Am Anfang jeder Christologie steht eine Weichenstellung. Entweder setzt man voraus, dass Jesus selbst Grund der Interpretationen ist, die ihn nicht nur als Sohn Gottes, sondern als Gott den Sohn erklären. Oder man verbindet die Unterscheidung zwischen dem Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens mit der apriorischen Behauptung, der wahre Jesus sei das von den Bildern seiner Interpreten gereinigte Faktum. Um diese Alternative zu veranschaulichen, genügt die markinische Erzählung von der Verklärung des vorösterlichen Jesus auf dem Berge Tabor (Mk 9, 2–10). Es gibt Exegeten, die diese Szene für eine Schlüsselszene der Erfahrung des Phänomens ‹Jesus› halten. Und es gibt die größere Zahl der Exegeten, die sich mit dieser Perikope schwertun, weil sie nicht in ihr Zeitschema passt. Präexistenzchristologie passt, so meinen sie, in das vierte, nicht aber in das älteste Evangelium.1 Doch schon Markus bezeugt: Jesus ist «mehr als Jona (Mk 4, 35–41), mehr als Elija (Mk 5, 21–43), mehr als Elisha und Mose (Mk 6, 32–44)».2
1. Das Symbolum Nicaenum: Erklärung oder Verfälschung des biblischen Befundes?
Kritiker des päpstlichen Jesus-Buches haben zu wenig in Rechung gestellt, dass Benedikt XVI. sich nicht gegen die Unterscheidung, sondern gegen die Trennung des historischen Jesus vom Christus seiner neutestamentlichen Interpreten wendet. Mit Berufung u. a. auf Martin Hengel, Klaus Berger und Marius Reiser erklärt er die ‹Abba›-Beziehung Jesu als ein Phänomen, das – zum Beispiel auf dem Berge Tabor – von den Augen- und Ohrenzeugen als eine alle Denkmuster und Kategorien sprengende Wirklichkeit erfahren und erlebt wurde. Deshalb behauptet er: «Nur im Eintreten in die Einsamkeit Jesu, nur im Teilnehmen an seinem Eigentlichen, an seiner Kommunikation mit dem Vater, […] dringt man zu seiner Identität vor.»3 Unter dieser nicht selten als unwissenschaftlich denunzierten Voraussetzung ist das, was die christologischen Konzilien begrifflich immer präziser zu erklären versuchten, nichts anderes als die von den Augen- und Ohrenzeugen Jesu erfahrene Einzigkeit eines Menschen, der im Johannesevangelium von sich sagt: «Wer mich gesehen hat, hat Gott-den-Vater gesehen.» (Joh 10, 30; 12, 45; 14, 9; 16, 15). Joseph Ratzinger resümiert: «Das Grundwort des Dogmas ‹wesensgleicher Sohn›, in dem sich das ganze Zeugnis der alten Konzilien zusammenfassen lässt, überträgt einfach das Faktum des Betens Jesu in philosophisch-theologische Fachsprache, nichts sonst.»4
Die Antithese Adolf von Harnacks (1851–1930) lautet: Das christologische Dogma hat das Evangelium Jesu durch ein Konstrukt der griechischen Philosophie ersetzt. Doch abgesehen davon, dass mittlerweile vier Wellen der sogenannten Leben-Jesu-Forschung die Unmöglichkeit dokumentieren, den verkündigenden Jesus vom verkündigten Christus zu separieren, kann man eher von einer Christianisierung des griechischen Denkens als von einer Hellenisierung des Evangeliums sprechen. Das Grundcharakteristikum der griechischen Philosophie lässt sich in die Worte fassen: Die Hierarchie alles Seienden bemisst sich nach dem je höheren Grad der Einheit; oder negativ formuliert: Vielheit ist ein defizienter Modus von Einheit. Wären die Konzilsväter von Nizäa dieser Maxime gefolgt, dann hätten sie die Beziehung Jesu zu seinem ‹Abba› wahrscheinlich ähnlich erklärt wie Adolf von Harnack, nämlich als Beziehung eines mit besonderem Sendungsbewusstsein begabten Menschen zu seinem ‹Vater› genannten Gott. Wenn Harnack die Gottheit des Sohnes für unvereinbar mit der Gottheit des Vaters erklärt,5 ist eher er selbst als das von ihm kritisierte Nicaenum ein Gefangener griechischer Ontologie. Das Symbolum Nicaenum widerspricht der griechischen Ontologie, und zwar diametral.6 Die von ihm proklamierte Gleichwesentlichkeit des Sohnes mit dem Vater (homooúsios tô patrí) besagt, dass der Vielheit dieselbe ontologische Dignität wie der Einheit zukommt. Fazit: Das Konzil von Nizäa hat die von den Evangelisten bezeugte Beziehung Jesu zu Gott-dem-Vater nicht hellenisiert, sondern umgekehrt: Es wollte dem neutestamentlichen Befund entsprechen und hat deshalb die Grundprämisse des griechischen Denkens geradezu in deren Gegenteil verkehrt.7
Damit verbunden war keine Abweisung der griechischen Philosophie; denn die Transformation der, wenn man so will, aramäischen8 in die griechische Denkform war Voraussetzung des christlichen Universalanspruchs. Ohne sie wäre die erstaunlich rasche Verdrängung der polytheistischen Religionen des Mittelmeerraumes gar nicht erklärlich. Das Christentum hat diese Religionen nicht mit militärischer oder ökonomischer Macht, sondern durch sein Bündnis mit der philosophischen Vernunft besiegt. Das griechische Denken zwang das frühe Christentum zur begrifflichen Klärung seines Glaubens. Diese Klärung erfolgte in einem Zeitraum von fast 500 Jahren und war im Wesentlichen das Ergebnis der miteinander wetteifernden und streitenden Theologenschulen von Alexandria und Antiochia.
Der alexandrinische Subordinatianismus und dessen doketistische Konsequenzen
Wer sich wie Origenes († 253) in der platonisch-neuplatonischen Denkform bewegt, kann das Wesen des ontologisch Höchsten nicht zugleich im Vater und im Sohn verwirklicht (hypostasiert) denken. Ein ewiges Hervorgehen des Logos und des Geistes aus dem Allerhöchsten kann ein Neuplatoniker denken, nicht aber die Gleichwesentlichkeit des Logos und des Geistes mit dem einen ‹Höchsten›.9 Die in Alexandria beheimatete Theologenschule spricht von drei Hypostasen und wurde deshalb von der in Antiochien beheimateten Theologenschule mit dem Vorwurf des Tritheismus oder des Subordinatianismus konfrontiert. Und damit nicht genug: Die alexandrinische Drei-Hypostasen-Lehre hatte problematische christologische Konsequenzen. Denn wenn man den Sohn als eigene Hypostase der Hypostase des Vaters unterordnet (subordiniert), muss man erklären, wie man dann noch von einer Menschwerdung Gottes selbst oder gar von seinem Abstieg an den Ort des kreuzigenden Hasses der Sünde sprechen kann. Die Antwort der Alexandriner auf diese Frage war eine tendenziell doketistische Christologie. In demselben Maße, in dem sie Jesus Christus dem Allerhöchsten untergeordnet haben, haben sie ihn allen übrigen Menschen übergeordnet. Das heißt: Jesus Christus ist die nur vorübergehend mit dem Körper eines Menschen bekleidete, ewig aus dem Vater hervorgehende Hypostase des Logos – wenn man so will, ein quasi-göttliches Zwischenwesen zwischen Schöpfer und Schöpfung. Einige alexandrinische Theologen erklären, dass Christi Seele und Geist die des präexistent gedachten Logos und nur sein Fleisch das eines Menschen gewesen seien. Andere – ‹Monotheleten› genannt – sprechen von der Ersetzung des menschlichen Willens Christi durch den Willen des Logos. Die Fachliteratur fasst alle Spielarten der alexandrinischen Christologie unter die Bezeichnungen «Einigungs – bzw. Verschmelzungschristologie» und «Lógos-Sárx-Christologie» zusammen.
Der Presbyter Arius († 327) war nichts anderes als ein konsequenzialistisch denkender Alexandriner.10 Während Origenes ein ewiges Hervorgehen des Sohnes aus dem Vater lehrt, betont Arius, dass es kein ewiges Hervorgehen geben könne, weil es dem Göttlichen widerspräche, in irgendeiner Weise eine nicht sich selbst genügende Wirklichkeit zu sein. Also folgert er: Der Sohn ist durch den Willen des Vaters aus dem Nichts (ex ouk ónton) entstanden. Er hat einen Anfang. Der Logos des Arius ist nicht Gott, sondern ein Geschöpf. Nicht Gott selbst, sondern der Gott wesentlich untergeordnete Logos ist das Subjekt aller Worte, Taten und Leiden Christi; der Logos ist das Subjekt und der leidensfähige Körper Jesu sein Organon bzw. Instrument. Ganz anders der Logos des Johannesprologs; er wird ausdrücklich ‹Gott› genannt. Um jede Verwechslung des arianischen mit dem johanneischen Logos auszuschließen, vermeidet das Symbolum Nicaenum den Terminus ‹Logos› und erklärt stattdessen die ontologische Gleichstellung Gott-des-Sohnes mit Gott-dem-Vater durch die Formel: «Gott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer Gott vom wahren Gott».
Der antiochenische Modalismus und dessen adoptianistische Konsequenzen
Wie schwierig sich die Beantwortung des Arianismus mit den Kategorien der griechischen Philosophie gestaltet hat, lässt sich ablesen an dem in fast alle Glaubensbekenntnisse aller christlichen Konfessionen aufgenommenen Attribut homooúsios tô patrí.11 Es stammt aus der Theologenschule von Antiochien, in der man – modern gesprochen – eher exegetisch als systematisch argumentiert hat. Allerdings wurde die Geltung der von der griechischen Philosophie vorgegebenen Maxime, das ontologisch Höchste könne nicht zugleich die hypóstasis des Vaters und die hypóstasis des Sohnes sein, auch von den Antiochenern nicht bestritten. Doch sie leiteten aus dieser Prämisse nicht die Subordination der Hypostasen von Sohn und Geist unter den Vater ab, sondern sie erklärten Vater, Sohn und Geist als die drei Modi oder Gesichter (prósopa) der ousía des einen und einzigen Gottes. Kürzer formuliert. Die Antiochener beantworteten die tendenziell tritheistische Trinitätslehre (Drei-Hypostasen-Lehre) der Alexandriner mit einer tendenziell modalistischen Trinitätslehre. Und wie die Trinitätslehre der Alexandriner, so hatte auch die der Antiochener eine christologische Kehrseite. Der alexandrinischen Verschmelzungschristologie (Doketismus und Monophysitismus) entspricht die später «nestorianisch» genannte «Trennungschristologie» der Antiochener. Marcellus von Ancyra († 374) erklärt den Logos und den Geist als in Gott ruhende Energien, die – nach außen in Erscheinung tretend – den Menschen Jesus anlässlich seiner Taufe im Jordan zu eben der ‹Vollmacht› befähigen, mit der er dann geredet und gehandelt hat. Das heißt: Jesus Christus ist nicht immer schon der Sohn; er wird dies erst. Deshalb charakterisiert man die in der Literatur zumeist als «Trennungs- oder als Logos-Anthropos-Christologie» bezeichnete Christologie der Antiochener auch als «Adoptianismus». Sie geht zwar aus von dem neutestamentlich bezeugten Abba-Verhältnis Jesu, blendet dabei aber den Johannesprolog und die auf Matthäus und Lukas gestützte Präexistenzchristologie aus. Gott ist aus antiochenischer Sicht mittels Logos und Geist der Deus assumens, Jesus der sich ihm überlassene homo assumptus.
Warum so viel Streit um Begriffe?
Nicht nur Harnack hat die trinitätstheologischen und christologischen Streitigkeiten der frühen Kirche als Degradierung Jesu Christi zu einem Objekt spitzfindiger Definitionen und Distinktionen verachtet. Doch diese Kritik verkennt, dass es um den Kern des christlichen Glaubens ging, um den «articulus stantis et cadentis ecclesiae». Nur wenn die in der Endlichkeit von Raum und Zeit gelebte ‹Abba›-Beziehung Jesu personal identisch ist mit der innertrinitarischen Beziehung des ewigen Sohnes (Logos) zum ewigen Vater, ist Jesus als wahrer Mensch die Offenbarkeit des trinitarischen Gottes. Die tendenziell doketistische Christologie der Alexandriner und insonderheit die des Arius erklärt den Erlöser zum vorübergehenden Sprachrohr oder Instrument Gott-des-Vaters. So gesehen hat Jesus der Menschheit lediglich etwas Wichtiges mitgeteilt. Oder positiv formuliert: Nur wenn mit Jesus Gott selbst dahin gelangt ist, wo der Sünder sich in die Folgen seiner Sünde eingeschlossen und also von ihm getrennt hat, ist das Ereignis von Golgotha mehr als eine von Jesus überbrachte Botschaft, nämlich die Aufhebung der Trennung des Sünders von Gott, die Entmachtung der Sünde und deshalb der mögliche Himmel für jeden Menschen, der die ihm hingehaltene Hand des bis in die ‹Sheol› Herabgestiegenen ergreift.12 Und wie das wahre Gottsein, so ist auch das wahre Menschsein Jesu Christi von unabdingbarer Bedeutung. Denn nur wenn der vom Symbolum Nicaenum auf dieselbe ontologische Stufe wie der Vater gestellte Sohn nicht nur äußerlich, sondern wahrhaft Mensch ist, ist jeder einzelne Mitmensch sein Bruder oder seine Schwester und also auf unüberbietbare Weise geadelt. Nur unter Voraussetzung des wahren Menschseins Christi ist Christentum nicht Verachtung des Diesseits um des Jenseits willen, sondern Vermenschlichung des Menschen. Indem die Konzilsväter Jesus Christus hypostatisch (personaliter) mit Gott-dem-Sohn identifizieren, revolutionieren sie die Anthropologie der griechischen Philosophie. In ihr nämlich ist die Welt der Ideen die eigentliche Wirklichkeit in Absetzung von der vergänglichen Welt der vielen empirisch wahrnehmbaren Dinge. Beispiel: Die Idee ‹Mensch› ist ewig; der einzelne Mensch hingegen eine vergängliche und austauschbare Realisierung dieser Idee. Jesus Christus aber identifiziert sich mit jedem Armen, Hungrigen, Durstigen, Nackten und Gefangenen, nennt jeden einzelnen Mitmenschen Bruder oder Schwester und beantwortet die Reue eines der beiden mit ihm gekreuzigten Verbrecher mit der Verheißung: «Ich sage Dir, heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.» (Lk 23, 43).
Vordergründig betrachtet mag überraschen, dass die soteriologischen und anthropologischen Konsequenzen der antiochenischen Trennungschristologie mit denen der alexandrinischen Einigungschristologie konvergieren. Aber diese Konvergenz zwischen Antiochia und Alexandria ist schnell erklärt: Wenn Jesus ein Mensch ist, der erst durch vom Vater ausgehende Energien (Logos und Geist) zum Sohn Gottes erhoben wird, dann ist er bestenfalls sein geisterfülltes Organon, nicht aber Gottes reale Anwesenheit dort, wo der Sünder sich in sein Verhängnis eingeschlossen hat. Wie das von den Alexandrinern erdachte Zwischenwesen zwischen Gott und Mensch, so ist auch der durch Wort und Geist adoptierte Gottessohn antiochenischer Christologien bestenfalls ein Wegweiser zum Himmel, aber nicht selbst die Gemeinschaft mit Gott-dem-Vater.
Der antiochenische Sieg in Nizäa und die alexandrinische Revanche
Allen Konvergenzen zum Trotz: Das Konzil von Nizäa war ein Sieg der Antiochener über die Alexandriner. Denn die aus der Antiochenerschule stammende Formel homooúsios tô patrí richtete sich direkt gegen den Subordinatianismus der alexandrinischen Drei-Hypostasen-Lehre. Es bedurfte des ersten Konzils von Konstantinopel (381), um die modalistische Schlagseite des Axioms homooúsios tô patrí zu korrigieren, nämlich durch das Bekenntnis zum «Heiligen Geist, der aus dem Vater [und dem Sohn] hervorgeht, der mit Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird» (DH 150). Positiv ausgedrückt: Die Formel «eine Wesenheit in drei Personen» bewahrt das nicaenische Bekenntnis zur Gleichwesentlichkeit des Sohnes mit Gott-dem-Vater vor dem Missverständnis einer modalistischen Trinitätslehre.
Wenn man so will, war das erste Konzil von Konstantinopel eine Reaktion der Alexandriner auf den nicaenischen Sieg der Antiochener. Und wie letzterer eine Schlagseite hatte, so auch die Revanche der Alexandriner. Denn sie deduzierten aus ihrer Drei-Hypostasen-Lehre die Unterscheidung zwischen der Leidensunfähigkeit des Vaters und der Leidensfähigkeit des Sohnes – eine Distinktion, die sich gegen die modalistische Trinitätslehre der Antiochener richtete. Sie nämlich impliziert, dass mit dem Sohn auch der Vater gelitten haben muss. Diese Schlussfolgerung wurde auf Drängen der Alexandriner als «Patripassianismus» verurteilt (DH 284). Nicht ohne gravierende Folgen für die christliche Soteriologie. Befangen in dem, was griechische Philosophie über das denkbar Höchste lehrte, hatte man die Unterscheidung vergessen, die schon Irenaeus († 130)13 und klarer noch Gregorios Thaumaturgos († 270)14 getroffen haben zwischen (a) einem Leiden, das gegen den eigenen Willen auferlegt, und (b) einem Leiden, das aus Liebe bejaht und getragen wird. Kurzum: Der Patripassianismus, der vom Lehramt der Kirche verurteilt worden ist, unterscheidet sich grundlegend von dem Patripassianismus, den z. B. Wolfhart Pannenberg15 oder Hans Urs von Balthasar verteidigen. Denn: «Pathos kann verstanden werden als ein unfreiwilliges äußeres Widerfahrnis. Ein solches kann Gott auf keinen Fall zustoßen; aber wenn er es in Freiheit beschließt, als Mensch zu leiden, so liegt seiner Passion eine stärkere ‹Aktion› zugrunde, kraft welcher er das Leiden und auch den Tod ‹unterwandert› und beide damit zerstört.»16
Die kriterielle Funktion des Symbolum Nicaenum
Aller besagten Einseitigkeit zum Trotz wurde die Nizäa-Formel homooúsios tô patrí konfessionsübergreifend17 zu einem Kriterium der Treue zum neutestamentlichen Befund. Sie drückt aus, dass Jesu geschichtlich realisierte Beziehung zu Gott-dem-Vater die Offenbarkeit Gottes selbst war. Das Symbolum Nicaeanum schreibt fest: Gott selbst ist immer schon Beziehung, nämlich die des ewigen Sohnes zum ewigen Vater. Und das Nizäa ergänzende erste Konzil von Konstantinopel (381) erklärt mit der dritten göttlichen Hypostase, dem Heiligen Geist, dass die Zweiheit von Vater und Sohn nicht ein defizienter Modus von Einheit, sondern im Gegenteil Ausweis vollkommener Einheit ist.
Jesus Christus ist wahrhaft Mensch und wahrhaft Gott-der-Sohn – ungetrennt und unvermischt (DH 302). Doch die Frage, wie das Menschsein des Erlösers ganz und gar gewahrt bleibt, wenn seine hypóstasis von Anfang an und ausschließlich die des innertrinitarischen Sohnes ist, beschäftigt die Christologie bis heute. Der bloße Hinweis auf die innertrinitarische Gleichursprünglichkeit von Einheit und Differenz verfehlt das Problem. Denn in der durch Raum und Zeit bestimmten Welt ist die innertrinitarisch mögliche Gleichursprünglichkeit zweier Wirklichkeiten so unmöglich wie ein quadratischer Kreis. Streng zu beachten bleibt: Die mit dem Fachterminus «hypostatische Union» bezeichnete Singularität Christi beschreibt eine Einheit, die im Unterschied zur trinitarischen Einheit nicht immer schon bestanden hat, sondern vom Vater durch den Heiligen Geist in Zeit und Raum geschaffen wurde. Man darf annehmen, dass das Menschsein Jesu durch seine hypostatische Aufnahme in Gott-den-Sohn nicht geschmälert, sondern zu sich selbst befreit worden ist. Aber Tatsache ist auch, dass das Dogma von der hypostatischen Union im Laufe der Theologiegeschichte immer wieder im Sinne einer Logoshegemonie (Verkürzung des wahren Menschseins Christi) interpretiert worden ist.18 Bis heute eine bleibende Hypothek der beiden christologischen Zentralbegriffe ousía und hypóstasis ist deren unterschiedliche Verhältnisbestimmung (a) in der Trinitätslehre und (b) in der Christologie. In der Christologie (zwei Naturen in einer Person) wird dem hypóstasis- bzw. Person-Begriff eine henotische (einigende), in der Trinitätslehre (eine Natur in drei Hypostasen bzw. Personen) aber eine diakritische (unterscheidende) Bedeutung zugesprochen.
2. Arius redivivus, oder: Das Nicaeno-Constantinopolitanum unter dem Beschuss von Nominalismus, Moderne und Postmoderne
Durch das Glaubensbekenntnis von Nizäa und Konstantinopel (NC) schien ein für alle Mal geklärt, dass eine Christologie ohne Trinitätslehre den neutestamentlichen Befund (das Abba-Verhältnis Jesu) verfehlt. Doch ein Blick in die Geschichte lässt schnell erkennen, dass die zwischen Antiochia und Alexandria diskutierten Probleme immer wieder aufbrechen.
Die subordinatianistischen Konsequenzen des Nominalismus
Ein geistesgeschichtlicher Umbruch von kaum überschätzbarer Tragweite geht zurück auf die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert. Auslöser ist eine genuin theologische Überlegung. Wenn Gott – so die Grundthese – absolut frei ist, dann hätte er auch eine ganz andere als die vorhandene Welt schaffen können; dann ist alles Geschaffene schlechthin kontingent; dann ist kein Geschöpf Ausdruck göttlicher Gedanken oder des göttlichen Willens; dann ist so etwas wie eine Theologie der Natur (natürliche Theologie) gar nicht möglich. Dann ist auch die geschaffene Natur Jesu Christi oder zumindest deren Kreuzesleiden nicht die Offenbarkeit, sondern eher die Verbergung Gottes unter seinem Gegenteil (Deus-absconditus-Christologie). Martin Luther – durch seine nominalistischen Lehrer mit dieser Denkweise vertraut – erklärt, dass der Erlöser, weil wahrhaft Gott-der-Sohn (homooúsios tô patrí), das Leiden seiner menschlichen Natur jederzeit hat zulassen oder verhindern können.19
Gegensätze bedingen einander. Der tendenziell alexandrinischen Christologie des sogenannten Altprotestantismus folgt die tendenziell antiochenische Christologie des von der Aufklärung bestimmten Neuprotestantismus20. Auch er das Epiphänomen einer bestimmten Philosophie: Lessing und Kant gehen – konsequent nominalistisch – davon aus, dass Geschichte, weil kontingent, das schlechthin Nicht-kontingente, Unveränderliche und Notwendige, nämlich die grundsätzlich von allen Menschen einsehbare Wahrheit, gar nicht enthalten (offenbaren) kann. Christologisch gewendet: Der historische Jesus kann gar nicht der göttliche Logos sein, sondern bestenfalls ins Bewusstsein heben, was die Vernunft des Menschen an und für sich auch autonom wissen könnte. Jesus ist – so Lessing – «Erzieher des Menschengeschlechts»; nicht aber selbst «die Wahrheit, der Weg und das Leben» (Joh 14, 6).21
Die Rezeption dieser Philosophie durch die Christologie des Neuprotestantismus ist eine moderne Spielart des antiochenischen Subordinatianismus. Exemplarisch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834): In seiner Christologie ist Jesus nicht immer schon Gott-der-Sohn; er ist der «neue Adam», der im Unterschied zum ersten Adam nicht aus dem eigenen Ich und auf das eigene Ich hin, sondern von Gott her und auf Gott hin gelebt hat und so als der schlechthin Sündlose inmitten von Sündern ‹der einzige Sohn› war. Wie die Antiochener, so kritisiert auch Schleiermacher jede Trinitätslehre, die von drei Personen ausgeht. Wie die Antiochener, so wendet auch er sich gegen das Dogma von der hypostatischen Union. Stattdessen erklärt er den Erlöser als einen Menschen, der durch seine Gottesbeziehung (Sündlosigkeit) zum Wendepunkt der adamitischen Unheilsgeschichte geworden ist.22
Unter der nominalistischen Prämisse, dass alle Fakten in Natur und Geschichte von sich aus keine Bedeutung haben, sondern diese erst durch den Menschen oder dessen geschichtlich bedingte Sprachspiele23 erhalten, gilt es in der liberalen protestantischen Theologie als ausgemacht, dass Jesus nur der Katalysator eines neuen Bewusstseins war. David Friedrich Strauß (1808–1874) spricht von Beschränktheit, wo jemand immer noch meint, der Inhalt der Christologie sei notwendig mit der Person und Geschichte eines Einzelnen verknüpft.24 Zwar wird die Wahrheit stets geschichtlich vermittelt. Aber deshalb sind die Vermittler nicht ebenso notwendig wie die vermittelte Wahrheit. Auch Jesus ist nicht notwendig, sondern zufällig der Vermittler der jedem Menschen möglichen Gottessohnschaft.
Rudolf Bultmann (1884–1976) unterscheidet die historische Faktizität Jesu von seiner Geschichtlichkeit.25 Als historisches Faktum ist Jesus ein unendlich interpretierbares Objekt der Vergangenheit. Als Vehikel des Sprechens Gottes ist er ein gegenwärtiges Geschehen. Der eigentliche Jesus, so erklärt Bultmann, ist nicht der Jesus der Historiker, sondern das Kerygma, das den je einzelnen Hörer existenziell ergreift und ihm so den Glauben an die Rechtfertigung allein aus Gnade ermöglicht.26 Bultmann verlegt die Bedeutsamkeit Jesu aus der neutestamentlich erzählten Geschichte in die Existenz des je einzelnen Kerygma-Empfängers. So gesehen sind die Ereignisse von Kreuz und Auferweckung Jesu nicht das Geschehen des Heils, sondern nur mögliche Katalysatoren einer Bekehrung. Bultmanns Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Geschichte lässt sich in das Fazit fassen: Erst wo Zeit aufhört zeitlich zu sein, kann Offenbarung geschehen.
Gott als der absolute Geist und Jesus als von ihm erfülltes Organon
Innerhalb der anglikanischen Hochkirche kam es im 19. Jh. zu einer an Schärfe kaum überbietbaren Konfrontation zwischen der «Oxforder Orthodoxie» und einer theologischen Avantgarde, die historisch-kritisch ansetzte und die «Christologie von oben» mit einer «Jesulogie von unten» beantwortet hat. Gemeinsam war beiden Parteien eine extreme Trinitätsvergessenheit. Die Oxforder Inkarnationschristologen waren trinitätsvergessen, weil sie nicht von der geistgewirkten Inkarnation der zweiten göttlichen Person, sondern einfach von der Inkarnation Gottes sprachen und folglich die Begriffe ‹Jesus› und ‹Gott› weithin synonym verwandten. Die Protagonisten der Gegenseite waren trinitätsvergessen, weil sie Gott monopersonal verstanden und Jesus zu einem unter anderen Phänomenen seiner Fähigkeit erklärten, im Anderen seiner selbst – in jedem Geschöpf und Ereignis – mehr oder weniger intensiv zu erscheinen. Diese Spielart der antiochenischen Christologie wird in der Fachliteratur als «gradualistische Geist-Christologie» bezeichnet. Sie ersetzt die Vorstellung von einem einmaligen Inkarnationsereignis durch die von Hegel27 inspirierte These, Gott sei der absolute Geist, der sich in jeder Wirklichkeit mehr oder weniger intensiv zu erkennen gebe. So gesehen ist Jesus nicht das einzige, sondern nur ein wirkungsgeschichtlich herausragendes Exemplar der pneumatologisch erklärten Immanenz Gottes in Welt und Geschichte.28 Unter dem bezeichnenden Titel «God as Spirit» hat Geoffrey Lampe – von 1960 bis 1979 Professor für Neues Testament und Patristik in Cambridge – eine Art ‹Summa› der anglikanischen Geist-Christologie verfasst. Wie schon im 4. Jh. Marcell von Ancyra, so bezeichnet auch Lampe Wort und Geist als in Raum und Zeit erscheinende Energien Gottes. Und er folgert: Jesus war ein Mensch, in dem Gottes Wort und Geist so mächtig in Erscheinung traten, dass er zwar Sohn Gottes, nicht aber Gott-der-Sohn genannt werden darf.29
Neben Theologen, die Gott ausschließlich als den absoluten Geist erklären, der in demselben Maße transzendent wie immanent zu sein vermag, stehen Theologen, die ihre Nicaenum-Kritik mit der These verbinden, Gott sei nicht vor oder unabhängig von Schöpfung und Geschichte Vater, Sohn und Geist. Der niederländische Theologe Hendrikus Berkhof (1914–1995) erklärt das nicaenische homooúsios tô patrí heilsgeschichtlich statt ontologisch. Gott, so erklärt er, offenbare sich als Vater, indem er den einzigen sündlosen Menschen ‹Jesus› zu seinem Sohn erklärt und sich in ihm als die Macht erweist, die man den «Heiligen Geist» nennt.30 Ähnlich Piet Schoonenberg (1911–1999), der seine Christologie mit der Frage beginnt: «Ist Jesu menschliches Personsein in das Personsein des Wortes aufgenommen und ist er deshalb als Mensch entpersönlicht? Oder steht das menschliche Personsein als eigenes menschliches Zentrum von Handlungen, von Entscheidungen und Ichbewusstsein neben oder in Spannung zu der göttlichen Person des Wortes?»31 – Seine Antwort: Entweder gehört die Sohnschaft Jesu im Sinne des Symbolum Nicaenum zu Gott selbst; oder Jesus ist im Sinne des antiochenischen Subordinatianismus geschaffenes Medium des sich in ihm als adoptierender und inspirierender Vater darstellenden JHWH.32 Schoonenberg glaubt der Heiligen Schrift entnehmen zu können, dass Gott-der-Vater erst durch die Freilassung wirklicher Andersheit – also im Prozess von Schöpfung und Geschichte – als Sohn und als Heiliger Geist erscheint. Es gibt, so betont er, keine immanente vor der heilgeschichtlichen Trinität. Jesus ist nicht trinitätsimmanent und präexistent der Sohn, sondern er wird dies erst in seinem Leben, Leiden und Sterben durch die als Geistgeschehen erfahrene Immanenz des Vaters in ihm.
Nizäa auf der Anklagebank der Pluralistischen Religionstheologie
Der britische Theologe John Hick (1922–2012) – nicht selten als Vater der Pluralistischen Religionstheologie (PRT) bezeichnet – hat die gradualistische Geist-Christologie zur Grundlage einer religionsübergreifenden «Welttheologie» erklärt. In demselben Jahr, in dem Geoffrey Lampe sein Hauptwerk «God as Spirit» veröffentlicht hat, publizierte er den berühmt gewordenen Sammelband «The Myth of God Incarnate»33. Darin verwirft er das nicaenische Axiom von der Gleichwesentlichkeit des Sohnes mit dem Vater als typisches Relikt mythischer Sprechweise. Im Rahmen der mythischen Denkform kann man, so erklärt er, das nicaenische Axiom verteidigen. Falsch aber werde dieses, wenn man es wörtlich nehme und mit dem Wörtlichnehmen auch noch den Anspruch von universal bedeutsamer Einzigkeit beanspruche. Für Hick ist die Behauptung der Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi der Grund für jedwede Intoleranz der Christentumsgeschichte, für imperialistische Mission nach außen wie für Inquisition nach innen.34 In einem frühen Aufsatz des Jahres 1966 plädiert er für eine deabsolutierte Christologie, die den nicaenischen Begriff Homoousie durch den Begriff Homoagape ersetzt.35 Obwohl Jesus nur Mensch gewesen sei, dürfe das Phänomen seiner Agape als Ereignis der göttlichen Liebe bezeichnet werden. Diese Redeweise aber sei keine metaphysische, sondern eine metaphorische. Der Übergang von der metaphorischen zur metaphysischen Identifikation Jesu mit dem innertrinitarischen Sohn war – so betont er immer wieder – der sich schon im Johannesevangelium ankündigende und von den christologischen Konzilien zur Norm erhobene Sündenfall der christlichen Theologiegeschichte.36
Entscheidend für Hicks Nizäa-Interpretation37 ist die Ausblendung des denknotwendigen Zusammenhangs zwischen dem Dogma von der hypostatischen Union und dem Trinitätsdogma. Er blendet aus, dass das Trinitätsdogma Gott nicht als monolithische, sondern als relationale Einheit versteht. Wenn Jesus als wahrer Mensch dieselbe Beziehung zu Gott-dem-Vater lebt, die innertrinitarisch Gott-der-Sohn zu Gott-dem-Vater ist, dann ist er kath’ hypóstasin (personaliter) – nicht aber kat’ ousían (wesensmäßig)! – Gott-der-Sohn. Hick ignoriert, dass alexandrinische Vorstellungen von einer teilweisen Ersetzung der menschlichen durch die göttliche Natur wiederholt verurteilt worden sind. Er übersieht den Unterschied zwischen hypostatischer und ontischer Einheit und kommt deshalb zu dem Schluss, dass sich das Christentum aus seiner griechischen Gefangenschaft befreien müsse.
Ähnlich wie Hick, aber weniger radikal argumentiert auch Leonard Swidler (*1929) – in Philadelphia lange Zeit Inhaber eines Lehrstuhls «für Katholisches Denken und interreligiösen Dialog». Im Unterschied zu Hick will Swidler das Symbolum Nicaenum nicht verabschieden, sondern nur dessen Terminologie «deabsolutieren». Dies soll – so schlägt er vor – durch eine attributive Reformulierung der dogmatischen Definitionen geschehen, z. B. durch die Ersetzung der Seinsaussagen «wahrer Gott und wahrer Mensch» durch die Eigenschaftsaussagen «wahrhaft göttlich und wahrhaft menschlich»38.
Jüdisch perspektivierter Subordinatianismus
Eine weniger philosophisch als theologisch begründete Spielart des Subordinatianismus wurzelt in der von der Shoah evozierten Neubestimmung des Verhältnisses von Judentum und Christentum. Exemplarisch zu nennen sind Hans-Joachim Kraus (1918–2000) und Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928–2002).
Der Göttinger Exeget Kraus distanziert sich von den Leben-Jesu-Forschern, die ihre interessegeleiteten Jesus-Bilder mit dem ‹Jesus an sich› verwechseln. Die einzige Brille, die sich ein Exeget aufsetzen darf, ist, so betont er, die des Judentums. Denn – so seine Begründung – in den verschriftlichten Erwartungen des Volkes Israel liegen die Kategorien, mit denen sich Jesus selbst gedeutet hat.39 Kraus bestimmt Jesus als «den vom Gott Israels mit dem Geist Ausgerüsteten und Gesalbten (Jes 11, 1ff; 61, 1ff)».40 Er weist darauf hin, dass ruach seit der Richterzeit das Charisma des kämpfenden Retters ist, der an JHWHs Statt handelt. Lukas erzählt im vierten Kapitel, wie Jesus in der Synagoge von Nazaret die Heilige Schrift aufschlägt, Jes 61 zitiert, das Buch dem Synagogenvorsteher zurückgibt und dann sagt: «Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.» (Lk 4, 21) Kraus erklärt im Blick auf die Taufe Jesu: Der Nazarener wird durch die Salbung mit dem Heiligen Geist gesandt und ermächtigt, der Sohn Gottes zu sein. Er steht nicht immer schon auf der Seite Gottes; er wird durch den Geist auf die Seite Gottes gestellt. Was Jesus vor allen anderen Propheten der biblisch bezeugten Heilsgeschichte Israels auszeichnet, ist die graduell alles Bisherige überbietende Fülle der Geistbegabung.41 Kraus resümiert: «So ist im Neuen Testament der Hoheitstitel ‹Sohn Gottes› ganz und gar Geist-bestimmt. Und das heißt: nicht ‹göttliche Natur› oder Wesensbestimmung kennzeichnen Jesus als den ‹Sohn Gottes›, sondern allein Gottes Geist.»42
Eine noch radikaler jüdisch perspektivierte Christologie bietet der Berliner Systematiker Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928–2002). Wie Kraus plädiert auch er für eine Rückkehr der metaphysischen in die biblische Denkform.43 Denn – so betont er – in der Sache will das nicaenische Dogma von der in Christus realisierten Einheit zwischen Gott und Mensch nicht nur Ähnliches, sondern dasselbe sagen, was die Hebräische Bibel in Beziehungsbegriffen von der immer wieder erfolgten Einung zwischen JHWH und Israel sagt. Um diese These zu untermauern, verweist er auf die «Fleisch-Werdung Gottes» in der Geschichte Israels. Inkarnation, das bedeutet aus seiner Sicht vor allem dies: dass Gott dahin geht, wo die gottfeindlichen Strukturen und Gewalten ihre Logik des Todes entfalten. Aus seiner Sicht will Johannes im Prolog seines Evangeliums ausdrücken: Jesus trägt das Wort Gottes (die Tora) dahin, wo das Fleisch (die sich autark gebärdende, selbstherrliche, widergöttliche Welt) herrscht.44 Wie der jesajanische Gottesknecht, so stellt auch Jesus die Geschichte Israels – das heißt: das inkarnatorische Hintreten Gottes an die Stelle des Risses zwischen Leben und Tod – exemplarisch dar. Seine Einzigkeit wurzelt in der Einzigkeit Israels. Seine Einzigkeit ist eine Darstellung der Einzigkeit Israels.45 Marquardts «Christologie im Angesicht der Shoah» gewinnt ihre Sinnspitze in der Bestreitung jeder ontologischen Exklusivität. Wie denn – so fragt er – lässt sich eine solche Exklusivität rechtfertigen – «angesichts so vieler jüdischer Märtyrer, die auch bis zum letzten Atemzug Gott treu und seinem Gesetz in Ganzheit hingegeben lebten und starben […]: Ist dieses ‹Nur-er› nicht lediglich Ausdruck eines christlichen Vorurteils, das auf Biegen und Brechen eine Unvergleichlichkeit Jesu behaupten muss?»46 Wo das Symbolum Nicaeno-Constantinopolitanum von einer unüberholbaren Einheit, nämlich von der hypostatischen Einheit des Juden Jesus mit dem ewigen Logos, spricht; und wo die traditionelle Dogmatik das Ereignis von Kreuz und Auferstehung als ein Ereignis beschreibt, in dem die Sünde aller Menschen aller Zeiten ihrer Macht beraubt wurde, da erhebt Marquardt den Vorwurf einer Aufhebung der realen Geschichte in das ‹Immer-schon› der längst erfolgten Erlösung. Marquardt sieht in Jesus einen – keineswegs den einzigen – Israeliten, in dem die Tora ihre Kraft zur Einung des Menschen mit Gott erwiesen hat; einen – keineswegs den einzigen – Israeliten, an dem die den Tod (die Trennung von Gott) besiegende Macht der Tora sichtbar geworden ist.47
Fazit
Das Symbolum Nicaenum schreibt dem Christentum für immer ins Gedächtnis: Der neutestamentlich bezeugte Jesus ist die Offenbarkeit Gottes selbst. Oder anders gesagt: Jesus ist der Gott-dem-Vater gleichwesentliche Sohn. Diese Gleichung ist nur dann nicht Flucht des Logos in den Mythos, wenn Gott Einheit als Dreiheit ist. Ohne die Voraussetzung der Trinitätslehre des Nicaeno-Constantinopolitanum ist jede Christologie entweder tendenziell adoptianistisch oder tendenziell doketistisch. Die Ersetzung der neutestamentlichen Bezeichnung Jesu als ‹Gottes Sohn› durch den Titel ‹Gott-der-Sohn› ist zwar eine nachträgliche Präzisierung. Aber ohne das Attribut homooúsios tô patrí bleiben alle Jesus-Bezeichnungen der vier Evangelien zweideutig. Das Symbolum Nicaenum ist zwar nicht das letzte Wort, aber doch bleibendes Kriterium des christlichen Glaubens. Im Blick auf die besagten Relativierungen der Einzigkeit Christi hat Papst Johannes Paul II. dem beginnenden dritten Jahrtausend ins Gedächtnis geschrieben, womit der christliche Glaube steht oder fällt. Das in seinem Auftrag erstellte und am 6. August 2000 publizierte Dokument Dominus Iesus «über die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche» erklärt: «Es ist unbedingt festzuhalten, dass im Mysterium Jesu Christi, des fleischgewordenen Sohnes Gottes, […] die Fülle der göttlichen Wahrheit offenbar geworden ist.» (DH 5085)