Dieses Mal wird niemand sterbenZu Jannie Regnerus Roman «Das Lamm»

Wenig weiß man im deutschen Sprachraum über Jannie Regnerus. «Das Lamm» ist ihr einziges Buch, das ins Deutsche übersetzt worden ist. Ihre Romane ernteten höchstes Lob in den niederländischen Feuilletons. Immer wieder wird ihre poetische, unsentimentale, feinsinnige Sprache gerühmt, die auch in der deutschen Übersetzung des «Lamms» durch Ulrich Faure spürbar ist, wenn es um die ersten und die letzten Dinge eines Lebens geht, um Leben und Tod wie um Werden und Vergehen in der Natur.

 Jan van Eyck (1390-1441): Die Anbetung des Lammes
Jan van Eyck (1390-1441): Die Anbetung des Lammes© gemeinfrei/Wikimedia Commons

Dieser Blick bannt, fasziniert, man kann sich ihm nicht entziehen. Das Lamm: Es schaut den Betrachter bereits auf dem Titelbild des Romans von Jannie Regnerus mit dem intensiven Blick eines seiner Augen an, ein Strahlenkranz umgibt seinen Kopf. Der Blick irritiert, denn fast scheint es, als habe es fragend eine Augenbraue emporgezogen. Das Bild und dieser Blick ziehen uns in den schmalen Roman der niederländischen Autorin hinein. Bevor wir zu lesen beginnen, begegnen wir dem Kopf des Lamms noch einmal, auch in einer Schwarz-weiß-Reproduktion verliert es nichts von seiner Faszination. Es ist ein Detail des mystischen agnus dei aus dem berühmten Genter Altar des Jan van Eyck, des Zentrums einer paradiesischen Landschaft. Seit 2012 wurde der Altar, der 1432 aufgestellt wurde, grundlegend restauriert, wurden siebzig Prozent der Übermalungen aus vier Jahrhunderten entfernt. Jetzt schaut das Lamm uns an mit seinen zwei ungleichen Augen, fragend, skeptisch, aber auch in sich ruhend – ein menschliches Antlitz. Das Lamm, nicht der gekreuzigte Schmerzensmann, steht auf dem Altar zwischen dem Kreuz auf der einen und der Martersäule auf der anderen Seite. Das Blut aus der Seitenwunde fließt in hohem Bogen in einen Messkelch, einzelne Tropfen fallen auf das weiße Altartuch. «Das Bluten scheint dem Lamm nichts auszumachen, es hat mit der Auferstehung begonnen, gestärkt durch den Segen, den es von der weißen Taube direkt über sich erhält», heißt es im Roman.

Es beginnt damit, dass der fünfjährige Joris Blut pinkelt, «das Zinnoberrot der altniederländischen Maler». Nierenkrebs. Auch wenn die Mutter den Begriff vermeidet und ihn durch das «Fünfbuchstabenwort» ersetzt, wenn sie statt von einem Krankenhaus von einem «Bessermachhaus» spricht, verliert die Diagnose nichts von ihrer Bedrohlichkeit, beruhigende Erklärungen gehen fehl. «Was nützt einem eigentlich ein derart beschönigungsbereites Gehirn, das alles tut, um die Welt wenigstens noch einen Augenblick als einen heilen Ort aussehen zu lassen?» Wie aus diesem Befund und aus dem Alltag, der plötzlich seine Sicherheiten verliert und fragwürdig wird, Literatur entsteht, verdeutlicht Jannie Regnerus. So wie Jan van Eyck im Genter Altar Zeichen und Symbole zu einem Netz verspinnt, so verwebt sie kunstvoll und nie aufgesetzt gekünstelt Motive und inhaltliche wie sprachliche Verweise. Wenig weiß man im deutschen Sprachraum über Jannie Regnerus. «Das Lamm» ist ihr einziges Buch, das ins Deutsche übersetzt worden ist. Sie hat eine Zeitlang in Japan («Het geluid van vallende sneeuw») und in der Mongolei («De volle maan als beste vriend») gelebt; nach ihrem literarischen Debut mit «De Ent» ernteten ihre Romane «Het Lam» (2018), «Nachtschrijver» (2019) und «Het Wolkenpaviljoen» (2020) höchstes Lob in den niederländischen Feuilletons. Immer wieder wird ihre poetische, unsentimentale, feinsinnige Sprache gerühmt, die auch in der deutschen Übersetzung des «Lamms» durch Ulrich Faure spürbar ist, wenn es um die ersten und die letzten Dinge eines Lebens geht, um Leben und Tod wie um Werden und Vergehen in der Natur.

Der Bogen der erzählten Zeit spannt sich von einem Ostersonntag bis zu einem Tag am Ende des Winters mit seinen letzten Schneeresten, von der Diagnose über die Therapie bis zum vorläufigen Ende der Giftkur. Aufschub ist gewährt, ein endgültig gutes Ende aus medizinischer Sicht jedoch nicht. Was letztlich Clarissa, die frühere Kunststudentin, nach Gent in die St. Bavo Kathedrale zieht, bleibt offen. Joris und seine Mutter legen sich beim Besuch der Kirche belgische Pralinen wie Hostien auf die Zunge, Clarissa schmeckt das Bittere und das Süße «Aug in Aug mit dem Zinnoberrot von Gottes Gewand». Die Farbe verbindet Anfang und Ende des Romans, die Bedrohung bei Ausbruch der Krankheit und den Moment, als Clarissa mit ihrem Sohn vor dem Altar steht: «Clarissa nimmt Joris auf den Arm, damit er auf Augenhöhe mit dem Lamm und näher zur Taube kommt, deren zitternde Flügel das göttliche Licht brechen.» Der Roman endet mit dem breiten Grinsen des schokoladenverschmierten Joris. Ob man dies als Zeichen der Hoffnung deuten kann und worauf sie sich richtet, auf die Heilung von der Krankheit oder auf eine Transzendenz, bleibt offen. «Rettung kommt von dem Lamm», heißt es in der Offenbarung des Johannes.

Mit einem Lamm beginnt auch der Roman in einem vorgeschalteten Kapitel. Es ist ein totes Lamm auf einem Markt in Tunis, «auf einem Altar aus zusammengekehrtem Schmutz und Kartonfetzen», die weit aufgerissenen Augen sind glanzlos, «Fliegen mit grünschillernden Leibern» lassen sich auf ihnen nieder. Das wollige Fell ist stumpf geworden. Welch ein Gegensatz zu dem Lamm des Genter Altars, zu dessen Blick. Für Joris ist dies die «erste Begegnung mit der Endlichkeit», für die er noch keinen Begriff hat, die ihn jedoch existentiell berührt. Wenn ein Lamm stirbt, kann er es dann auch? Der Gedanke an den Tod, den Moment des Sterbens erscheint der Mutter zu diesem Zeitpunkt noch Lichtjahre entfernt. Sie muss auf die leise Panik des Kindes reagieren, darf die Frage weder ignorieren noch eine Antwort verschieben. Sie sucht nach Trost. Aus dem Tod des Lamms in Tunis wird die Ausnahme von der Regel, denn «Sterben, das war etwas für alte Leute». Da weiß sie noch nicht, wie nahe der Tod an Joris und sie heranrückt.

Mutter Clarissa – ihr Vorname erinnert an die Hl. Klara – und Joris stehen im Zentrum des Romans, der Vater wird nur kurz erwähnt. Joris, das ist auch Georg der Drachentöter. Namen scheinen nicht willkürlich gewählt. Joris kämpft gegen den Krebs. Mit seinem Vater hat Joris Drachentöten gespielt, mit einem Holzschwert, der Vater spielte den verwundeten Drachen. Die Legenda Aurea erzählt, dass die Stadt Silena von einem Drachen belagert wurde, der die Luft mit seinem Gifthauch verpestete. Täglich wurden zwei Schafe geopfert, um seinen Grimm zu besänftigen. Als es keine Schafe mehr gab, wurde gelost, welcher Sohn, welche Tochter der Stadt geopfert werden sollte. Zwei Perspektiven sind denkbar: Ist Joris das Opferschaf oder ist er derjenige, der das Böse, den Drachen, die Krankheit überwindet?

Für den Schmerz, den der Fünfjährige erleidet, gibt es kein Bezugssystem mehr, die Schmerzen, die bis zum Erbrechen von Galle führen, stehen außerhalb der Erfahrungen von Schrammen, im Spiel geholt, aufgeschürften Knien oder einer Beule am Kopf, wie sie jedes Kind erlebt. Er hat keine Kraft zum Schreien mehr, nicht einmal mehr Tränen. Die Mutter verliert ihren Blick für Schönheit, sieht nur noch Ende und keinen Anfang mehr. «Ihr Blick hakt sich an kaputten Dingen fest und macht sie noch toter, als sie ohnehin schon sind.» Es geht aber auch um Bemühungen, Szenarien zu schaffen, die Beruhigung vermitteln sollen, um die Faszination, die sich einstellt, wenn Mutter und Sohn durch das Teleskop den Mond oder den Wetterhahn auf dem Kirchturm betrachten. Immer wieder verbindet die Autorin Joris’ Krankheit mit religiösen Motiven. Der OP-Saal wird zum Königreich der Reinheit, das weiße Laken des Krankenbettes wird zum Altartuch. Joris ist von ihm heruntergenommen worden «zur Restauration in die Katakomben», als wäre er ein mit technischen Mitteln zu restaurierendes Kunstwerk. Joris soll in der Schule über sein Lieblingsbuch berichten. Er sucht sich aus der Kinderbibel ausgerechnet die Passionsgeschichte aus. Der Strahlenkranz aus goldenen Haaren, den Clarissa morgens vom Kopfkissen des Sohnes aufsammelt, erinnert jenseits jedes Versuchs einer Gleichsetzung deutlich an den Strahlenkranz des göttlichen Lamms. Wie geht man als Mutter mit einem Kind um, das plötzlich Totenschädel zeichnet? Was kann Licht in die Dunkelheit bringen? Vielleicht sind es schon die Laternenfischchen, «die Glühwürmchen der Tiefsee», die Clarissa und Joris offensichtlich als einzige in einem Aquarium des Zoos entdecken, orangefarbene Lichter in der Dunkelheit.

Leben und Tod, Licht und Dunkelheit. Mit einer Leuchtrakete wird das Ende von Joris’ Giftkur gefeiert, und wenn Clarissa ihren Sohn mit den Schößen ihres Mantels bedeckt, erinnert dies an das Bild einer Schutzmantelmadonna. Das kleine Feuerwerk wirkt wie eine Wiederholung der Geburtsanzeige von Joris. Clarissa hatte als Motiv den japanischen Holzschnitt «Feuerwerk über der Ryogoku-Brücke» von Hiroshige gewählt mit seinen indigo- und ultramarinblauen Tönen. Dass Joris auf einem blauen Sofa auf das Ende endlosen Erbrechens wartet, ist in diesem Zusammenhang ein bewusstes Einsetzen einer symbolträchtigen Farbe. An einem Tag mit einem Himmel in der «Farbe von Griesbrei» versucht sich Clarissa mit geschlossenen Augen «an die Aureolen aus Blattgold» zu erinnern. Das ist mehr als der Wunsch nach Rückverwandlung grauer Herbstblätter, es deutet voraus auf den Genter Altar und die Erinnerung an einen tiefblauen Abendhimmel nach einem heißen Sommertag verweist auf den blauen Umhang Marias.

Meisterhaft versteht es die Autorin, Farben sprachlich einzufangen: ausgelaufenes Benzin zaubert Perlmuttglanz auf die Oberfläche einer Pfütze, deren «Farben von Violett nach Blau und von Gelb nach Grün schillern» wie an einem Taubenhals. Man meint die violetten und orangefarbenen Blätter der Leuchtrakete, die nach Abschluss von Joris’ Chemotherapie abgeschossen wird, und die Farben des Himmels am Ostersonntag im Wald zu sehen. Die Vitalität der Farben des Genter Altars,  ultramarin und zinnoberrot,  wirkt geradezu wie eine Farbexplosion. Von der Taube, in einem goldgelben Lichtschein gefangen,  fließt das göttliche Licht wie ein lumineszierender Regen.

Die Taube, die Clarissa und Joris mit dem Fahrrad überfahren und die an ihrem eigenen Blut zu ersticken scheint – «für so eine graue Kreatur würgt die Taube ein schönes, tiefes Scharlachrot hervor» – findet im Genter Altar ihre Antithese im Bild dieser göttlichen Taube. Der Blick des Betrachters des Altars wird von dem mystischen Lamm weitergeführt auf den achteckigen Lebensbrunnen, das Symbol der Auferstehung: «Hic est fons aqvae vitae procedens de sede dei + agni» ist auf dem Brunnenrand zu lesen. Welch ein Kontrast zu dem Springbrunnen im Garten des Krankenhauses, dessen Bezeichnung als «Born des Lebens» nur ironisch verstanden werden kann, fällt doch nur noch «ein armseliger Wasserstrahl auf ein Grüppchen von Plastikentchen». Die Autorin erwähnt es nicht, aber die Inschrift auf dem Brunnen des Genter Altars könnte über den Text des Romans hinausweisen.

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Jannie Regnerus, Das Lamm
Jannie Regnerus

Das Lamm

aus dem Niederländischen von Ulrich Faure, Weidle Verlag: Bonn 2023. 108 S., € 20.

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