Herbstseele
(entst. 1913, gedr. 1915)
Jägerruf und Blutgebell;
Hinter Kreuz und braunem Hügel
Blindet sacht der Weiherspiegel,
Schreit der Habicht hart und hell.
Über Stoppelfeld und Pfad
Banget schon ein schwarzes Schweigen;
Reiner Himmel in den Zweigen;
Nur der Bach rinnt still und stad.
Bald entgleitet Fisch und Wild.
Blaue Seele, dunkles Wandern
Schied uns bald von Lieben, Andern.
Abend wechselt Sinn und Bild.
Rechten Lebens Brot und Wein,
Gott in deine milden Hände
Legt der Mensch das dunkle Ende,
Alle Schuld und rote Pein.
Bereits der zweiteilige Titelbegriff (in früheren Fassungen nur «Seele»)1 deutet an, dass der in Salzburg geborene Autor (1887–1914) Impressionen eines herbstlichen Gangs mit Blick auf ein «Stoppelfeld» (V. 5) in eine spirituelle Landschaft verwandelt, zuletzt sogar eine theologische Aussage formuliert, die «den Menschen» (V. 15) als Gattungswesen angeht. Mit expressiver Härte und akustischem Nachdruck ruft der erste Vers in zwei ‹Konfixen› (zusammengesetzten Substantiven) Verfolgung und Tod auf, nicht nur durch den Menschen, sondern auch durch Tiere, die hetzenden Hunde des Jägers, dann durch den schreienden Habicht (V. 4). Trakl arbeitet am Ende der beiden ersten Strophen mit härteren oder weicheren Klangfiguren der Alliteration (Habicht, hart, hell – still, stad); vorher schon (V. 6) assoziiert die Junktur «schwarzes Schweigen» Tod und Trauer; sie wurde in die Druckfassung eingesetzt für die Verbindung «leeres Schweigen». Das Prädikat «banget», das zu dem Lebensraum des Menschen zwischen Himmel und Erde (V. 7f.) gehört, macht aus den Herbstimpressionen endgültig ein in Düsternis getauchtes Seelengemälde. Wie so oft bei Trakl wird die altchristliche Figur des Wanderers evoziert, der aber hier ins Dunkel geht (V. 10). Trakl als Dichter liebte die rhetorische Figur der sog. Enallage, der Vertauschung der gewohnten logischen Wortbeziehungen: Nicht das «Wandern» ist eigentlich «dunkel», sondern der Raum, in dem gewandert wird, oder, metaphorisch ausgedrückt, der Gefühlszustand des Wanderers. «Dunkel» heißt: Es wird Abend, an dem der Weiher nichts mehr widerspiegelt (V. 3), Einzelheiten der Natur der Wahrnehmung «entgleiten» (V. 9) und «Wandern» den Abschied von vertrauten Menschen (V. 11) mit sich bringt. Das Beiwort «blau», als ‹absolute Metapher› (d.h. Bildvorstellung ohne ein klares Tertium comparationis) bei Trakl geradezu inflationär benutzt, mag man als Chiffre verstehen für einen Zustand der Seele zwischen Licht und Dunkel. Nur selten führen bei Trakl Wanderungen an einen heimeligen Ort. Mit unserem Gedicht vergleichbar sind Szenerien von Zerstörung und Verstörung, von Schuld, Leid und Tod wie in einem seiner von Baudelaire bzw. Rimbaud inspirierten Prosagedichte («Verwandlung des Bösen»): «Herbst. Schwarzes Schreiten am Waldsaum; Minute stummer Zerstörung, auflauscht die Stirne des Aussätzigen unter dem kahlen Baum. […] Unter dem Haselgebüsch weidet der grüne Jäger ein Wild aus. Seine Hände rauchen von Blut und der Schatten des Tiers seufzt im Laub über den Augen des Mannes, braun und schweigsam; der Wald. […] Angst, grünes Dunkel, das Gurgeln eines Ertrinkenden: aus dem Sternenweiher zieht der Fischer einen großen schwarzen Fisch, Antlitz voll Grausamkeit und Irrsinn. […]»2
Klar wird gesagt: Die Bedeutung von «Abend» ändert sich (V. 12). Aus der Tageszeit wird der psychische Zustand des Menschen am Ende eines Lebens, das in «Dunkel», «Schuld» und «Pein» (doppeldeutig zu verstehen als ‹Schmerz› und ‹Strafe›) mündet (V. 15f.). Wie aber ist grammatisch und semantisch die Junktur zu verstehen, die das eucharistische Heilssymbol von «Brot und Wein» mit dem (explikativen?) Genitiv-Attribut des «rechten Lebens» verknüpft, in einer lediglich exklamatorischen, irgendwie feierlichen Wortkombination ohne Prädikat (V. 13)? Oder ist dieser Vers, durch ein Komma abgetrennt, als vorweggenommene Anrede an jenen «Gott» im folgenden Vers zu verstehen, in dessen «milde Hände» der Mensch sein «Ende» legen kann? Wessen «rechtes Leben» also? Ist das Leben Christi gemeint, seine Erlösungstat, im Sakrament gegenwärtig, wodurch sich, gerade für den von «Schuld» Gepeinigten, auch das Bild Gottes geändert hat? Klarer als hier hat Trakl die eucharistische Zweiheit als Heilssymbol in dem Gedicht «Ein Winterabend» verwendet. Ein Wanderer «auf dunklen Pfaden» betritt ein «wohlbestelltes Haus», in dem sich über eine vom «Schmerz versteinerte Schwelle» hinweg eine offenbar Heil versprechende Epiphanie ereignet (die beiden letzten Verse): «Da erglänzt in reiner Helle / Auf dem Tische Brot und Wein.»3 Gerade in seinem Gedicht «Menschheit», in dem außer dem «Blutnebel» des Krieges Verirrungen und Laster der Gegenwart, eines «gottlosen verfluchen Jahrhunderts»,4 angeklagt werden, beruft Trakl im zweiten Gedichtteil die Zwölferschar der Jesus-Jünger, erinnert an die Einsetzung des Abendmahls, den Schlaf der Jünger am Ölberg und an die Probe des gläubig-ungläubigen Thomas, mit dem sich Trakl wohl selbst identifizieren konnte. Aus dem «schwarzen Schweigen» in «Herbstseele» (siehe oben) ist hier beim Abendmahl ein «sanftes Schweigen» geworden:5
Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,
Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,
Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt,
Verzweiflung. Nacht in traurigen Gehirnen:
Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld.
Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl.
Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen
Und jene sind versammelt zwölf an der Zahl.
Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen.
Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.
Bekanntlich empfand sich Trakl als ein von Schuld Beladener, war in erotische und familiäre Verirrungen verstrickt, war immer wieder dem Alkohol und dem Rauschgift verfallen. Als Apothekergehilfe wurde er nach Galizien an die Ostfront kommandiert, verzweifelte, als er in einer Scheune ohne Medikamente und ärztliche Hilfe 90 Schwerverletzte zu versorgen hatte. Auf dem Rückzug unternahm er einen Selbstmordversuch. In einer Krakauer Klinik verstarb er am 3. 11. 1914 infolge einer Herzlähmung, hervorgerufen durch eine Kokainvergiftung, also wohl von eigener Hand. Kein deutscher Lyriker der klassischen Moderne hat sich so deutlich und so beständig bewegt im Kosmos christlicher Symbole und Begriffe, war so eindeutig fixiert auf die Spannung von Schuld und Sühne, Heil und Erlösung, Reinheit und Befleckung, Himmel und Hölle, Licht und Dunkel wie dieser Dichter.