Die Besprechung einer Biographie bietet die Möglichkeit einer doppelten Empfehlung: des Porträtierten, Ernst Troeltsch, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 100. Mal jährt, und des Biographen, Friedrich Wilhelm Graf (geb. 1948), dessen Buch die Früchte jahrzehntelanger Erforschung des Troeltschen Werkes nun einem breiteren Leserkreis darbietet. Eine solche doppelte Empfehlung ist in einer katholischen Zeitschrift keine Selbstverständlichkeit. Der liberale Protestant Troeltsch dürfte trotz einer in den letzten Jahren gewachsenen Aufmerksamkeit immer noch zu den großen Ungelesenen in der katholischen Theologie gehören, dessen Name zwar wissendes Nicken auslöst, aber kaum mit eigenen Lektürererfahrungen verknüpft ist. Ältere Vorbehalte gegen ein verbürgerlichtes Kulturchristentum kommen hinzu. Der Biograph hingegen ist als scharfzüngiger protestantischer Intellektueller für seine Interventionen zur Rolle des Christentums in der Gegenwart bekannt. Seine Provokationslust klingt in katholischen Ohren zuweilen unerbittlich.
Wenn Grafs Troeltschbuch hier empfohlen werden soll, dann da es auf faszinierende Weise in die Welt des liberalen Protestantismus um 1900 einführt und insbesondere katholische Leser produktive Fremdheitserfahrungen machen lässt. Dies beginnt bei Grafs einfühlsamem Porträt des jungen Troeltsch im bikonfessionellen Augsburg. Man lernt einen tiefgläubigen, unaufdringlichen Protestantismus kennen und nähert sich einem bürgerlichen Milieu, in dem die Theologie als Wissenschaft hochangesehen ist. Aus Troeltschs Abiturjahrgang am evangelischen St. Anna Gymnasium begannen 17 von 32 Absolventen ein Studium der evangelischen Theologie. Eindrücklich gerät auch Grafs Blick auf Troeltschs akademische Qualifikationszeit in Göttingen. In weitem Abstand von der heutigen Massenuniversität präsentiert sich die Georgia Augusta der Jahrhundertwende als eine gleichermaßen familiäre und elitäre Geisteswelt, in der Professoren Prüfungen in ihrer Privatwohnung abnehmen und ihre Töchter an ihre besten, in der Folge oft verschwägerten Kandidaten, verheiraten. Troeltsch gehört hier zu einem kleinen Kreis aufstrebender Theologen, die die Historisierung der Theologie auf eine neue Stufe heben wollen. Zu ihnen zählen vor allem Exegeten wie Wilhelm Bousset, Hermann Gunkel und William Wrede; Troeltsch ist der systematisch orientierte dieser «kleinen Göttinger Fakultät». Geistesgeschichtlich von noch höherer Bedeutung sind dann die Heidelberger Jahre – Troeltsch wird dort 1894 mit nur 29 Jahren Ordinarius für Systematische Theologie und ist zeitweise Hausgenosse Max Webers. Das Verhältnis des Theologen zu dem noch berühmteren Soziologen bleibt spannungsgeladen und komplex. Grafs Wort von der «Fachmenschenfreundschaft» der beiden Gelehrten gibt eine Ahnung davon. Bürgerliche Welten des Kaiserreiches treten auch durch die Fotos plastisch vor Augen, die Troeltsch beim Empfang des badischen Großherzogs am Bahnsteig oder als Prorektor mit Talar und Amtskette auf einer Kutschfahrt durch Heidelberg zeigen. Mit dem Weltkrieg verändert sich das Bild. 1915 übernimmt Troeltsch den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für «Religions-, Sozial- und Geschichts-Philosophie und christliche Religionsgeschichte» an der Berliner Universität. Sein kriegspublizistisches Engagement liegt in der Spur anderer nationalliberaler Protestanten, bleibt aber vergleichsweise moderat. Von besonderer Bedeutung ist darum Troeltschs Hinwendung zur Demokratie und sein unermüdlicher Einsatz für die Weimarer Republik – als Verfasser der «Spectator-Briefe», als Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium, als DDP-Politiker. Die Berliner Jahre ereignen sich im Vergleich zum Gelehrtenidyll am Neckar in einer konfliktreichen, enorm beschleunigten Welt, in der Troeltsch als Wissenschaftler und Politiker von Termin zu Termin hetzt, ohne seinen großbürgerlichen Lebensstil aufzugeben: «Ernst Troeltsch war ein Bürger. Er schätzte gutes Essen, trank gern elsässischen Wein und rauchte teure Zigarren. Er ging oft ins Theater und ließ sich in der Reichshauptstadt nur selten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst entgehen.» Wer Graf schon einmal im Vortrag erlebt hat, hört ihn bei solchen Sätzen selbst sprechen. Über weiter Strecken ist das Buch reines Lesevergnügen. So auch in der letzten von Graf gekonnt geschilderten Episode um Troeltschs Grab auf dem Berliner Invalidenfriedhof. Nach jahrelangen Querelen um eine Überführung der Urne von dem in unmittelbarer Nähe zur Berliner Mauer liegenden Gräberfeld nach Westdeutschland wird das Grab 1973 eingeebnet, der massive Grabstein, ein zwei Meter hoher Felsblock, zersägt und von den Behörden der DDR zur Wiederverwendung verteilt. «Selbst ganz große Steinblöcke, Inbegriff von harter Materialität, sind offenkundig nicht so substanzstark, dass Dialektische Materialisten sie nicht in viele kleinere Teile partikularisieren können.» Dass all das auf einer enormen Quellenkenntnis beruht, braucht angesichts der unter Grafs Federführung vorangetriebenen Ausgabe der Werke Troeltschs nicht eigens betont zu werden. Die Edition setzt in ihrer umfangreichen Erschließung der Quellen Maßstabe, von denen katholische Editionsunternehmen, zumindest wo sie moderne Autoren betreffen, weit entfernt sind.
Grafs Buch fasziniert zu lesen, heißt nicht, ihm und seinem Helden überall hin zu folgen. Beeindruckend ist Troeltschs ungeheure geistige Aufnahmekraft, seine unbedingte intellektuelle und religiöse Ernsthaftigkeit im Versuch, die das Christentum in seiner eigenen Gegenwart erfassenden Wandlungsprozesse zu verstehen und kritisch zu orientieren. Da ist kein oberflächlicher Aktualitätsdrang und keine leichtfertige Anpassung. Graf enthält seinen Lesern die fromme Innerlichkeit Troeltschs nicht vor. Aber er unterstreicht auch, für wie überholt Troeltsch die überkommene konfessionelle Theologie hielt. Er folgt ihm bei seinem allmählichen Abschied von der christlichen Dogmatik. Nicht, dass ihre Unmöglichkeit behauptet würde. Aber sie bleibt methodisch ein zweifelhaftes Unterfangen, immer in der Gefahr, intellektuell von ungedeckten Schecks zu leben und die Dynamik und Pluralität der Moderne zu verkennen. Die kulturgeschichtliche Einbettung des Christentums, der «Realismus», zu dem Troeltsch allmählich fand, trieben ihn weg von der Theologie hin zur Kultur- und Geschichtsphilosophie unter religiösem Vorzeichen. Zurück fand er nicht mehr. So liegt über seiner Größe auch ein Hauch von Tragik.