Religionssoziologische Erhebungen bestätigen es immer wieder: In einer zunehmend säkular geprägten Gesellschaft schwindet die Gottesfrage, ja, sie verschwindet vielfach sogar. Und sie scheint spurlos zu verschwinden – wenigstens mit Blick auf die Angebote institutionell verfasster Religionen ist jedenfalls eindeutig zu konstatieren, dass viele Menschen daran schlicht keinerlei Interesse mehr haben. Viele empfinden offenbar keine Gottessehnsucht mehr. Und in hoch entwickelten, ausdifferenzierten und reichen Gesellschaften lassen sich offenbar auch alle Bedürfnisse, die der Mensch empfindet, mit anderen Mitteln als mit denen der Religion adressieren. Statt zu einer Wallfahrt aufzubrechen oder Fürbitte zu halten, wendet man sich bei Krankheit an einen Arzt. Soziale Anbindung sucht man nicht mehr in der Gemeinde oder im katholischen Verein, angesichts des Verlangens nach Sinnempfinden bemüht man nicht mehr den Gedanken eines liebenden Gottes, Glück und Heil in Vollendung verspricht die Lebensgestaltung und nicht mehr die Jenseitshoffnung.
Aber erzählt all dies, erzählt auch das empirisch erhebbare Datum des Schwindens der Gottessehnsucht bereits die ganze Geschichte? Richtig ist ja auch, dass die Fragen, auf die Menschen früher häufiger religiöse Antworten suchten, mit der Ablehnung Letzterer nicht einfach verschwinden. Das Streben nach Glück, das Verlangen nach Vollkommenheit, die Sehnsucht nach Liebe, sie alle bleiben dem Menschen erhalten, auch dem postreligiösen, von keinerlei Transzendenzempfinden mehr angetriebenen Menschen, dessen überlebensrelevante Grundbedürfnisse in einer Wohlstandsgesellschaft allemal befriedigt werden. Aber fehlt nicht doch etwas, auch wenn nichts mehr fehlt? Ist der Mensch die Sehnsucht wirklich losgeworden, die ihn früher auf die Himmel verwies?
Immer wieder sind es Literaten, die dem Gedanken Ausdruck geben, dass da doch ein Sehnen bleibt, eine Getriebenheit in aller Geschäftigkeit, das Empfinden einer Leere in aller Fülle. Thomas Hürlimann hat von den «metaphysischen Antennen» des Menschen gesprochen, die nun «ins Leere zappeln» – aber sie zappeln; der Mensch ist mit dem Transzendenzempfinden nicht zugleich auch das Transzendenzsensorium losgeworden. Hans Magnus Enzensberger formuliert in seinem Gedicht «Empfänger unbekannt. Retour à l’expéditeur» Dank an einen fehlenden Adressaten – Dank unter anderem auch «dafür, daß mir das Feuerzeug nicht ausgeht, / und die Begierde und das Bedauern, das inständige Bedauern». Und Arnold Stadler, der auch in diesem Heft mit einem Beitrag vertreten ist, zeichnet in seinem Roman «Sehnsucht» ein tiefes Empfinden von Zerrissenheit, von Schmerz über die Nichtigkeit des Lebens und letztlich von einem Sehnen, das sein Ziel verloren hat.
Tatsächlich hat die Tradition christlicher Anthropologie den Menschen immer als das Geschöpf angesehen, dessen wesenhaftes Sehnen an allem Irdischen nur ins Leere laufen kann. Paradigmatisch formulieren es die berühmten Worte aus Augustins Confessiones: «Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.» Thomas von Aquin denkt den Menschen als das Wesen, das naturhaft nach Glück strebt, am Endlichen aber nie das ersehnte Genügen findet. Die Mystiker sehnen sich nach Vereinigung mit Gott. Teresa von Ávila: «Solo Dios basta» – «Gott allein genügt». Gott allein, nichts sonst. John Henry Newman beobachtet in einer Predigt, dass die meisten Menschen ihr Sehnen mit der Liebe zu Heim und Familie zu stillen suchen – was die Seele aber stets unbefriedigt zurücklässt, solange, bis sie Gott findet. Für Maurice Blondel schwingt in jedem Willensakt des Menschen ein Verlangen nach dem Absoluten mit. Karl Barth konstatiert, dass der Mensch dieses Verlangen nicht nicht haben kann, und Henri de Lubac mahnt die Theologie, die Betonung der Ungeschuldetheit der Gnade nicht um den Preis zu erkaufen, dass man den Menschen nicht mehr als das in aller Radikalität auf die Gnade angewiesene Wesen ansieht – eben deswegen, weil es seinen Daseinshunger an nichts anderem zu stillen vermag als an Gottes Zuwendung. Und Karl Rahner schreibt: «Was aber ist der Mensch, als das Wesen, das, sich selber nicht genug, nach deiner Unendlichkeit begehrt und darum deinen fernen Sternen entgegenzulaufen beginnt und so – alle Straßen dieser Welt abläuft und deine Sterne auch am Ende aller dieser Wege immer noch ruhig in der gleichen Ferne leuchten sieht?»1
Diese Reihe ließe sich leicht und fast beliebig fortsetzen, und zwar nicht nur aus Quellen der Theologie-, sondern auch der Philosophiegeschichte. Das vorliegende Communio-Heft konnte also aus dem Vollen schöpfen, wenn es das Anliegen verfolgte, diesem Gedanken nachzuspüren, dass der Mensch am Endlichen nie genug hat. Einleitend skizziert Ursula Schumacher die hier angezielte Anthropologie im Rückgriff auf Texte von Henri de Lubac und diskutiert den theologischen Stellenwert dieser anthropologischen Annahme: Welche Anfragen lassen sich dagegen vorbringen und wie sind diese zu bewerten? Welches theologische Gegenwartspotenzial hat die Sehnsuchtsanthropologie? Und woher rührt der Befund, dass die jüngere Anthropologie dieses Gegenwartspotenzial nicht immer anzuerkennen scheint? Anschließend lädt der Beitrag von Markus Enders ein zu einer tour d’horizon durch die Philosophiegeschichte – auf der Suche nach den Grundzügen philosophischen Sehnsuchtsdenkens, von der platonischen Tradition über griechische Kirchenväter, die mittelalterliche Theologie des Abendlandes, frühneuzeitliche Autoren und bis hin zum Deutschen Idealismus und der Philosophie der Romantik. Immer wieder, so lässt dieser Text erkennen, faszinierte das Empfinden der Sehnsucht philosophische Denker, und sehr oft fand man darin ein Verwiesensein des Menschen in die Unendlichkeit. Matthias Ederer unternimmt eine Spurensuche im Alten Testament, die sich dem semantischen Spektrum des Wortes næfæš widmet. Dieser hebräische Begriff bezeichnet nicht nur die Kehle, den Schlund des Menschen, sondern auch sein Streben, seine Bedürftigkeit, sein Verlangen. Kann dieses Verlangen sich auch auf Gott richten, möglicherweise sogar in einem Sinn, der Augustins Wort eines ruhelosen Herzens nahekommt? Matthias Ederer widmet sich Ps 42/43, dem großen Sehnsuchts-Psalm, findet und reflektiert darüber hinaus aber auch noch einen weiteren sehr aufschlussreichen Beleg aus dem Buch der Psalmen.
In der mittelalterlichen Theologie spielt der Gedanke des desiderium visionis beatificae, des menschlichen Verlangens nach der beseligenden Gottesschau, eine ganz zentrale Rolle. Manfred Gerwings Beitrag richtet hier mit dem Blick auf Meister Eckharts Sehnsuchtsverständnis das Schlaglicht auf einen spezifischen mittelalterlichen Denkansatz, der nicht nur gegenwärtig auf hohes Interesse stößt, sondern auch deswegen von besonderer Bedeutung für das Heftthema ist, weil darin neben scholastischen Überlegungen auch das mystische Sehnen nach der Vereinigung mit Gott Ausdruck und eine eigenständige Reflexion findet. Nichts weniger als dies, die völlige Verschmelzung mit Gott, ist in der Sicht des deutschen Dominikanertheologen und Mystikers das Ziel des menschlichen Sehnens. Albert Raffelt wiederum spannt noch einmal einen weiten theologie- bzw. philosophiegeschichtlichen Bogen auf, wenn er in drei Schlaglichtern dem Motiv des bis zur Ruhe in Gott stets unruhigen Herzens von der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein nachspürt: Augustins theologische Anthropologie, wie sie insbesondere in den «Confessiones» entfaltet wird, begründet diesen Bogen, der sich in einer Linie der Augustinusrezeption prominent über Blaise Pascal und bis hin zu Maurice Blondel zieht, der seinerseits Inspirator für einen breiten Strang der Theologie des 20. Jahrhunderts wurde.
Xandro Pachta-Reyhofens Beitrag ist der theologischen Reflexion eines Phänomens gewidmet, das sich als eine neue Spielart des Umgangs mit dem menschlichen Sehnen einordnen lässt: Es geht um den Transhumanismus. Diese heterogene Strömung tritt in vielen Fällen mit dem Anspruch an, letztlich nichts Geringeres erreichen zu wollen als das Überschreiten aller Grenzen, die dem menschlichen Daseinsvollzug durch Leiblichkeit, Krankheit und Sterblichkeit gesetzt sind, und illustriert insofern deutlich das menschliche Sehnen nach Überschreitung der eigenen Grenzen und wirft tiefgreifende anthropologische Rückfragen auf. Eine eigene, die Reflexionen der Fachtheologie überschreitende und zugleich seinerseits tief religiös geprägte Perspektive steuert schließlich der Text von Arnold Stadler bei, der biographisch geerdet und literarisch ins Weite ausgreifend über die Sehnsucht und das Verlangen reflektiert, das den Menschen so tief prägt – und das auch unter dem sehnsuchtsfeindlichen Andrang von technizistischen, utilitaristischen oder funktionalistischen Zugriffen auf das Menschsein nicht zum Erliegen kommt, ein großes, je individuelles De profundis, in dem das Leben des Menschen zusammenfließt und das für den Schriftsteller letztlich im Schweigen endet. Auch die theologische Anthropologie wird ihr Nachdenken über den Menschen letztlich ins Schweigen einmünden lassen – gerade deswegen, weil sie den Menschen als das Wesen ansieht, über das noch nicht alles gesagt ist, selbst wenn sämtliche empirischen Daten über ihn genannt sind. Aber dieses Schweigen ist ein Schweigen der Hoffnung: darauf, dass das ruhelose menschliche Herz einmal zur Ruhe finden wird.