«Sie offenbarten. Nur was?»Christian Lehnerts aufwühlender Prosaband «Das Haus und das Lamm»

Basilika San Vitale, Ravenna
© Pixabay

Das titelgebende Haus steht abgeschieden außerhalb eines Dorfs im nordöstlichen Ausläufer des Erzgebirges, nicht sehr fern der tschechischen Grenze. Es als unwirtlich zu bezeichnen, wäre Schönfärberei. Morsch ist das Gebälk, der Schädlingsbefall massiv. «Kräfte der Auflösung» setzen täuschend «festen» Strukturen anhaltend zu. Ein bergendes Heim sieht anders aus. Unverkennbar eröffnet sein Zustand Assoziationen für manches, an dem oder worauf wir bauen.

Dorthin zieht sein Besitzer sich zurück, um unter einfachsten Verhältnissen zu leben. Nur ein Hund begleitet ihn. Der hier «Ich» sagt (und evidente Ähnlichkeiten mit dem Autor aufweist), rechnet noch mit «transzendenten Maßstäben gelungenen Lebens», neigt vor dem mentalen Panorama dieser Jahre also zum Eigensinn. Nicht etwa das Vermögen zur Autarkie soll die selbstverordnete Einschränkung einüben. Im Bewusstsein seiner Unwissenheit vom «Treiben der Erscheinungen» dient sie vielmehr der reinigenden Sammlung, um geschärft wahrnehmen und benennen zu lernen. Auch eine spirituelle Technik wie das Fasten gehört zu diesem Sich-Bereiten.

Innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gibt es womöglich nicht allzu viele Autoren, deren Publikationen von vornherein verlässlich ein Qualitätsversprechen innewohnt, dass keine Minute vertan sein werde, die man sich mit ihnen beschäftigt. Christian Lehnert, 1969 in Dresden geboren, der seit mehr als zweieinhalb Jahrzehnten zumal als angesehener Lyriker hervorgetreten ist, zählt dazu. Sein vierter Prosaband unterstreicht dies jetzt abermals.

Wie bereits in dem erfolgreichen Vorgänger «Der Gott in der Nuss» (2017) sind «Fliegende Blätter» als Gattungsbezeichnung angegeben. Gestützt durch das Motto rufen sie dort Hiob 13, 25 auf: eine unruhige und zerstreute, nichtig verwehende Sache. Dem lagert sich an Gehalt nun weiteres vor. Mit der Apperzeption eines «sich schnell hin und her» drehenden Salweiden-Blatts, dessen «doppelter Bewegung», beginnt der Text. Stellvertretend charakterisiert sie Lehnerts Verfahren, perspektivisch nicht Fixierbares einzukreisen. Betrachtender und Fragender ist dieser Autor, einer, der Dinge «am Rande der Unverständlichen» höchst aufmerksam um- und umzuwenden pflegt. Angestrengt erwägt das «Ich» Wirklichkeiten im Bemühen, bei ihnen jenseits von Alltagswahrnehmung und «Tagesbewusstsein» anzulangen, gespiegelt durch Begriffe, die von dem, «worauf sie erst zeigen» möchten, gut hermeneutisch nicht «zu viel wissen» sollen.

Dabei beflügelt es die Ahnung, von einer Welt umgeben zu sein, welcher Botschaften eingeschrieben sind, ein vegetatives (auch anorganisches, denn die Grenzen sind durchlässig) Atmen und Sprechen, Besinnen und Erinnern, deren Ausdrucksweise er jedoch nicht versteht. Solche Beziehung auf eine «beseelte» oder (so das andere «Hilfswort») «vergeistigte» Natur, in der immer mehr gegenwärtig sein könnte, als wir üblicherweise registrieren, geht weit über ökologisch hegende Achtsamkeit hinaus. (Auch sie ist freilich notwendig. Kurz aufblitzend, weisen kritische Notate zu unserer technologisch gestützten Machbarkeits- und Verwertungs-Kultur mit ihren «nicht mehr beherrschbaren Folgen» darauf hin: die Hybris «selbstbestimmter Rationalisten», in welcher zuletzt auch der Mensch «zum Produkt» seiner selbst werde.) Zeichen-, Fährten- und Indizien-Dechiffrierer im Konjunktiv ist Lehnert, der aus gründlichem «Sehen» Ein-Sichten keltern will. Auf diese Weise, mit mehr Fragezeichen als Gewissheiten, werden seine Aufzeichnungen für den Leser zum aktivierenden Anregungstext, auch dort, wo sie Einwände herausfordern mögen.

«Nah heran» an die «Erscheinungen» will der Autor, noch auf ihr Unscheinbarstes konzentriert, damit ihre Daseinsweisen hinter unseren ermächtigend verfestigten Setzungen «objektiver» Materialität sich aufzutun beginnen. Phänomenologische Grenzgänge sind es letztlich, auf die er sich begibt, ohne dabei – solche Skepsis bleibt ihm unhintergehbar – selbst vor der Gefahr von Konstruktionen gefeit zu sein. Dies aber schmälert nicht den Wert seiner Auf-Brechungen der Dinge unter dem Vorzeichen herausfordernder Fremdheit. Spuren eines «logos» zu entdecken wären demnach in jeglichem, das sich uns zeigt, Selbst-Überschreitungen, ja eine «transzendentale Offenheit». Bei manchen Passagen, wie sie so derzeit niemand sonst schreibt – Johanniskraut mit seiner verborgenen Sonnenstruktur beschauend oder über die atmosphärische Ausstrahlung eines Wiesenstücks – wächst seinen Beschreibungen und Reflexionen nachgerade surreales Gepräge zu.

Immer neu unternimmt Lehnert Ausfahrten in diese Räume «wie eines anderen Alls». Mit dem Vorbehalt, es könne sich hier um eine hoffnungslos verflossene Methode handeln, beerbt sein analogisierender furor der Erschließung von Bestehendem auf dessen konjunktivische Tiefenschichten hin die Tradition der frühneuzeitlichen Signaturenlehre. Allem Erscheinenden eigne «Sehnsuchtsgestalt», lautet eine der vielen wundersam-wunderbaren Inspirationen des Textes. Zuweilen bis ins Extreme werden hypothetische Verschlüsselungen behauptet eindeutiger Realitäten vorangetrieben. Teils mögen sie wie Züge einer Obsession anmuten. Insgesamt aber könnte der eingeschlagene Weg auch auf ontologische Lichtungen deuten. Mit Bedacht streut das «Ich» wiederholt Heideggersches Vokabular ein.

Die Bereitschaft für solche «Entbergungen» beabsichtigt es zu wecken, weg vom allmächtig verfügenden Subjekt in Dimensionen, die weiter/tiefer reichen als «Menschensicht» und sich dieser immerhin als Stachel mitteilen könnten. «Sie offenbarten. Nur was?» heißt es einmal, während kleine Veilchen gemustert werden. Aus dem Wahrgenommenen nähren sich ausgreifende Spekulationen. Buchstäblich geht Lehnert auf das Ganze, jene (teils schon durch den Akt des Schauens selbst beglaubigte) Einheit gemeinsamen Seins, wo wir von den Dingen nicht nur erfühlt und «erkannt» werden, sondern mit ihnen verwachsen, wechselseitig ineinander enthalten sind – jenseits von Identitäten, die sich stets als fragil erweisen, bloße «Vorformen». Das Feld der Mystik ist dem benachbart: Meister Eckhart, die Kabbala oder (am häufigsten referiert) Jacob Böhme mit seiner Theorie eines göttlichen «Ungrunds» voll gegensätzlicher Potenzen. Auf praktische Folgen drängend, gipfelt dieser Motivstrang in einer Art Glaubensbekenntnis vor dem allgegenwärtigen Horizont «eines ANDEREN»: «IHM sollst du antworten / und die Antwort ist dein Leben / […] das ist die Frage des Menschen nach sich selbst».

Parallel zu dem Buch der Kreaturen liest Lehnert, es ergänzend, noch ein zweites. Jeweils 14 Kapitel zu dem «Haus» und dem «Lamm», Zentralsymbol der das Neue Testaments abschließenden Schrift also (mit ihrem «eigenwilligen und immer etwas windschiefen mythologischen Bau»), wechseln einander ab, wobei deren letztbetreffendes allein im Maranatha besteht, dem Ruf nach baldiger Wiederkehr Christi (Apk 22, 20). Ähnlichkeiten zwischen den beiden Vorlagen lassen sich unschwer herstellen. Die ursprüngliche Bedeutung des Verbs «apokalyptein», macht der Autor geltend, sei «‹enthüllen› oder ‹entbergen›». Dem Aufdecken der Natur mit ihren «Winken» entspricht die apokalyptische «Bloßlegung der Geschichte, in der Gott sich offenbart», die Aussicht auf ein Noch-nicht-zutage-Getretenes, «das alles verändert». Hier wie dort sind Wirklichkeiten hinter der Außenseite, «Möglichkeitsräume», des Autors Thema. Für Johannes, den Seher auf Patmos, ist die Gleichförmigkeit mit dem fleischgewordenen und verklärten logos als «Wiederherstellung des rätselhaften Urtexts der Schöpfung» Fluchtpunkt dieser Anwartschaft. Flankiert durch eine sich auch in Fußnoten niederschlagenden Belesenheit, welche sich über die Rezeptionsgeschichte hinaus von Parmenides bis zur physikalischen Kosmologie der Gegenwart erstreckt, gerinnt dem «Ich» auch die Auseinandersetzung mit Abschnitten der Apokalypse nicht zu starren Lesarten.

Als labyrinthische Schwellenexzerpte einer Erschütterung vor dem Hintergrund des Zerfalls bisher unbezweifelter Wege und Orientierungen versteht es sie, «im Übergang» zu fundamental Neuem. An bestimmten Stichworten und Beispielen aus dem Strudel von «wirren, dichten und ihren Sinn vielfach erst suchenden Bildern» sich entlang bohrend, bleibt Lehnert im Vergleich zum Ende der Zeit mehr auf das sich am Menschen vollziehenden Erlösungsgeschehen ausgerichtet. Ein «Eigentlicher», «Wahrer» und «Ewiger»: so erscheine dieser in der Szene mit der Frau und dem Drachen. Die gegenwärtige Spezies hingegen sei noch «Samenkapseln» gleich und ziele auf «ein Fehlendes», über den Tod hinaus.

Bleibt das irdisch erfahrene Leid gleichwohl antwortlos? An dessen ‹Warum›, der Theodizeefrage, scheuert der Autor sich jedenfalls wund. Wiederholt gerät seinem Text die Versehrtheit der Natur krass in den Blick, das dort innewohnende Grauen, (Selbst)Zerstörung und Tod als fundamental Unversöhnbares. Menschen treten nur im Zustand äußerster Deformation vor ihrem Erlöschen auf. Das Entsetzen des Geschichtsprozess wird am Beispiel des Zugs von Insassen aus einem nahen weiland Konzentrationslager bleibender Erinnerung eingegraben. Angesichts dieses Bösen diskutiert das «Ich» eine Doppelgesichtigkeit Gottes und wehrt sich gegen sie. Unter den verschiedenen «Versuchen», eine Lösung zu finden, kann er fragend sogar mit dem Leid gleichgesetzt werden, durch das dem Menschen schließlich ein Ausgang aufsteigt.

Nicht nur an Stellen wie diesen, sondern durchgehend, verrät Lehnerts Buch sich als das eines Dichters von Rang, der zugleich Theologe ist. Mit Recht wird freilich auf einem Unterschied zu den Exponenten des akademischen Fachs insistiert. Tatsächlich rückt er seinen Gegenstand nicht semantisch wohlgeordnet in die Distanz, sondern schreibt als Erfahrender und Betroffener, «gepackt oder verfolgt vom theos», in «stammelnder» Selbstmitteilung. Dem Leser übermittelt sich dies als auf weite Strecken aufwühlende Lektüre.

Mit der Gebärde von «Anbetung» enden die «fliegenden Blätter», das radikalste und ungeschützteste, insofern wohl auch beste nicht nur der Prosawerke Christian Lehnerts: einem Zustand reiner Anwesenheit unter Zurücklassung von Allem. Selbst oder gerade einer möglichen Gleichgültigkeit der Welt dem reflektierenden Menschen gegenüber, kommt dessen gesamtes Begehren darin zur Ruhe.

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