Wer Menahem Pressler (1923-2023) am Klavier spielen hört, der mag etwas erahnen von dem großen Glück, das es für ihn bedeutete, Musiker geworden zu sein. Über 50 Jahre lang war Menahem Pressler «Kopf und Herz» des Beaux Arts Trios, des berühmtesten Klaviertrios weltweit, bevor er im Jahr 2008, nach der Auflösung des Trios, im Alter von knapp 90 Jahren noch eine beachtliche Solokarriere als Pianist hinlegte.1 Am 6. Mai 2023 ist Menahem Pressler verstorben, ein halbes Jahr vor seinem 100. Geburtstag. Nicht nur sein außergewöhnliches Spiel, auch seine Worte über sein Leben und die Musik zeigen ihn als einen begnadeten Pianisten und großen Menschen, unermüdlich getrieben von der Hingabe an die Musik, von der Sehnsucht, durch sein Spiel eine geradezu übersinnliche Schönheit erfahrbar zu machen. Auf Deutsch erschien der faszinierende Gesprächsband Dieses Verlangen nach Schönheit. Gespräche über Musik mit dem Musikjournalisten Holger Noltze.2 «Wer Sie heute spielen hört, der hat nicht nur keine Zweifel am Talent, der zweifelt auch nicht an Ihrer Berufung», so das Urteil von Holger Noltze, dem der mit zahlreichen Preisen, Grammy-Nominierungen und vier Ehrendoktoraten ausgezeichnete 92-Jährige denn auch zustimmen kann: «Heute bin ich dessen gewiss. Schließlich und endlich.» (109) Wie verstand der im klassisch-romantischen Repertoire beheimatete Ausnahmepianist seine besondere Berufung, seine Liebe zur Musik, die ihm buchstäblich überlebenswichtig wurde?
Max Menahem Pressler wird am 16. Dezember 1923 in Magdeburg als Sohn gläubiger Juden geboren. Anstelle seines weniger übewilligen Bruders übernimmt er die Klavierstunden bei dem Kantor der evangelischen Stadtkirche, der dem talentierten Max auch dann noch Unterricht erteilt, als der Kontakt im Nationalsozialismus bereits verboten ist. Auf dem Dachboden ihres Hauses versteckt, erlebt er mit seiner Familie 1938 die Reichsprogromnacht, in der das Hosen-Geschäft seiner Eltern geplündert und zerstört wird. Von den schmerzhaften Ereignissen und der nächtlichen Angst unberührt bleibt indes sein Klavierspiel. Es mag wie eine Flucht in eine andere, heile Welt erscheinen, ein Rückzug in eine rettende Blase, wenn Max bereits am nächsten Morgen wieder am Klavier sitzt, sich in Noten vergräbt. Er scheint in zwei Parallelwelten zu leben, emotional voneinander getrennt: «Die Angst kam nicht in die Nähe des Klaviers. Da gab es keine Angst. Da gab es wirklich nur das Suchen nach Schönheit.» (20)
Im letzten Moment gelingt der Familie Pressler 1939 über Triest die Ausreise nach Palästina. Rückblickend bemerkt, «schien in allem, was passierte und wie es geschah, die Hand Gottes auf uns zu sein: dass wir rauskonnten, drei Wochen bevor Deutschland den Krieg anfing, dass wir rauskamen. Und dass das Schiff aus Triest in Haifa ankam.» (33) Seine in Deutschland verbleibende Verwandtschaft, die Großeltern, Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, werden deportiert und kommen im Konzentrationslager ums Leben. Immer wieder kreist das Gespräch mit Holger Noltze um die Frage: Wie lassen sich die schmerzlichen Erfahrungen, die Flucht aus der Heimat, der Verlust der Familie, vereinbaren mit dem unbedingten Festhalten am Postulat ästhetischer Schönheit? Wie geht das zusammen, das Wissen um die Shoa und das Spiel einer heiteren Mozart-Sonate? Mit Adorno noch grundsätzlicher gefragt: Ungebrochen «schöne» Musik nach Auschwitz – ist das überhaupt möglich?
In Palästina ist es die Musik, die dem 15-jährigen jungen Mann, der emotional und physisch am Ende seiner Kräfte ist und kaum mehr Nahrung zu sich nehmen kann, zum Rettungsanker wird: «Die Musik war ein Grund weiterzuleben. Ich hatte diesen gewaltigen Hunger zu musizieren.»3 Körperlich nahe dem Zusammenbruch, kämpft er sich an den schwersten Stücken ab. Das Klavier wird für den Vertriebenen zum Ort, das Geschehene zu verarbeiten. Seine Gefühle von Trauer und Wut kanalisieren sich in der Musik, in der er zugleich Trost erfährt. Die Musik bringe den Menschen dazu, «zu weinen und getröstet zu sein […]. Ich war bestimmt besonders empfindsam. Und in der Empfindsamkeit fand ich Trost, damals, als ich auswanderte.» (121) Der in der Musik Trost Erfahrende wird selbst zum Tröster: Nicht nur aus Dankbarkeit gegenüber dem Staat Israel, wo er ein neues Leben als Pianist beginnen kann, sondern auch im Bewusstsein der tieferen Bedeutung seines zweiten, hebräischen Vornamens tritt er von nun an als Menahem Pressler auf: «Menahem» – «(Gott ist) Tröster». Es wird ihm zur Lebensaufgabe, anderen Menschen durch die Musik Trost zu spenden, das Empfangene weiterzugeben. Die Musik, so sagt er, «streichelt deine Seele» (139).
Im Jahr 1955 gründet Pressler in den USA gemeinsam mit dem Geiger Daniel Guilet und dem Cellisten Bernard Greenhouse das legendäre Beaux Arts Trio. Zugleich übernimmt er eine Professur für Klavier an der Universität von Bloomington, Indiana. Bereits die erste Platte, eine Gesamtaufnahme der Mozart-Trios, verhilft dem Klaviertrio zum Durchbruch. Die Türen der größten Konzerthäuser stehen ihnen offen. Während die Besetzungen von Geige und Cello wechseln – zuletzt konzertierte Pressler gemeinsam mit dem Geiger Daniel Hope und dem Cellisten Antonio Meneses – hält der kleingewachsene Mann am Klavier das Trio zusammen. Als «ein ideales Gespräch zwischen drei Personen, die dasselbe Buch gelesen haben» (96) beschreibt er das Zusammenspiel, ein Lehrstück feinsinnig aufeinander abgestimmter Kommunikation über einen unbeschreiblich schönen Inhalt. Das Beaux Arts Trio setzt neue Maßstäbe.
Charakteristisch für das Spiel Menahem Pressler ist sein viel beschworener «schöner», runder Klang. Es gehört zu seinem Stil, Musik nicht zu «machen», sie vielmehr «sich ereignen» zu lassen. Nicht triumphal zielt er Spitzentöne an, sondern fast behutsam, zärtlich, wartend lässt er sie erklingen, ja geschehen, so auch in einer seiner Lieblings-Zugaben, dem Nocturne in cis-moll, op. posthum von Frédéric Chopin. Der Pianist, der sein Instrument bis zur technischen Perfektion beherrscht, der die Partituren durch und durch kennt, spielt nicht in der Haltung des Könnenden, des Wissenden, sondern mit der Empfänglichkeit des je neu Staunenden. Unter seinen Händen wird Musik zum Ereignis.
Musik gleicht für ihn einem inneren Resonanzgeschehen der Schönheit und Liebe. «Das ist es: dass das Herz überläuft. Das Verlangen ist stark nach der Schönheit. Und wenn du spielst, versuchst du, das zu wiederholen.» (31) Oder:
Ich bin glücklich, dass es mir vergönnt ist, diese großartigen Werke auszukosten, auszulöffeln, zu genießen und immer noch neue Schönheit dran zu finden. Dass ich weder Pfeffer brauche noch Meerrettich, noch Tabasco. Sondern dass ich das wirklich wahrnehmen kann und dass ich mit der Stärke eigentlich eines jungen Mannes empfinde: die Liebe, wahre Liebe. Das ist ein Geschenk von Gott. Wahre Liebe zu empfinden oder empfinden zu dürfen. (51)
Dass Musik für Menahem Pressler mehr ist als ein Beruf, von dem man sich nach wohlverdienter Zeit zur Ruhe setzen könnte, sondern lebenslange Berufung, zeigt sich nicht zuletzt an dem – für viele so missliebigen – Thema des Übens. Was andere als Opfer empfinden, ist für Menahem Pressler höchstes Glück. Freilich: Auch bei ihm sind Fleiß und Disziplin wichtige Voraussetzungen. Doch sind diese stets verbunden mit der Hingabe. Die Wiederholung im Übeprozess wird nicht zur mechanischen Routine, sondern zur Möglichkeit, sich zu vertiefen, noch mehr Ausdruck zu gewinnen. «Wie wenn man Gold wäscht: Mit einem Mal geht der Dreck raus, und das Gold bleibt im Sieb hängen. Das ist das Werk.» (99-100) Würde er das Üben als eine Art «Alltagsliturgie» (106) bezeichnen? Der humorvolle Pianist korrigiert: Für ihn ist Üben Feiertagsliturgie!
Nicht nur das Üben, das ganze Leben und Wirken Menahem Presslers gleichen einer unablässigen, fast getriebenen Suche. In seiner Beschäftigung mit der Musik geht es durchweg um das Suchen und bisweilen um das Glück zu finden – und dieses Gefundene in der Musik weiterzugeben. Oft wirkt er im Gespräch mit Holger Noltze wie der Mann, der einen Schatz im Acker findet, oder der Kaufmann, der für eine schöne, kostbare Perle sein gesamtes Hab und Gut verkauft (vgl. Mt 13,44-46). Lässt sich das in der Musik Gefundene mit Worten adäquat beschreiben? Wohl kaum.
Aber nochmals: Wie verhalten sich die «Perlen» der Musik zu den Schattenseiten der Welt? Welche Bedeutung erfährt Musik angesichts der Realität der Konzentrationslager? «Wir wissen, dass die Welt so schön ist und dass die Welt so hässlich ist. Und wenn wir das Schöne bestärken, tun wir etwas für eine bessere Welt. Musik ist dazu da.» (140) Musik als eine Art Weltverbesserer-Programm? Was können schöne Klänge ausrichten gegen all das Leiden der Welt? Und doch: Wer Menahem Pressler spielen hört, der kann etwas erahnen von einer überirdischen Schönheit und Zartheit, von Leichtigkeit und Glück, von Harmonie und Freude, von Vollkommenheit und Kraft. Pressler vermag etwas neu zugänglich zu machen, für das viele Menschen heute den Sinn verloren zu haben scheinen. Die Kraft seines Spiels besteht darin, in seinen Zuhörerinnen und Zuhörern Freude zu wecken, ihnen Trost zu spenden, sie neu auszurichten auf das Schöne, das in dieser Welt allzu oft als verloren geglaubt wird. Wer seinen Klängen lauscht, dessen Blick auf die Welt mag sich verwandeln. Letztlich ist die Schönheit für ihn mit Wahrheit verbunden: «Was ist so schön an der Musik, wenn nicht die Wahrheit?» (85)
Wir empfinden doch deutlich: Wir müssen all dies – die Musik, das Schöne – weiter erhalten, denn sonst wird das eine Welt, die sehr, sehr traurig ist und viele hässliche Seiten hat. Aber sie hat auch so viele schöne, die uns geblieben sind und die von Anfang an da waren: Im Paradies muss es Musik gegeben haben. Wenn wir die Bilder von Rembrandt sehen oder die Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle – das sind Ahnungen vom Paradies. So etwas Schönes gibt es nur einmal, es ist in unsere Obhut gegeben. Wir müssen es verteidigen und ehren. Und wir ehren es dadurch, dass wir es vermitteln. Dass wir Leute dazu bringen, es zu sehen, und genauso in der Musik: es zu hören. (153)
Entsprechend sieht Pressler auch seine Berufung als Musiker:
Musik so zu spielen oder so darüber zu sprechen, dass daraus etwas deutlich wird. Dass unser Leben einen größeren Zweck hat. Es geht nicht darum zu zeigen, wie gut wir sind oder was wir gelernt haben, wie virtuos wir sind. Dafür werden wir bezahlt. Das ist die eine Seite. Aber das Wunderbare ist, dass wir uns hingeben dürfen, um anderen die Ohren zu öffnen, das Herz zu öffnen – Liebe zu entfachen. Ich glaube, darin liegt der Sinn eines Musikerdaseins, für einen alten Musiker, auch für einen jungen. Wir sind das den Menschen schuldig. Denn wir wissen, dass für uns das Leben aufhört ohne die Musik, dass es ein Irrtum wäre. Eine Öde – vertrocknet, ohne Blumen, ohne Früchte. Die Sonne scheint nicht, es gibt keinen blauen Himmel. Aber wer die Ohren hat zu hören, spürt den Reichtum der Welt. (140)
Es sind tiefsinnige Worte eines großen Musikers, der das 20. Jahrhundert durchlebt und durchlitten hat und in dessen Spiel trotz allem die Überzeugung durchklingt: Die Musik ist stärker als das Leiden, die Liebe ist stärker als der Tod.