%).
Von der – auch für den Staat so wichtigen – reproduktiven Generation der jungen Erwachsenen unter den katholisch Getauften sieht sich mithin nicht einmal mehr die Hälfte (46%) mit der Kirche – ‹eng› oder ‹kritisch› – verbunden, und ein knappes Drittel (29%) begreift sich als kirchenunabhängig. Das fehlende Viertel dieser jüngsten Erwachsenenklasse gibt an, seine religiösen Bedürfnisse «ganz individuell, jenseits der bestehenden Religionen» (9%) zu leben, «keine Religion» zu brauchen (6%), auch ohne Christentum religiös zu sein (4%) oder sich in religiösen Dingen unsicher zu fühlen (6%). Zusammen mit den jungen Erwachsenen haben auch die 30-49-Jährigen eine über dem Durchschnitt (20%) liegende Austrittneigung (25%) und stehen nur unterdurchschnittlich für die Kindertaufe ein (52 vs. 60%). Summarisch gesagt, sehen sich die jungen Erwachsenen auch mit der Kirche vor Ort nur unterdurchschnittlich verbunden. Sie unterstellen auch weniger, dass die Kirchensteuer sinnvoll verwendet wird (20 vs. 31%). Weniger als der Durchschnitt sehen sie sich hinter den Werten der Kirche stehen (45 vs. 56%) und wissen sich auch weniger durch kirchliche Veranstaltungen inspiriert (30 vs. 40%). Allerdings glauben auch die jungen Generationen unter den katholisch Getauften mehrheitlich «an ein Leben nach dem Tod» (60%) und «an Jesus Christus» (61%), allerdings nur 54 Prozent an einen «Gott, der sich in Jesus zu erkennen gegeben hat». Viele von ihnen schätzen wie auch die älteren Generationen die Kirche als soziale Dienstleisterin und als rituelle Dienstleisterin von Kasualien, mehrheitlich auch, was vielleicht verwundern mag, «die Tradition und Rituale der katholischen Kirche» (56%). Überdurchschnittlich meinen sogar 40 Prozent der jüngsten Altersklasse der Katholikinnen und Katholiken, dass «die Bedeutung der Religion in der Gesellschaft zunehmen wird». Aber sie begründen ihre gelockerte Kirchenmitgliedschaft weitaus pragmatischer und halten sie in einer Multioptionsgesellschaft wie der unseren weniger als die ältere Generation für alternativlos und unverzichtbar: «Ich bin Kirchenmitglied, weil es keine Alternative zur katholischen Kirche gibt» (18-29 Jahre: 29%, 66+ Jahre: 50%), «Ich bin Kirchenmitglied, weil es keinen Glauben ohne Kirche geben kann» (18-29 Jahre: 24%, 66+ Jahre: 48%). Wenn immer mehr junge katholische Kirchenmitglieder sagen, dass es zu ihrer Kirche alternative Optionen gibt, ist dies auch in den politischen Parteien, ihren Fraktionen in den Parlamenten und in den Regierungen bekannt. Die Konfessionskirchen sind auf eine Art religiösen Markt gekommen, gegeneinander ausspielbar, etwa in Fragen der Geschlechterordnung oder – auch und gerade – in ethischen Fragen an den Grenzen des Lebens (legale Abtreibung, legaler Suizid).
Geburtskohorten-Säkularisierung
Für Westdeutschland scheint mir eine der schlüssigsten Erklärungen (nicht die einzige!) für die Aufgipfelung der Konfessionslosen und die intergenerationelle Erosion der Kirchenbindung die empirische Beobachtung der sogen. ‹Kohorten-Säkularisierung› zu sein, dass also «jede neue Generation etwas weniger religiös ist als die vorhergehende», so heißt es in einer neueren Schweizer Studie («Religionstrends in der Schweiz», 2022). Demnach werden jüngere Generationen jeweils weniger stark religiös sozialisiert als ehedem die älteren Generationen. Dieser intergenerationelle Prozess abnehmender Kirchenbindung scheint heutzutage und hierzulande einen Kipppunkt erreicht zu haben. Einige meiner der Schweizer Kollegen und Kolleginnen interpretieren ihn in der besagten Studie wortwörtlich als einen «Zerfall von religiösen Institutionen». Ich selbst habe jüngst nicht das Ende ‹der› Kirche, aber die Erosion einer ganz bestimmten institutionellen Sozialgestalt von Kirche konstatiert, nämlich der ‹Nachwuchskirche› («Entmachtung. 4 Thesen zur Gegenwart und Zukunft der Kirchen», 2021). Herkömmlicherweise gewann sie ihre Mitglieder quantitativ wie qualitativ in Abstimmung mit den Familien – hier vollzieht sich ein Paradigmenwechsel.
Der Wandel betrifft auch das weitere Institutionsgefüge der Kirche, in das sie eingebettet war (ihr Verhältnis zu den Familien, zur Ehe, zur Schule, zur Universität, zum Staat). Zwar beweist «die Tatsache, dass die Staatsgewalt mit den Kirchen Verträge auf der Grundlage formaler Gleichberechtigung abschließt, […] dass sie bis heute nicht Körperschaften oder Interessengruppen wie andere geworden sind» (Wolfgang Reinhard, «Geschichte der Staatsgewalt», 2000); aber die Fortgeltung der vertraglich gültigen Vereinbarungen wird doch inzwischen erheblich in Frage gestellt, auch – im Anschluss an Papst Benedikts Freiburger Entweltlichungsempfehlungen – aus innerkirchlichen Kreisen. Die außerkirchlichen Kreise unterstützen solche Entflechtungspostulate, d.h. eine Entweltlichung der Kirche durch Verweltlichung bzw. Entkirchlichung der Welt, von Politik und Gesellschaft.
Kirche aus politischer Perspektive
Aus der Perspektive der Politik wird die Kirche vorwiegend als gesellschaftspolitischer Akteur gesehen, der z. B. daraufhin abgetastet wird, inwieweit er …
1.) … intern gegenüber seinen Mitgliedern verpflichtungsfähig ist,
2.) … über Chancen verfügt, bindende Entscheidungen des politisch-administrativen Systems zu beeinflussen oder zu irritieren, und
3.) … Loyalitäten gegenüber dem politisch-administrativen System und einzelnen Parteien (Wählerstimmen) zu generieren vermag,
4.) … als gesellschaftspolitischer Bündnispartner in Frage kommt und
5.) … in der Lage ist, sozialintegrative Leistungen zu erbringen.
Wechselseitige politische Loyalitäten
Greift man zunächst den 3 Punkt heraus, zeichnen sich zwischen den Wählerschaften und den Abgeordneten im Deutschen Bundestag bzw. einigen Fraktionen im Deutschen Bundestag deutliche Korrespondenzen ab, die in Richtung wachsender Konfessionslosigkeit weisen. Unter den Abgeordneten wächst der Anteil der explizit Konfessionslosen allerdings nicht – wie in der Gesamtbevölkerung – zu einem ‹Berg›, sondern zu einem ‹Hügel› heran, denn er stieg seit 1990 nur von 0,5 Prozent (1990) auf 10,2 Prozent (2021). Der Anteil der möglicherweise – wie manchmal unterstellt – implizit Konfessionslosen, die keine Angaben zu ihrer Religionszugehörigkeit machen, ist sogar gefallen. Waren laut Datenhandbuch des Deutschen Bundestags in der vergangenen Legislaturperiode 4 Prozent konfessionslos, 0,4 Prozent atheistisch und machten 46 Prozent zu ihrer Religionszugehörigkeit keine Angaben, sind inzwischen laut ‹Statista› explizit konfessionslos: 10,2 Prozent, atheistisch 0,3 Prozent, ohne Angaben 33,7 Prozent. Aktuell konzentrieren sich die explizit Konfessionslosen überdurchschnittlich auf Die Linke (konfessionslos: 23,1%; ohne Angaben: 61,5%), auf die AfD (konfessionslos: 19,5%; ohne Angaben: 53,7%), teilweise auf Bündnis 90/Grüne (ohne Angaben: 55,1%), auf die FDP (konfessionslos: 16,3%) und auf die SPD (ohne Angaben: 38,3%). Die CDU/CSU hat die wenigsten Abgeordneten, die sich als konfessionslos bezeichnen (1%) bzw. keine Angaben zu ihrer Religionszugehörigkeit machen (7,6%). Die ‹bekennenden› Christinnen und Christen sind dort am häufigsten vertreten.
Folgt man einer repräsentativen Umfrage von 2018 (ALLBUS), ist auch das ‹Vertrauen in die Kirchen› nach parteipolitischen Präferenzen in der Wahlbevölkerung unterschiedlich verteilt: Das Misstrauen (‹sehr wenig› oder ‹gar kein Vertrauen›) sitzt am tiefsten bei den Sympathisanten der AfD (60,8%), der Linken (60,7%) wie der FDP (58%), gefolgt von denjenigen der SPD (42,9%) und der Grünen (41,3%). Am wenigsten ist Kirchenmisstrauen unter den Anhängern der CDU/CSU (29,6%) anzutreffen. Gefragt, welche Bedeutung in der Anhängerschaft der jeweiligen Parteien ‹Religion und Glauben› zugewiesen wird (‹sehr große›/‹große› oder ‹geringe›/‹gar keine›), findet sich laut einer Erhebung von Statista (2022) allein in der CDU/CSU eine knappe Mehrheit (52%), für die das Thema von «Bedeutung» (‹sehr große›/‹große›) ist, was immer auch damit gemeint sein mag. In der Anhängerschaft der anderen Parteien sinkt der dementsprechende Anteil: FDP (41%), SPD (36%), Grüne (33%), AfD (31%), Linke (13%). Eine Auswertung der Stimmabgaben bei den letzten beiden Bundestagswahlen (2017/2021) zeigt bei den Konfessionslosen eine überdurchschnittliche Neigung zu den extremen Parteien des politischen Spektrums, wie die ‹Forschungsgruppe Wahlen› herausgefunden hat. Bei der Bundestagswahl 2021 gab mehr als jede(r) Fünfte der Konfessionslosen seine Stimme der Partei Die Linke (8%) oder der AfD (14%), während von den katholischen bzw. evangelischen Kirchenmitgliedern diese Parteien nur gut jede(r) Zehnte (Linke: 3%; AfD: 8% bzw. Linke: 4%; AfD: 9%) gewählt hat. 2017 hatte sogar knapp jede(r) der Konfessionslosen die extremen Parteien (Linke: 15%; AfD: 17%) gewählt, während sich von den katholischen bzw. evangelischen Kirchenmitgliedern nur 5 bzw. 7 Prozent für Die Linke und nur 9 bzw. 11 Prozent für die AfD entschieden.
Konfessionslose gaben auch mehrheitlich der derzeitigen ‹Ampelkoalition›, bestehend aus SPD, den Grünen und der FDP, ihre Stimmen (23%, 18%, 12%), aber auch die Mehrheit der protestantischen Kirchenmitglieder (30%, 15%, 11%) traf eine solche Wahlentscheidung. Diese Mischung ist auch im Kabinett repräsentiert: Olaf Scholz ist der erste konfessionslose Bundeskanzler, Robert Habeck ist aus der ev. Kirche ausgetreten. Seinen Amtseid hatte auch er – wie übrigens alle Minister der Grünen – ohne Gottesbezug geleistet. Annalena Baerbock ist evangelisches Kirchenmitglied, auch Volker Wissing. Der FDP-Chef Christian Lindner ist aus der Kirche ausgetreten, wie Karl Lauterbach aus der römisch-katholischen. Cem Özdemir ist – wie er einmal sagte – nicht-praktizierender Muslime. Der ‹Ampelregierung› gelten die Kirchen wohl nicht als priorisierte Bündnispartner (Punkt 4). Allerdings lässt sie sich auch nicht als ‹atheistisch› oder ‹antiklerikal› wie die zersplitterte Landschaft säkularistischer Organisationen charakterisieren. Einige von ihnen haben sich unter dem Dachverband des ‹Zentralrats der Konfessionsfreien› zusammengeschlossen, um das deutsche Modell der kooperativen Trennung von Staat und Kirche in ein laizistisches Modell umzugestalten, was sie 2022 in zwölf Thesen («Die säkulare Ampel») zum Ausdruck gebracht haben. Auffällig ist, dass die Interessen der Konfessionslosen und Konfessionsfreien kaum zu organisieren sind. Nicht Mitglied des Zentralrats geworden ist zum Beispiel der mitgliedschaftsstärkste «Humanistische Verband Deutschlands», weil selbst – ähnlich wie die Kirchen – als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfasst. Es ist deshalb auch nicht angeraten, von der ‹Konfession› der Konfessionsfreien zu sprechen, da eine solche Bezeichnung mehr Konsens unterstellt, als vorhanden.
Politische Integration
Einer alten, schon vorchristlichen Tradition politischen Denkens (Marcus Terentius Varro) entsprechend, wird Religion die Funktion der gesellschaftlichen Integration zugewiesen, so auch den Kirchen. Diese Zuschreibung kommt noch in den früheren Koalitionsverträgen zum Ausdruck. So heißt es zum Beispiel im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und der SPD für die 18. Legislaturperiode, in dem die Kirchen bereits im Inhaltsverzeichnis und in der Präambel Erwähnung finden: «Wir pflegen den Dialog mit den christlichen Kirchen, Religionsgemeinschaften und religiösen Vereinigungen. Sie bereichern das gesellschaftliche Leben und vermitteln Werte, die zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft beitragen» (S. 11, auch 113). Die Rede ist von einer «christlichen Prägung unseres Landes» und davon, dass die Kirchen «unverzichtbar» seien, «nicht zuletzt im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, bei der Betreuung, Pflege und Beratung von Menschen sowie in der Kultur. Zahlreiche Leistungen kirchlicher Einrichtungen für die Bürgerinnen und Bürger sind nur möglich, weil die Kirchen im erheblichen Umfang eigene Mittel beisteuern und Kirchenmitglieder sich ehrenamtlich engagieren. Wir halten daher auch am System der Kirchensteuern fest, damit die Kirchen Planungssicherheit haben. Nur so können sie die eigenfinanzierten Leistungen zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes weiter sicherstellen. Zugleich wollen wir die kirchlichen Dienste weiter unterstützen. Dabei achten wir die kirchliche Prägung der entsprechenden Einrichtungen» (S. 13). Außerdem habe sich das Staatskirchenrecht «bewährt», das als «eine geeignete Grundlage für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften» beurteilt wird.
Beim genauen Lesen und Vergleichen wird nun auffällig, dass im Koalitionsvertrag von 2021 auf das vinculum societatis nicht mehr angespielt wird, die Kirchen als Elemente des gesellschaftlichen Zusammenhalts ausgeschwiegen werden. Zwar werden die «Kirchen und Religionsgemeinschaften» als «ein wichtiger Teil unseres Gemeinwesens» etikettiert, aber sie leisteten nur noch «einen wertvollen Beitrag für das Zusammenleben und die Wertevermittlung in der Gesellschaft» (S. 88), nicht aber mehr für den Zusammenhalt, wovon im früheren Koalitionsvertrag explizit die Rede war. Eine Zusammenleben – etwa das «Zusammenleben von Weidetieren, Mensch und Wolf», das der Koalitionsvertrag behandelt (S.30) – ist noch kein Zusammenhalt. Dieser Begriff findet im jüngsten Koalitionsvertrag durchaus Verwendung, wenn betont und sprachlich unterschieden wird, dass «friedliches Zusammenleben und Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft erfordern, Unterschiede zu achten und divergierende Interessen konstruktiv auszuhandeln» (S. 82). Der «Sport», so heißt es, «stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und ist Mittler für demokratische Werte» (S. 90). Den Kirchen wird diese Integrationsleistung offensichtlich oder zumindest stillschweigend nicht (mehr) zugetraut. Sie werden im Zusammenhang mit einer «Strategie für gesellschaftlichen Zusammenhalt» (S. 95) nicht (mehr) assoziiert. Die frühere Wortverbundwahrscheinlichkeit ‹Kirche + Zusammenhalt› ist in diesem Dokument der regierenden Ampelkoalition gelöscht. So wird auch nicht mehr davon gesprochen, dass die Kirchen unverzichtbar seien, sie werden bloß noch geschätzt und geachtet (S. 88). Außerdem soll das kirchliche Arbeitsrecht an das staatliche angeglichen werden (S. 56) und für die «Ablösung der Staatsleistungen» (S. 88) ein Rahmengesetz verabschiedet werden. Das Staatskirchenrecht wird als «Religionsverfassungsrecht» (S. 88) bezeichnet, das «im Sinne des kooperativen Trennungsmodells» weiterentwickelt werden soll, nicht zuletzt um «die Beteiligung und Repräsentanz der Religionsgemeinschaften, insbesondere muslimischer Gemeinden» (S. 88) zu verbessern. Wie auch andere Politiker pflegen diejenigen der Koalitionsparteien immer weniger das Selbstbild Deutschlands als einer kulturchristlichen Wertegemeinschaft, sondern bevorzugen das Leitbild der pluralen Gesellschaft. Nach der religionspolitischen Verschiebung durch die Weimarer Reichsverfassung von der hierarchischen Überordnung des Protestantismus zu seinem Nebeneinander mit dem Katholizismus erleben wir ein Jahrhundert später eine neue religionspolitische Verschiebung: Die Enthierarchisierung des kirchlichen Christentums zugunsten seiner Nebenordnung mit der Konfessionsfreiheit einerseits und mit dem Islam andererseits.
Soziale Integration
Dieser Befund repräsentiert nicht nur die gewandelten Positionen der weitgehend konfessionsfreien Regierungsmitglieder und ihrer Wählerinnen und Wähler, sondern reflektiert auch die realen religiösen Verhältnisse in der gesamtdeutschen Bevölkerung: die Auflösung der sozialen Integrationsfunktion der Kirchen. Sie verbinden nicht mehr Ost- und Westdeutschland durch ein gemeinsames christliches Band, das als Referenzwert mobilisierbar wäre. Überwiegend konfessionslos sind inzwischen viele Großstädte auch in West-Deutschland geworden, auch historisch gesehen allen voran die nördlichen Stadtstaaten Hamburg und Berlin. Aber auch im Südwesten verliert z.B. Stuttgart den Status einer traditionell evangelisch geprägten Stadt immer mehr, gehören doch (seit 2015) nur noch knapp 50% der gemeldeten Einwohner Stuttgarts der evangelischen oder der römisch-katholischen Kirche an und nimmt die Zahl der Einwohner mit einer anderen oder keiner Religionszugehörigkeit deutlich zu. Ende 2015 berichtete das Statistische Amt Münchens, dass der Anteil sowohl der Protestanten (11,9%) als auch der Katholiken (33,1%) alljährlich sinkt, während die Anteile der Einwohner mit keiner oder einer anderen Religionszugehörigkeit anwachsen. Auch in Köln gibt es inzwischen nur noch gut 40 Prozent Katholische (rd. 30%) und Evangelische (rd. 12%) zusammen. Im Blick auch auf die Migrationsbewegungen nach Deutschland hatte der «Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration» in seinem Jahresgutachten vom April 2016 eine Herausforderung formuliert, die in Deutschland immer öfter auf der religionspolitischen Tagesordnung stehen werde: «Wie werden wir», so heißt es in dem Gutachten, «in Zukunft unser Zusammenleben in Deutschland gestalten angesichts der religiösen Pluralisierung, die mit Einwanderung verbunden ist, wenn wir zugleich in einer Gesellschaft leben, in der der Anteil nicht gläubiger Menschen wächst?» Offensichtlich sei, so heißt es weiter, dass der «früher […] vertretene religionspolitische Weg, den ‹klassischen› und ‹staatstragenden› Religionen (insbesondere dem Christentum) zahlreiche Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten im öffentlichen und staatlichen Raum zu garantieren, diese anderen (‹staatsfernen›) Religionen aber vorzuenthalten, […] mittlerweile an Überzeugungskraft und Unterstützern verloren [hat]. In einer […] für Diskriminierung sensiblen Gesellschaft ist eine solche Politik zunehmend fragwürdig geworden.» Das neue Schlagwort heiße «religionspolitischer Multikulturalismus».
Interne Verpflichtungsfähigkeit der katholischen Kircheh
Greifen wir noch Punkt 1 heraus, wird das Urteil schon angesichts der oben erwähnten heterogenen und geschwächten Bindung der Kirchenmitglieder eher nüchtern ausfallen. Selbst auf die Compliance gegenüber den kircheneigenen Minimalnormen, den sogenannten Kirchengeboten, darunter die im kanonischen Recht und im Weltkatechismus normierte Pflicht zum Besuch der Sonntagsmesse oder zur Jahresbeichte, kann sich heute kein Kleriker mehr verlassen. Die massiv gesunkene Nachfrage nach der Ohrenbeichte wird in den «Zahlen und Fakten» der Deutschen Bischofskonferenz auffälligerweise ignoriert. Auch die Buße zählt ja zu den sieben Sakramenten und wird kirchenrechtlich als «Hoheitsakt» verstanden. Dieses Sakrament, um «sich periodisch seiner Sünden zu entlasten», war einmal, so Max Weber, das «gewaltigste […] Machtmittel des Klerus.» Heutzutage scheint es hierzulande ebenso stumpf geworden zu sein, wie die anderen Heilsgüter an Attraktivität verloren haben. Dem vom Klerus zugestandenen Recht der Gläubigen, aus den «geistlichen Gütern der Kirche, insbesondere dem Wort Gottes und den Sakramenten, Hilfe von den geistlichen Hirten zu empfangen», wie es im Kirchenrecht heißt, steht offensichtlich ein massiv gesunkener Heilsbedarf gegenüber, dessen Befriedigung durch den Priester vermittelt wird. Die meisten Kirchenmitglieder bestätigen die mit beiden Sakramenten verbundene «exklusive Identität» (Papst Franziskus) des Priesters, sein sakralisiertes amtliches Gruppencharisma, nicht mehr, indem sie die Nachfrage nach seiner rituellen Arbeit einstellen oder dann selbstaktivieren, wenn ihr Wunsch sie danach weckt. So lassen sie sich nicht mehr auf eine Rolle des Normempfängers reduzieren, verwandeln sie sich zu Kundinnen und Kunden mit eigensinnigen materiellen und ideellen Interessen, etwa an der Sakralisierung ihrer familialen Sozialbeziehungen und von (kritischen) Lebensereignissen. Diese selbstbestimmten Laienkunden drehen den Spieß um, würde man in anderen Kontexten sagen, sanktionieren den Klerus, diktieren ihm die rituellen Spielregeln. Aus Angst, noch diese Nachfrager und Nachfragerinnen zu verlieren, wurden sie inzwischen seitens einiger theologischer Spezialisten und kirchlicher Amtsträger euphemistisch zu «Kasualienfrommen» aufgewertet. Dabei wird ausgeblendet, dass diese doch vor nicht allzu langer Zeit einer Abwertung als ‹Laue›, ‹Karteileichen› oder ‹U-Boot-Katholiken› sicher sein konnten. Freilich wurde das negative Vorzeichen von gestern nicht aus heiterem Himmel in ein positives umgebucht. Man mag diese bedauern, gar im traditionalistischen Eifer bekämpfen, oder auch nicht: Diese Umbuchung steht für die erheblich geschwundene Verpflichtungsfähigkeit im Innern der Kirche im Verhältnis zu den Laien. Auf den darin zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen Prozess der ‹funktionalen Demokratisierung› (Norbert Elias), den wir auch im Verhältnis der Geschlechter und zwischen Kindern und Eltern beobachten können, hat die kirchliche Institution bis heute keine Antwort gefunden, wie auch die massiven Konflikte um den ‹Synodalen Weg› in Deutschland zeigen.
Jene ‹Umbuchung› mag auch damit zusammenhängen, dass in der Kirche nicht nur ihr oben genanntes Sozialisationskonzept geschwächt wurde, sondern sich auch ihr Sanktionskonzept aufgelöst hat. Dieses war mit der von ihr gepflegten eschatologischen Vorstellungswelt verbunden, von der «kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist» (Ulrich Ruh). So mag zwar im Weltkatechimus noch das alte eschatologische Drohpotential (der ‹Hölle›) Gültigkeit haben, aber es hat im gesellschaftlichen Prozess der Zivilisation seine Plausibilität und darüber seine faktische Geltung verloren, wird in den Predigten seit den 1960er Jahren ausgeschwiegen, wie ich in einer Langzeitstudie gezeigt habe («Die Zivilisierung Gottes», 2004). Von den Predigern selbst nicht mehr geglaubt, vermag es auch nicht mehr als «oberstes geistiges Führungssystem» (Arnold Gehlen) die Lebensführung der meisten Kirchenmitglieder zu steuern.
Ein anderes Beispiel für die mangelnde Verpflichtungsfähigkeit zeigte sich am Umgang mit den römischen Anweisungen an katholische Politiker und Politikerinnen, die eherechtliche Legalisierung gleichgeschlechtlicher Paarbeziehungen zu verhindern. In seinem Nachsynodalen Schreiben «Amoris Laetitia» von 2016 hat der Papst mit einem Zitat seiner Vorgänger Benedikt XVI. und Johannes Paul II. wortwörtlich zum Ausdruck gebracht, dass «es keinerlei Fundament dafür [gibt], zwischen den homosexuellen Lebensgemeinschaften und dem Plan Gottes über Ehe und Familie Analogien herzustellen, auch nicht in einem weiteren Sinn.» Diese Aussage war Bestandteil der bereits 2003 erfolgten «Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen», in denen Kardinal Ratzinger und Papst Johannes Paul II. «alle Gläubigen verpflichtet […], gegen die rechtliche Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften Einspruch zu erheben» – «die katholischen Politiker in besonderer Weise» (Nr. 10). Obwohl die beiden obersten Repräsentanten der Kirche mit der Legalisierung homosexueller Paarbeziehungen einen «schweren Schaden für das Gemeinwohl» und «das Gewebe der öffentlichen Moral» einhergehen sahen, blieb die römische Anweisung unter den katholischen Abgeordneten in Deutschland ohne Resonanz und Fügsamkeit, und dies ohne Sanktionsfolgen.
Die frühere Bereitschaft von Laien (und Klerikern) zum unbedingten Gehorsam gegenüber ihrer «lehrenden Kirche» erzeugt heute ungläubiges Staunen, obwohl sie einmal für typisch katholisch gehalten, auf Katholikentagen zum Ausdruck gebracht und politischerseits gefürchtet wurde: «Autorität! Wort bei vielen ohne Klang und Bedeutung heutzutage, Wort, mancherorts sogar zum Gespött geworden. Wir Katholiken Deutschlands erneuern heute im Angesichte unserer Bischöfe das Gelöbnis, der Autorität zu gehorchen […], Gehorsam und Liebe unserer, von Gott gesetzten Obrigkeit zu erweisen», versprach der Präsident des Aachener Lokalkomitees des Katholikentags 1912 unter Beifall. Dieses Versprechen war schon damals, wie er selbst andeutet, hoch ambivalent. Ich schreibe dies nicht aus einer nostalgischen Sehnsucht heraus, sondern nur, um eine Ahnung darüber auszulösen, welcher Wandel sich in der Kultur der inneren Führung und Fügsamkeit (compliance) der römisch-katholischen Kirche vollzogen hat. Damit hat sich aber auch ein bestimmter Modus der kircheninternen Willensbildung und Verpflichtungsfähigkeit irreversibel aufgelöst, ohne dass ein funktionales Äquivalent, ein neues Verfahren des für legitim erachteten Entscheidens, an seine Stelle getreten ist. Der Wert des Gehorsams, ein Zentralwert des Kirchenrechts, ist in den Wertewandelschüben seit den 1970er und 1980er Jahren derjenige, der im Ranking der Akzeptanz am tiefsten gefallen ist.
Schluss
So schwinden auch die Chancen (Punkt 2) bindende Entscheidungen des politisch-administrativen Systems zu beeinflussen oder zu irritieren. Will Kirche als gesellschaftspolitische Kraft zur Förderung des Gemeinwohls nicht auf ihre verbandlich organisierte Caritas reduziert werden und ihrer in Gaudium et spes (Art. 3) eingegangenen Selbstverpflichtung auf die «Rettung der menschlichen Person» und «den rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft» treu bleiben, kann ihr die innerkirchliche Willensbildung ebenso wenig gleichgültig sein wie die wachsende Zahl von Konfessionslosen oder Konfessionsfreien. Dieser ‹Berg› und jene ‹Lücke› schwächen die religionspolitische Stellung der römisch-katholischen Kirche in Deutschland. Die Transzendenz-Antennen der Konfessionslosen und Konfessionsfreien gilt es ebenso zu erkunden wie ihre (Rest-)Erwartungen an die Kirche, deren Aufgabe es wäre, sie in kirchinterne Leistungen zu transformieren.