Nicht ich, nicht jetzt, aber gewissFriederike Mayröckers «Winterglück»

Wenn Gotthold Ephraim Lessing einmal sinngemäß schrieb: «Je weniger ein Titel vom Inhalt verrät, desto besser», gilt für Friederike Mayröckers Gedicht das Gegenteil. Sein Titel «Winterglück» ist der Inhalt dieses Gedichts.

Vogel im Winter
© Unsplash

Winterglück

eine Erlösung eine Offenbarung jetzt diese
Stimme wieder zu hören Vogelstimme jetzt dieses
Gezwitscher, etwas wie Paradiese blühten
auf ich vergösse die
Tränen

aber die Stimme kommt nicht Vogelstimme nein dieses
Winterglück
ist mir nicht zugedacht jemand
anderer an einem anderen Ort wird es wird dieses Gezwitscher
Vogelstimme Stimme empfangen an meinerstatt jetzt in dieser
Stunde Sekunde

 

19./20.1.1985

Wenn Gotthold Ephraim Lessing einmal sinngemäß schrieb: «Je weniger ein Titel vom Inhalt verrät, desto besser», gilt für Friederike Mayröckers Gedicht das Gegenteil. Sein Titel «Winterglück» ist der Inhalt dieses Gedichts. Mit seinem einzigen Wort setzt er die gewisse Realität eines Glücks im Winter. Eines Glücks, das vom Hören ausgeht. Konkreter: vom Hören des «Gezwitschers», von den hellen, hohen Lauten eines Vogels, der im Winter singt, in diesem Augenblick – «jetzt dieses / Gezwitscher». Dieser Gewissheit gibt der Präsens Indikativ des Verbs Hören seine sprachliche Form, mitten im Vers mitten in den ersten drei Versen des Glücks. Wie schön, wenn das Gedicht an dieser Stelle zu Ende wäre.

Statt eines Punktes folgt ein Komma, das Raum für einen Nachtrag gibt. Mit ihm, so scheint es zumindest auf den ersten Blick, geht das Glück noch weiter, findet seine Orte, «Paradiese» (die als ‹aufblühende› auch noch den Augensinn beglücken), und bildet mit der im ersten Vers angestimmten «Erlösung» und «Offenbarung» einen Dreiklang der Erfüllung in den Urworten der jüdisch-christlichen Tradition für die Gewissheit des Heils. Aufgeschlossenen Sinnen gibt es sich mit Glück auch im Winter zu «empfangen», ein weiteres heilendes Wort des Gedichts. Ohne Übertreibung ließe sich Mayröckers Gedicht bis hierher als ein moderner Hymnus an die Schöpfung verstehen, alles scheint dafür ausgelegt.

Doch mit dem Nachtrag kündigt sich vielmehr die Vertreibung aus dem Paradies der schönen Gewissheit an. Das Komma, das einzige Satzzeichen in diesem Gedicht, ist die Schwelle, die den Strom der Worte, Klänge und Bedeutungen unterbricht. Mit ihm beginnt die Reflexion. Sie zeigt sich schon darin, dass das Paradies in den Plural gesetzt und in einen unbestimmten Vergleich hineingezogen wird: «etwas wie Paradiese blühten / auf». Er verbindet sich mit den Anfangsversen, in denen in anderer Weise schon vergleichend von «einer» Erlösung und «einer» Offenbarung die Rede war, zu einem Muster. Noch einschneidender aber ist, dass mit dem Komma der Modus wechselt. Ist die Verbform «blühten» noch als Präteritum lesbar, die den paradiesischen Eindruck nur in die Vergangenheit versetzt, was an seiner Gewissheit nicht rüttelt, entpuppt sich das vermeintliche Präteritum mit den letzten beiden Versen der Strophe als ein Konjunktiv: «ich vergösse die / Tränen», der sich der Vorstellungsstellungskraft verdankt.

Mit dem Wechsel des Modus vom Indikativ des Gewissen zum Konjunktiv des Möglichen verstärkt sich eine sprachliche Suchbewegung, die – eigentlich schon von Beginn an – immer wieder neu einsetzt, so, als ob das Ich, das hier spricht, nach den besten Worten sucht, verschiedene ausprobiert – und den Lesenden die Entscheidung überlässt, für welche der angebotenen Varianten sie sich entscheiden. Die zweite muss nicht immer die bessere sein. Den suchenden, ausprobierenden Gestus dieses Gedichts unterstreicht nicht nur der weitgehende Verzicht auf gliedernde Satzzeichen, der das eine gesetzte Komma umso bedeutungsvoller werden lässt, sondern auch das stetige, harte Enjambement, das an den Versenden Pausen setzt oder weitertreibt. Auch dieses ein Ausdruck reflektierender Lyrik, die mit der Freiheit zur Setzung neuer Verszeilen experimentiert, als Suche oder Spiel (oder beides) leichter oder schwerer gewichtet werden kann.

Unbezweifelbares Gewicht eignet den «Tränen», durch harte Fügung ans Strophenende gesetzt. Ich deute sie, ohne Anhaltspunkt dafür, als Tränen der Rührung (für schweres Leid scheint mir in diesen Versen kein Platz), die das unverhoffte, lebendige Glück des Vogelklangs auslöst. Auch hier könnte das Gedicht enden. Das eigene Glück des Hörens wäre in der Imagination in eine schöne Balance zwischen Erfüllung und Versagung gebracht.

Doch das Gedicht endet auch an dieser Stelle nicht, sondern – «aber [...]» – nimmt eine für mich beispiellose Wendung, eine Wendung, mit der sich das Ich von sich abkehrt und einem anderen zuwendet:

aber die Stimme kommt nicht Vogelstimme nein dieses
Winterglück
ist mir nicht zugedacht jemand
anderer an einem anderen Ort wird es wird dieses Gezwitscher
Vogelstimme Stimme empfangen an meinerstatt jetzt in dieser
Stunde Sekunde

Die Gewissheit des Anfangs ist zurückgekehrt. Ja sie steigert sich noch, indem sie in die Zukunft ausgreift. Das Winterglück wird sich ereignen, aber es ist nicht dem Ich «zugedacht», seine imaginierte Reaktion erweist sich als haltlos. Sondern «jemand / anderer» wird es «empfangen an meinerstatt». Man wäre geneigt, diese Geste einen ästhetischen Altruismus zu nennen, wenn nicht das «zugedacht» daran erinnern würde, dass das Winterglück nicht im Geben, sondern allein im Empfangen zuteilwird. Der gewisse Übergang des Glücks von «mir» auf «jemand» stellt eine Beziehung zwischen den beiden her, die vollkommen unausgesprochen bleibt. Ihre Verbindung stiftet allein der Vers und wie sie gestaltet ist, bleibt allein der Artikulation der Zäsuren überlassen, die durch das ausgesparte Satzzeichen zwischen «mir nicht zugedacht» und «jemand / anderer» und dem Zeilenwechsel gesetzt sind.

Besonders ist diese Abkehr vom eigenen Ich, weil sie sich gegen eine lange lyrische Tradition stellt, die seit der empfindsamen Erlebnisdichtung (die imaginierten Tränen rufen sie von ferne auf), über die Romantik bis in die Gegenwart Mayröckers hinein und bis zum heutigen Tag beharrlich von sich selbst spricht, vom eigenen Glück oder Unglück, häufiger von Letzterem. Um das eigene Erleben geht es gewöhnlich. Genauso mächtig und damit verwandt ist in dieser Tradition die Faszination für den einen Augenblick, in dem sich eine Welt mir offenbart. Auch diese alte Form poetischer Offenbarung im Augenblick ist in das Gedicht hineingeschrieben, aber sie bleibt auf der Seite des «jetzt in dieser / Stunde Sekunde» glücklos zurückgelassenen Ichs. Bei ihm bleiben die Lesenden dieses Gedichts, in deren Gegenwart in diesem Moment das Winterglück noch unerfüllt bleibt. Aber dieses Winterglück wird sich ereignen. Gewiss.

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