Braucht die Gesellschaft die Kirche?Zu einem Essay des evangelischen Pfarrers Justus Geilhufe

Dresden
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Christen, die ihre Glaubensüberzeugungen mit einem gewissen Selbstbewusstsein vertreten, sind heute rar geworden. Die Kirchen hierzulande sind gedemütigt: Ihre Mitteilungen stoßen kaum noch auf Interesse in der Öffentlichkeit. Jedes Jahr erklären mehr Menschen ihren Austritt. Christlichen Eltern gelingt es immer seltener, den Glauben an ihre Kinder weiterzugeben. Insbesondere die katholische Kirche ist erschüttert von Skandalen und desavouiert durch die Verfehlungen ihrer Geistlichen. Viele ihrer Lehren und Traditionen gelten heute als rückständig. Aber auch evangelische Christen müssen feststellen: Weite Teile der Bevölkerung kommen ohne den Glauben aus.

Justus Geilhufe, 1990 in Dresden geboren und wie schon sein Vater evangelisch-lutherischer Pfarrer in Sachsen, ist überzeugt: «Unsere Gesellschaft braucht die Kirche» (13). Das lässt aufhorchen. Inwiefern braucht die Gesellschaft denn die Kirche? Wegen ihres gesellschaftlichen Beitrags als Trägerin von Dienstleistungen im Sozial- und im Bildungssektor? Oder wegen ihrer politischen Apelle zu Klimaschutz, Migration und Sozialpolitik? Der Autor meint etwas anderes: «Ich habe die atheistische Gesellschaft im Osten erlebt – und sie war furchtbar! Niemand kann wollen, dass dies die Wirklichkeit unseres heutigen Lebens in Ost und West wird, denn die atheistische Gesellschaft hat nichts zu bieten» (13).

Geilhufe äußert sich in seinem im Münchner Claudius-Verlag erschienenen Buchessay "Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche" aus der Perspektive eines Christen, der im Ostdeutschland der Nachwendezeit aufgewachsen ist – in einer Gesellschaft, die das Resultat von mehreren Jahrzehnten forcierter Entkirchlichung war. Außerhalb der schützenden Mauern des Pfarrhauses erlebte das Kind diese Welt als roh, kulturlos, hart und hässlich. Heute begegne ihm der homo sovjeticus in veränderter Form wieder, so Geilhufe, und längst nicht mehr nur im Osten (26). Deshalb brauche die Gesellschaft die Kirche: Nur sie könne «etwas von der Wahrheit, Güte und Schönheit, die wir Menschen nun einmal brauchen» bewahren (13).

Die Kirche als Schutzraum des Wahren, Guten und Schönen in einer sich verfinsternden Welt – diese Perspektive birgt Gefahren. Denn wer so denkt, steht in der Versuchung, hochmütig auf die Menschen zu blicken, die außerhalb dieses Schutzraumes leben. Geilhufe erzählt von einem «polyamor» lebenden Freund in Berlin, der die intensive, wahre, freie Liebe sucht und am Ende gar keine findet; von einer «freien Trauung», die besonders sein soll, aber in «vorgestanzten, ewig reproduzierten und sterilen, in hässlichen Formen ohne Sinn» (40) endet, und von Kneipengesprächen, die im betretenen Schweigen enden, weil jeder eine andere Wahrheit in irgendeinem digitalen Kanal gefunden hat (38). Die Aufgabe der Kirche sei es nun aber nicht, diese Welt zu verachten, sondern sie zu lieben. Mit eben dieser Haltung sei die Kirche in der DDR auch der sozialistischen Gesellschaft begegnet. Sie habe die Fähigkeit besessen, «vom Standpunkt des Glaubens aus die Widersprüche auszuhalten» (14).

Doch der heutigen Evangelischen Kirche gelinge es nicht mehr, «die Menschen mit allen ihren Widersprüchen zu lieben» (60-61). Stattdessen erwecke sie durch ihre politischen Stellungnahmen den Eindruck, als sei es möglich, die Widersprüche aufzulösen: «Mit der Botschaft von einem richtigen Leben im Hier und Jetzt löst der deutsche Protestantismus den Widerspruch des menschlichen Lebens immer öfter auf die falsche Weise auf. So lässt er die Menschen genauso hoffnungslos zurück, wie der Rest der Welt. […] Dadurch, dass gerade sie den Menschen um sich herum den Eindruck vermittelt, sie könnten es im Leben richtig machen und unter den Druck setzt, es auch zu tun, überlässt sie die Menschen, die ihr anvertraut sind, einem Schicksal, das unmenschlich und hoffnungslos ist» (56-57).

Geilhufe hatte bereits 2022 in der «Welt» seine Kirche kritisiert. Diese lebe immer noch «in der falschen Vorstellung, von einer Öffentlichkeit umgeben zu sein, die sich für uns interessiert». Das sei aber nicht der Fall: «Die aus der Kirche ausgetretenen Menschen im Westen werden bereits nach wenigen Monaten vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben. So wie die Menschen bei uns im Osten». Die evangelische Kirche im Westen müsse von den Erfahrungen der ostdeutschen Kirche lernen: «Der Osten unserer Kirche hat hier erlebt, dass es nur die liebende Zuwendung zum Einzelnen und nicht der politische Aufruf an alle, geschweige denn an ‹die Öffentlichkeit› oder ‹die Gesellschaft› ist, der die Verhältnisse verändert.»

Die Frage, ob und wie sich die Kirche überhaupt politisch äußern sollte, beantwortet der Autor nicht. Sie ist auch für Katholiken von Bedeutung. Immerhin hat die katholische Kirche seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine umfangreiche Soziallehre formuliert. Seit der Enzyklika «Rerum Novarum» Leos XIII. widmeten sich Päpstliche Lehrschreiben immer wieder ausführlich sozialen und wirtschaftlichen Themen. Unter Benedikt XVI. und Franziskus ist das Thema Ökologie hinzugekommen. Auch die Deutsche Bischofskonferenz unterhält eine «Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen», die sich zu so unterschiedlichen Themen wie Biodiversität, Europapolitik oder internationale Freihandelsabkommen äußert. Zuletzt hat Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben «Laudate Deum» vom Oktober 2023 konkrete Erwartungen an den bevorstehenden Klimagipfel COP 28 in Dubai formuliert.

Der Katechismus der Katholischen Kirche hält fest: «Die Kirche fällt auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet ein sittliches Urteil, ‹wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen› (GS 76, 5)» (KKK 2420). Ansonsten gilt: «Die Soziallehre der Kirche legt Grundsätze für die Reflexion vor, erarbeitet Maßstäbe des Urteilens und gibt Wegweisungen zum Handeln» (KKK 2423). Der letzte Punkt ist nicht trivial: Lässt sich das Evangelium ohne Weiteres in konkrete politische Handlungsempfehlungen ummünzen? Die Pastoralkonstitution «Gaudium et Spes» des Zweiten Vatikanischen Konzils betont, die christlichen Laien dürften nicht meinen, «ihre Seelsorger seien immer in dem Grade kompetent, dass sie in jeder, zuweilen auch schweren Frage, die gerade auftaucht, eine konkrete Lösung schon fertig haben könnten oder die Sendung dazu hätten». Vielmehr sei es die Aufgabe der Laien selbst, im «Licht der christlichen Weisheit» Antworten auf Zeitfragen zu finden. Und das Konzil stellt klar, dass es dabei nicht immer nur eine richtige Antwort gibt: «Oftmals wird gerade eine christliche Schau der Dinge ihnen eine bestimmte Lösung in einer konkreten Situation nahelegen. Aber andere Christen werden vielleicht, wie es häufiger, und zwar legitim, der Fall ist, bei gleicher Gewissenhaftigkeit in dergleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen» (GS 43).

Das ist eine entlastende Botschaft, die nicht zuletzt vor einer politischen Instrumentalisierung des Glaubens schützt. Papst und katholische Bischöfe sollten sich darum auf die «Grundsätze für die Reflexion» und die «Maßstäbe des Urteilens» konzentrieren, und bei der «Wegweisung zum Handeln» zurückhaltender bleiben. Auch wenn Kirchenverständnis und Menschenbild katholisch anders konturiert sind – die Mahnungen des jungen evangelischen Geistlichen treffen auch katholische Amtsträger. Wir retten die Welt nicht selbst. Erlösung gibt es nicht im Hier und Jetzt. Unsere Heimat ist der Himmel.

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