«Nicht vergessen, nicht verdrängen!» – so lauten die Imperative der kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit des Dritten Reiches. Gegen einigen Widerstand wurden nach 1945 Maßnahmen der Entnazifizierung durchgeführt, die Verbrechen aufgeklärt, die NS-Täter, ihre Helfer und Helfershelfer überführt und teils juristisch geahndet. Gegen Strategien des Vertuschens und Verdrängens wurde aus Solidarität mit den Verstummten und Vernichteten, vor allem den Juden, aber auch anderen Opfern des Nationalsozialismus, eine memoria passionis gefördert. Das Thema wurde im Schulunterricht, im Medium von Film, Kunst und Literatur, aber auch durch Dokumentationszentren, Archive und Ausstellungen im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert. Vergessen war hier keine Option, Verdrängen schon gar nicht.
Auch für die Erinnerungsgemeinschaft Kirche sind wiederkehrende Akte des kollektiven Gedächtnisses zentral. Es wäre verhängnisvoll, wenn die Kirche das Heilshandeln Gottes mit Israel vergäße und die Geschichten von Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi den nachkommenden Generationen nicht weitererzählen würde. Schon in den Psalmen heißt es: «Denkt an die Wunder, die er getan hat, / an seine Zeichen und die Beschlüsse aus seinem Mund» (Ps 105, 5). Im Lesen und Wiederlesen der heiligen Schriften, in rituellen Feiern und wiederkehrenden Festen erinnert sich die Kirche der mirabilia Dei, der geschichtlichen Heilstaten Gottes. Gottesdämmerung und Christusdemenz wären für die kirchliche Glaubensgemeinschaft genauso verhängnisvoll wie Geistvergessenheit. Eine Kirche, die vor lauter Sorge um sich selbst dem testamentarischen Auftrag «Tut dies zu meinem Gedächtnis» nicht mehr nachkäme, verlöre Ursprung und Ziel aus dem Blick und drohte ihre Mission zu verfehlen.
Dennoch gibt es im Leben der Kirche Dinge, die in Vergessenheit geraten. Ordensgemeinschaften sterben, Frömmigkeitspraktiken verschwinden, Kirchen und Kapellen werden nicht weiter genutzt, ja bestimmte Lehren des römischen Lehramts werden nicht weiter erinnert und aktualisiert. Hinzu kommt, dass es eine Kultur der Unterbrechung braucht, um sich auf die verborgene Gegenwart des Heiligen zu besinnen. Das Hamsterrad der Pflichten, die tägliche Informationsüberflutung kann auch bei Gläubigen schleichend in einen Lebensstil übergehen, etsi Deus non daretur. Fromme Routine kann eine Form der Gottvergessenheit sein. Es braucht Gegenzeiten der Stille und Sammlung, um neu in die Gegenwart Seiner Gegenwart zu kommen. Der Fluss der Zeit kann schließlich nicht angehalten und zum Stillstand gebracht werden. Das Flüchtige, weniger Wichtige kann, darf und soll getrost vergessen werden. Nur das, was als erinnerungswürdig und gemeinschaftskonstitutiv eingestuft wird, wird in Traditionsprozessen aufgenommen. Hier spielt der von Jan Assmann beleuchtete Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis eine wichtige Rolle. Was durch mündliche Erzählung in der Familie, im Freundeskreis weitergegeben wird, verebbt nach drei, spätestens vier Generationen, wenn die Zeugen von der Bühne des Lebens abtreten. Nur was in schriftlichen Zeugnissen fixiert, in rituellen Handlungen tradiert oder in Gedenktagen und Festen regelmäßig in die Gegenwart gehoben wird, hat Aussicht darauf, im kulturellen Gedächtnis verankert zu werden. Traditionsprozesse sind daher immer selektiv. Das stößt die Frage nach Kunst und Kritik des Vergessens an. Gibt es – gerade auch nach traumatischen Erfahrungen und deren Aufarbeitung – ein heilsames Vergessen?
Das vorliegende Heft widmet sich der Spannung von Erinnern und Vergessen. Michael Seewald weist in seinem Eröffnungsbeitrag darauf hin, dass ein Ereignis kommuniziert und wiederholt werden muss, wenn es ins kollektive Gedächtnis eingehen soll. Das ist nicht nur für die kulturwissenschaftliche Erforschung des Vergessens wichtig, sondern auch für kirchliche Traditionsprozesse. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Häufigkeit der Vorlage einer Lehre als Gradmesser für ihre Verbindlichkeit angeführt (vgl. LG 25). Wenn eine Lehre wie der Monogenismus nicht mehr vorgelegt und im weiträumigen Elefantengedächtnis der Kirche stillschweigend abgelegt wird, welche Folgen hat das dann für deren Verbindlichkeit? Verliert sie ihre Gültigkeit? Ludger Schwienhorst-Schönberger geht dem Phänomen des Erinnerns und Vergessens in der Bibel nach. Er wendet ein besonderes Augenmerk auf das Buch Deuteronomium, das die Erinnerungskultur Israels grundgelegt hat. Zum Bund Gottes mit Israel gehören Markierungen wie die Beschneidung, aber auch Erinnerungspraktiken, Gebete und Riten, die seine Gebote gegenwärtig halten. Gottesvergessenheit gefährdet den Monotheismus der Treue und macht anfällig für Idolatrie (vgl. Ps 106, 19-21). Allerdings gibt es auch eine schädliche Fixierung auf das Vergangene, wie die Frau des Loth, die zur Salzsäule erstarrt, deutlich macht. Auch der Apostel Paulus will nach seiner Bekehrung nicht mehr auf das schauen, was hinter ihm liegt, sondern sich ausrichten auf das, was vor ihm liegt. Jan-Heiner Tück ruft die Topographie des Jenseits in Dantes Divina Commedia in Erinnerung. An der Schwelle zum irdischen Paradies muss der Wanderer zwei Flüsse passieren. Nach dem beschwerlichen Aufstieg auf den Läuterungsberg, bei dem ihm die moralischen Verfehlungen der Vergangenheit ungeschönt vor Augen gestellt werden, erreicht er Lethe, den Fluss des Vergessens, der ihn vom Schmerz der Reue befreit. Der zweite Fluss, Eunoë, eine Erfindung Dantes, bestärkt demgegenüber die Erinnerung an das Gute und Wahre. Steckt in Dantes «eschatologischer Absolution» durch Vergessen eine produktive Irritation für die Eschatologie? Stärker noch als das Vergessen der Schuld wäre die Annullierung des Vergangenen. Hanna Barbara Gerl-Falkovitz zeigt, dass diese provokante Denkfigur beim russischen Religionsphilosophen Leo Schestow zu finden ist. Gott müsse das Verhasste nicht nur vergessen, sondern auch vernichten können. Der alte Satz, dass auch der allmächtige Gott das Geschehene nicht ungeschehen machen könne, wird durch Schestow in Frage gestellt. Zur Souveränität Gottes gehöre es, nicht an die Linearität der Zeit gebunden zu sein. Er müsse das Unwiderrufliche widerrufen, ja Verhasstes annihilieren können! Hans Maier erinnert an das Pactum Omisssionis als wesentliches und fast schon vergessenes Element der Friedenschlüsse in der europäischen Geschichte. Gegenläufig zu heutigen Erinnerungsimperativen soll etwa im Westfälischen Frieden (1648) das Geschehene «in ewiger Vergessenheit begraben» werden. Die Erinnerung an die «Pflicht zu vergessen» könnte auch heute therapeutische Potentiale haben. Dazu passt eine Ode des Barockdichters und Jesuiten Jacob Balde, die in den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs geschrieben wurde und für «Amnestia» als Weg zum Frieden wirbt: «Wer stolz Verzeihung verweigert, quält nur sich selbst und gibt feigen Wünschen kopflos nach.» Helmut Kühlmann und Peter Mathes haben die neulateinische Ode Baldes ins Deutsche übertragen, historisch eingeordnet und kommentiert. Auch in der zeitgenössischen Literatur gibt es Stimmen, die gegenläufig zur boomenden Erinnerungskultur auf die heilende Kraft des Vergessens verweisen. So hat Botho Strauß in seinem Schauspiel Ithaka die Heimkehr des Odysseus behandelt. Dort tritt Athene zwischen den griechischen Helden und seine Gegner und sorgt dafür, dass die Erinnerung an Mord und Verbrechen aus dem Gedächtnis getilgt werden. Der Frage, was diese unzeitgemäße Vergegenwärtigung des erinnerungstilgenden göttlichen Eingriffs bedeuten könnte, geht Helmuth Kiesel in seinem Essay näher nach. In den Perspektiven erinnert Ulrich Greiner daran, dass vor hundert Jahren Rilkes Duineser Elegien erschienen sind, in denen Verse zu finden sind, die sich als Kontrapunkt zu Schestows Widerruf des Unwiderruflichen lesen lassen: «Und wir auch / ein Mal. Nie wieder. Aber dieses / ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal: / irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.» Aus Anlass der Gräueltaten der Terrorbrigaden der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 bringen wir schließlich eine Deutung des Gedichts Denk dir von Paul Celan, das anlässlich des Sechstageskriegs 1967 entstanden ist und als Bekenntnis des Dichters zu Israel gelesen werden kann.