Die Endlichkeit ist kein Absprungbrett, sondern Ort der VollendungOliver Dürr kritisiert den Transhumanismus und formuliert eine christliche Alternative

Wer sich theologisch ernsthaft mit dem Transhumanismus auseinandersetzen will, wird im deutschsprachigen Raum um die Arbeiten des Schweizer Nachwuchstheologen Oliver Dürr nicht herumkommen. Dürr zählt zu den Stimmen, die Transhumanismus und Christentum grundsätzlich für unvereinbar halten. Er will ihn als Weltanschauung kritisieren und ihm eine eigene, christliche Deutung entgegenstellen. Soeben erschien sein Buch Transhumanismus – Traum oder Alptraum?1

Dürr macht deutlich, wie stark Technik als imaginative Kraft das menschliche Selbstverständnis beeinflusst – man denke etwa an die um sich greifende Hardware-Software-Analogie in der Rede über den Menschen. «Technik strukturiert vor, wie wir leben, und durch die Macht der Gewöhnung bis zu einem gewissen Grad sogar, was uns gut, erstrebenswert und sinnvoll erscheint» (35), weshalb man ihre Deutung nicht dem transhumanistischen Narrativ überlassen sollte.

Diesem Narrativ widmet Dürr den größten Teil seines Buches (Kapitel 1–3). Dabei konzentriert er sich auf «den säkularistischen und exklusiv innerweltlich orientierten Transhumanismus» (44), der sich als realistisches und umsetzbares Erlösungsprogramm in Konkurrenz zum vermeintlich jenseitsfixierten Christentum versteht. Als höchstes Glück werde hier die uneingeschränkte Selbstbestimmung gesehen, weswegen es gelte, alle Momente der Unverfügbarkeit, allen voran die vorgegebene Natur und den unentrinnbaren Tod, unter Kontrolle zu bringen. Dies könne, transhumanistisch gedacht, auf zwei Wegen erreicht werden: dem biologischen und dem postbiologischen. Der biologische Weg ist ein Transhumanismus im Sinne einer «Transformation des Menschen» (58). Er führt laut Dürr über die Straße des Selbstoptimierungszwanges in die Sackgasse menschenverachtender Eugenik, weil das transhumanistische Narrativ des unausgeschöpften Potenzials des Menschen den status quo als Übel darstelle, woraus sich ein «zwangloser Zwang» zur Verbesserung ergebe. Der postbiologische Transhumanismus – im Sinne einer «Transzendierung des Menschen» (59) – träumt vom mind uploading und will den Geist vom menschlichen Körper abtrennen. Für Dürr ist dies die letzte Konsequenz einer weit zurückreichenden Fehlentwicklung in den Naturwissenschaften, wo der Mensch nicht mehr als Lebewesen, sondern nur noch als «informationsverarbeitende Maschine» (150) begriffen werde. Wie es zu einer solchen Computeranthropologie kommen konnte, beschreibt Dürr, indem er sowohl die Evolution des Informationsbegriffs als auch die Rolle der Vivisektion in der jüngeren Medizingeschichte nachzeichnet.

Dürr belässt es nicht bei einer Schilderung des Transhumanismus und seiner Selbstwidersprüche, sondern bietet auch «Vorüberlegungen zu einer christlichen Antwort auf den Transhumanismus» (159) an. Diese setze der aus eigenen Kräften zu gestaltenden besseren, endlosen Zukunft des Transhumanismus die Hoffnung auf die Rettung des Endlichen durch Gott entgegen – exemplifiziert in der Auferstehung Jesu. Damit seien menschliche Leistungen und technische Innovationen zwar nicht entwertet, aber auf das ertragbare Maß von über sich hinausweisenden «Zeichen» reduziert. Sie «sind Vorgeschmack der ewigen Zukunft dieser Schöpfung» (170). Über skizzenhafte Andeutungen zu dieser qualitativen und nicht rein quantitativen Vollendung des Endlichen in seiner «Vollendlichkeit» (172) kommt Dürr in diesen paar Seiten allerdings nicht hinaus. Das liegt wohl an seiner Überzeugung, dass die echte Antwort auf den Transhumanismus in gemeinschaftlicher christlicher Praxis bestehe, in der «das menschliche und technisierte Zusammenleben so gelebt wird, dass in dieser Lebensform etwas vom Reich Gottes aufleuchtet» (174).

Wer mehr über Dürrs Konzept der «Vollendlichkeit» erfahren will, wird in seiner Dissertation Homo Novus – Vollendlichkeit im Zeitalter des Transhumanismus (2022)2 fündig. Hat man Transhumanismus – Traum oder Alptraum? bereits gelesen, kann man sich nun entweder in die Auseinandersetzung mit einzelnen bereits erwähnten Aspekten des Transhumanismus, seiner Hintergründe und seiner Agenda vertiefen – alles auf philosophisch und theologisch höchstem Niveau –, oder direkt zum dritten Teil des Buches springen, in dem Dürr auf 130 dichten Seiten seine christlich-theologischen Antwort auf die transhumanistische Herausforderung gründlich ausgearbeitet hat.

Angesichts der transhumanistischen Verheißung einer innerweltlichen Unendlichkeit besteht laut Dürr die theologische Schwierigkeit darin, zwischen der «Tendenz zu einer jenseitsfixierten Eschatologie […], die mit der geschichtlich-materiellen Welt kaum mehr etwas anfangen kann» und der «umgekehrte[n] Tendenz einer verdiesseitigten und selbstsäkularisierten Eschatologie, die der Welt über das Geschichtlich-Materielle hinaus kaum mehr etwas zu bieten hat»(8), zu navigieren, um dem Transhumanismus eine nicht nur plausible, sondern auch tragende spezifisch christliche Vollendungshoffnung für Mensch und Welt entgegenzustellen. Dazu taucht Dürr in die tiefen Gewässer fundamentaleschatologischer Fragen zum Verhältnis von Transzendenz und Immanenz, von Zeit und Ewigkeit, von Geschichte und Vollendung ein. Schließlich gehe es darum zu zeigen, wie das begrenzte Leben in dieser Welt bleibenden Wert haben könne, ohne als absolut überhöht oder von der Ewigkeit relativiert zu werden.

In seinem Antwortversuch setzt Dürr schöpfungstheologisch und christologisch an: Gott offenbart sich selbst im Menschen Jesus Christus. Hier ist ein Verhältnis von Schöpfer und Schöpfung impliziert, das es erlaube, die Offenbarung als «Selbstausdruck des trinitarischen Gottes in Gestalt einer nichtidentischen Wiederholung im Anderen seiner selbst» (395) zu begreifen. Das verleihe dem Geschaffenen seine einzigartige Bestimmung. Aufgrund dieses trinitarisch-transzendenten Ursprungs, der ihrem geschöpflichen Sein eingeschrieben sei, könne die Schöpfung «im personal-relational-geeinten Leben in und mit dem Schöpfer» (ebd.) vollendet werden, ohne ihre Endlichkeit aufgeben zu müssen. In der Auferstehung Jesu «offenbart und realisiert sich die innere Potentialität geschöpflichen Seins» (417), weil hier ein Mensch in seiner «Geschöpflichkeit vollendet, verherrlicht und vergöttlicht» (ebd.) wurde. Die Endlichkeit sei kein Absprungbrett, sondern genau der Ort der Vollendung. Durch das gnadenhafte Wirken des Heiligen Geistes müsse allerdings noch die ganze Schöpfung im Dreiklang von Inkarnation, Kreuz und Auferstehung dieser christologischen Vollendung einverleibt werden. Was dabei über das Kreuz gebrochen und im Tod verwandelt werde, «ist nicht der ontologische Bestand der Schöpfung, sondern ihr sündhafter Zustand» (421). Das endliche geschaffene Sein werde bestätigt und seinem eigentlichen Wesen zugeführt. Paulinisch gewendet: «Das Ende des Endlichen ist seine Vollendung als Endliches in Gott. Alles Endliche ist aus Gott dem Schöpfer, besteht in ihm und findet in ihm sein Ziel» (487, Hervorhebung im Original).

Der Mensch dürfe aber nicht meinen, die Vollendung selbst herbeiführen zu können. Er müsse vielmehr das eigene Handeln im Sinne eines «sakramentalen Projektivismus» (425) unter eschatologischen Vorbehalt stellen. Der Mensch könne durch sein Tun und Schaffen an der Vollendung der Welt mitwirken, allerdings immer nur im Modus der Sakramentalität. Das sakramentale Zeichen vergegenwärtige die bezeichnete, von Gott kommende Vollendung, an der es auch bereits real teilhabe. Gleichzeitig weise es über sich hinaus und bekenne so die bleibende Differenz zum Bezeichneten. «Im strengen Sinne muss gesagt werden: Der Mensch baut nicht das Reich Gottes, sondern er baut für das Reich Gottes. Alles, was der Mensch tut, muss eschatologisch qualifiziert werden» (439, Hervorhebung im Original). Positiv formuliert: «Im Sinne einer solchen sakramentalen Wirklichkeitsperspektive können auch alle wirklichen technischen Errungenschaften, Artefakte und Fortschritte des Menschen (zumindest potenziell und äußerst behutsam) sakramental gedeutet und verstanden werden» (442–443). Das sei möglich unter der Bedingung, dass der Mensch sich der in Christus offenbarten «trinitarischen Struktur […] von Selbsthingabe und Selbstempfängnis in der Liebe» (470) anverwandle und diese durch sein Handeln freilege. So werde in der hier und jetzt verwirklichten Agape-Liebe die neue vergöttlichte Schöpfung gegenwärtig. Nur so könne «die Rettung und Vollendung des Endlichen, Konkreten, Einzelnen in seiner singulären Qualität» (482, Hervorhebung im Original) gewährleistet werden. Nur wenn der transzendente Gott als im Endlichen anwesend und dieses daher sakramental verstanden werde, könne dies vernünftig erhofft werden. «Aus christlicher Sicht kommt jeder konkreten Singularität in ihrer Partikularität und Endlichkeit ein unverlierbarer Wert zu, weil in ihr das Transzendente immer schon da ist» (487). Das ist die Vollendlichkeit, die jede transhumanistische Unendlichkeit in den Schatten stellt.

Man kann Dürr für den reichhaltigen Begriff der «Vollendlichkeit» nur danken. Vielleicht muss man auch dem Transhumanismus danken, stellt er doch mit erneuerter Dringlichkeit «an das Christentum die zentrale inhaltliche Frage nach der Erlösung in der Gestalt einer Bergung des Endlichen» (Homo Novus, 19). Christliche Theologie hat wohl immer schon im Sinne einer produktiven Irritation von der Herausforderung konkurrierender Soteriologien profitiert, um sich zu neuen Höhen aufzuschwingen und ihr Eigentlichstes wiederzufinden. Man versteht daher den Wert einer solchen theologischen Auseinandersetzung mit dem Transhumanismus am besten im Licht des berühmten Apostelworts, das zum Leitspruch christlicher Fundamentaltheologie geworden ist: «Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt» (1 Petr 3,15).

Dieser Wert bleibt, unabhängig davon, wie man Dürrs Kritik des Transhumanismus beurteilt. Man darf ruhig Zweifel haben, ob es wirklich sinnvoll ist, den nihilistisch-atheistischen Zug mancher transhumanistischer Denkfiguren derart zu zementieren, dass man unweigerlich zu einer radikalen und unversöhnlichen Opposition zwischen Transhumanismus und Christentum gelangt. Dürr klammert alle «dezidiert pro-metaphysische[n] (und spezifisch: christliche[n]) Zugänge zum Transhumanismus und Vermittlungsversuche mit seinen Anliegen» (Homo Novus, 62) explizit aus und verhärtet so die Fronten. Das geschieht im Namen philosophischer Stringenz: «Eine zentrale These der vorliegenden Studie lautet entsprechend: Ein metaphysisch zu Ende gedachter Transhumanismus mündet notwendig in einen nihilistischen Posthumanismus» (Homo Novus, 107). Nun kann diese These aber auch umgedreht werden: Geht man von der metaphysischen Annahme der Nichtexistenz Gottes aus, dann ist der Transhumanismus, so unvollkommen seine Hoffnungsperspektiven auch sind, dennoch die beste Lösung. Anders gesagt: Wäre ich Atheist, wäre ich wohl auch Transhumanist. So stellt sich die Frage, ob bei Dürr «der Transhumanismus» nicht unnötig radikalisiert und dabei ungebührlich essentialisiert wird. Nicht jede Lebensphilosophie will und kann logisch zu Ende gedacht werden. Die meisten Transhumanisten und Transhumanistinnen tun es jedenfalls nicht. Dass man sie auf etwaige Inkonsistenzen und Gefahren aufmerksam macht, ist ein Werk der Nächstenliebe. Dass man sie verteufelt, nicht. Wurde nicht auch ein anderes Apostelwort der Fundamentaltheologie ins Stammbuch geschrieben? «Was immer wahrhaft, edel, recht, was lauter, liebenswert, ansprechend ist, was Tugend heißt und lobenswert ist, darauf seid bedacht!» (Phil 4,8).

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