«Wirklichkeit ist mehr als das, womit man schmeißen kann», ein spielerisches Wort, mit dem der Münchner Jesuit Béla Weissmahr (1929-2005) versuchte ins Wort zu bringen, was ist. Auch für den Dramaturgen und Novellisten Hartmut Lange (geb. 1937) erschöpft sich die Wirklichkeit nicht im Empirischen. Die «metaphysische Bedürftigkeit» des Menschen,1 aus dem ein ihm eigenens «Transzendenzbegehren»2 erwächst, drängt ihn, so Lange, über die Erkenntniswelt hinaus, eine Vorstellungswelt zu etablieren, die nicht einfach nur eine unterhaltsame oder sublimierende Fiktion sei, sondern einen ihr eigenen Wahrheitsgrund besitzt. Lange impliziert mit dem Postulat eines der Vorstellungswelt eigenen Wahrheitsgrundes jedoch keineswegs, dass hierdurch eine transzendentale Erfahrung des Menschen möglich sei, die objektiv über ihn hinausweist und sichere Erkenntnis vermitteln kann. Wahres offenbart sich vielmehr im Konflikt zwischen Erkenntniswelt und Vorstellungswelt an ihren Bruchkanten.
I
Hartmut Lange hat über seine Perspektive auf das Verhältnis von Kunst, Religion und Wirklichkeit ausführlich und intensiv nachgedacht und über seinen Wahrheitsgrund immer wieder in Interviews, Vorträgen und Essays Auskunft gegeben.3 Die diesem jüngsten Novellen-Band von 2022 beigegebene Schrift «Ein Schritt in die Abstraktion»4 (93ff) legt davon Zeugnis ab und macht damit die neun Novellen nicht nur zu einem literarischen Ereignis, sondern immer auch zu «stilistisch strengen» Übungen und Variationen des Langeschen
Wirklichkeits- und Kunstverständnisses im Geiste des von ihm so genannten «positiven Nihilismus»,5 in gewisser Weise entstanden durch den «Schritt aus der Abstraktion heraus».
II
Eine der großen Errungenschaften der Fotografie ist es, durch Assoziation und Dissoziation gewonnene ungewöhnliche Perspektiven auf – scheinbar – gewöhnliche Objekte einzufangen und den Betrachtern zu vermitteln. Mit literarischen Mitteln gelingt dies Hartmut Lange. In seinen Novellen erzählt er von Menschen, die in ihrer je eigenen Vorstellungswelt die Wirklichkeit nicht nur «transzendieren», sondern, um es mit Lange zu sagen: auch «majorisieren», und ihr so ein unauslöschliches Prägemal aufdrücken. Beinahe schon unmerklich für die Protagonisten gesellt sich die Vorstellungswelt zur Erkenntniswelt, bisweilen wie ein «glitch» oder wie eine Folie, die sich vor das eigene innere Auge der Protagonisten schiebt und die Wahrnehmung ihrer Welt verändert. Innerer Auslöser dieser Verschiebungen – wie auch der Zweck der Vorstellungswelt an sich – ist das individuelle Streben nach Bewältigung des Lebens. Sie ist ein Angebot der Tröstung als je eigene Antworten auf eine gebrochene Welt im Angesicht des Todes. Die Protagonisten in den Novellen erfahren diesen Trost in ihren eigenen Vorstellungswelten. Die Novellen wiederum sind selbst Trostschriften Hartmut Langes für sich selbst und wollen es auch für die Leser werden. Sie entfalten ihre Ausdruckskraft und Wirkung nicht durch ein farbenreiches, überschwängliches Pathos, sondern durch ruhige, fast schon lakonische Beiläufigkeit.
III
In der ersten Novelle, die der Sammlung ihren Namen gibt, «Am Osloer Fjord oder der Fremde» bildet die von der Covid-Pandemie und einem möglichen Asteroiden-Einschlag bedrohte Welt den Hintergrund. Die Vorstellungswelt des Ich-Erzählers ist das Medium, diese Krise gewissermaßen zu bewältigen. Dem von den natürlichen Elementen möglicherweise herbeigeführten Untergang seiner selbst und der Menschheit wird der sich alltäglich wiederholende Untergang im Akt des Tötens gegenübergestellt: die varianten- wie einfallsreiche Inszenierung des Tötens ist Ausdruck des menschlichen «Willens zur Kultur» und bietet eine gewisse Verlässlichkeit gegenüber den Zufälligkeiten der Natur. Diese Überlegungen wecken im Ich-Erzähler einen starken Wunsch, sich dieser Sicherheit zu überlassen.
Die Inszenierung des Todes ist auch Thema in der zweiten Novelle «Lia Svensson oder das Sterben der Mimi». Lia Svensson, eine erfolgreiche Opernsängerin, verkörpert Abend für Abend die an Schwindsucht tödlich erkrankte Näherin Mimi in der Oper La Bohème von Giacomo Puccini. Lia Svensson wird mehr und mehr das Paradox, ja, die Unvereinbarkeit der Situation bewusst, dass sie im letzten Akt der Oper als Mimi stirbt, um wenige Augenblicke später als gefeierte Operndiva für das «Sterben der Mimi» vom Publikum applaudiert zu werden, was ihr zunehmend unerträglich wird.
Das Verhältnis von Darstellerin und Dargestellter greift die dritte Novelle auf. Die erfolgreiche französische Schauspielerin Ellen André posiert (zusammen mit dem Maler und Schriftsteller Marcellin Desboutin) als abgestumpfte Absinth-Trinkerin für das Gemälde «Der Absinth» (1875/76) ihres Künstler-Freundes Edgar Degas. Das berühmte Gemälde verewigt die beiden und macht sie durch die Kunst in gewisser Weise auf scheinbar tröstliche Weise unsterblich. Doch um welchen Preis? Die beiden Dargestellten bleiben auf Dauer nicht als sie selbst, sondern als Absinthtrinker im kulturellen Gedächtnis erhalten, eine rein fiktive, ja sogar kontrafaktische Erinnerung. Dieses Missverhältnis – ein für Ellen André unglückliches Schicksal – ruft bei einem Museumsbesucher die starke Bewegung hervor, helfend einzugreifen.
In der dritten, die Vorstellungswelt der Kunst thematisierenden Novelle «In der Bleibtreustraße» sucht der Autor Detlev von Rosen Trost im Schreiben. Eine frühere unglücklich geendete Beziehung verschafft sich in seiner Vorstellungswelt wieder Geltung und bietet ihm jetzt die Gelegenheit der schriftstellerischen Bewältigung.
Die Flucht einer Frau aus einer vermutlich gewalttätigen Beziehung schildert die Novelle «Im Nagelstudio» aus dem Blickwinkel eines unbeteiligten Beobachters. Der Trost, den diese Frau durch die Aufmerksamkeit und Freundlichkeit der Angestellten des Nagelstudios erfährt, ermöglicht ihr, sich zu befreien.
Während die Novelle «Am Lortzingdenkmal oder die Linde» eine Parabel auf eine von Dominanz und Konflikt geprägte Beziehung erzählt, gewährt Hartmut Lange mit dem Stück «Unterwegs» den Lesern Einblick in eine sich in Auflösung befindliche Ehe und den vergeblichen Versuch des Mannes, in seiner Vorstellungswelt das endgültige Scheitern der Beziehung seiner Frau zu ihm zu verdrängen: sie kommt nicht zu ihm zurück und ihm gelingt es nicht, eine neue Perspektive zur Bewältigung und zum Trost zu gewinnen.
Bewältigung und Trost sind auch Thema von «Der Unbekannte». Es geht um Erinnerung an das Sterben der vielen namenlosen und unbekannten Menschen im Holocaust und die Mahnung, ihrer nicht zu vergessen.
Die letzte Novelle «Und wieder am Osloer Fjord» verbindet den Gedanken an das Schicksal von Unbekannten mit dem Wunsch, ihnen in der Vorstellungswelt zu einem «unmöglichen» – das heißt: kontrafaktischen – Trost zu verhelfen. Es wird dabei auch deutlich, dass dieser Versuch nicht allein altruistisch ist, sondern selbst wiederum dem Trostbedürfnis derjenigen entspringt, welche dies in ihrer Vorstellungswelt geschehen lassen.
IV
Die Novellen Hartmut Langes erzählen von Gelegenheiten des Trostes angesichts der existenziellen Ängste des Menschen – und sie sind auch selbst Gelegenheiten des Trostes für die Leserinnen und Leser.