«Mit aller Skepsis seiner Zeit ringend»Zu Ernst Troeltschs «Vorlesungen zur Glaubenslehre»

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I

Ernst Troeltsch ist nicht als Dogmatiker bekannt geworden, sondern als Deuter der Geschichte und Gegenwart des Christentums sowie als Geschichts- und Religionsphilosoph. Die historischen und geistigen Umbrüche, die er weit ausgreifend und zugleich prägnant darzustellen vermochte, betrachtete er jedoch stets auch unter der Hinsicht, welche Konsequenzen sich daraus für die Theologie als Wissenschaft und insbesondere für die Dogmatik ergaben.

Unter seinen historisch orientierten Mitstreitern, die wie er an der ehemaligen Wirkungsstätte Albrecht Ritschls, der Göttinger Theologischen Fakultät, ausgebildet wurden, galt Troeltsch als der Systematiker. Das Wort von Troeltsch als dem «Dogmatiker der religionsgeschichtlichen Schule» hat sich vielfach gehalten.1 Vom überkommenen Verständnis der protestantischen – und erst recht der katholischen – Dogmatik war Troeltsch schon damals weit entfernt. Die umfassende Vergeschichtlichung der theologischen Perspektive – von den religionsgeschichtlichen und biblischen Anfängen über die Kirchengeschichte bis in die tiefgreifend veränderten intellektuellen Koordinaten der modernen Welt hinein – stellte eine Dogmatik, die auf überzeitlich geltende Lehraussagen setzt, vor unüberwindliche Schwierigkeiten.

Eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne wollte Troeltsch in der Dogmatik dabei nicht sehen. Im Kanon der theologischen Disziplinen stellte er sie der praktischen Theologie an die Seite. Troeltschs Biograph, Friedrich Wilhelm Graf, notiert:

Wenn die Theologie um ihrer Wissenschaftlichkeit willen nur eine Geistes- und Kulturwissenschaft wie die anderen auch ist, sind primär nur die historischen Fächer der Theologie – also die exegetischen Disziplinen und die Kirchen- bzw. Christentumsgeschichte – Wissenschaften. Die jungen Göttinger nahmen in Kauf, dass die Dogmatik […] und die Fächer der Praktischen Theologie […] nicht als Wissenschaften im prägnanten Sinne gelten können.2

Troeltsch war überzeugt, dass ein dogmatisches Werk erst von der Person seines Autors her Sinn und Gestalt gewinnt: «Die Dogmatik empfängt ihre Fassung durch die Ideen und Überzeugungen des jeweiligen Dogmatikers. Sie hat den Charakter eines persönlichen ‹Bekenntnisses›.»3 Dogmatik ist also zwar nicht unmöglich. Sie ist aber ein durchaus prekäres Unternehmen, das vom individuellen und geschichtlichen Glaubensstandpunkt des Dogmatikers aus eine jeweils neu zu gewinnende Mitte zwischen dem Verlust des Gehaltes der christlichen Religion und der illegitimen Inanspruchnahme des Überzeitlichen sucht. Es versteht sich, dass ein solche Suche neben anderen Versuchen steht, es Dogmatik demnach nur im Plural geben kann.

Troeltsch hat auf die Herausforderungen, vor denen eine christliche Dogmatik in der Moderne steht, zwar immer wieder hingewiesen. Er selbst hat sich der Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe aber kaum gestellt. Ein Dogmatiklehrbuch kündigte er wiederholt an, schrieb es jedoch ebenso wenig wie die immer wieder verschobene Religionsphilosophie. Im Rückblick auf seine Heidelberger Zeit, wo er ab 1894 den Lehrstuhl für Systematische Theologie innehatte, schrieb Troeltsch: «Zu einer ‹Dogmatik› habe ich mich ­begreiflicherweise nicht entschließen können. So ist es verständlich, daß ich die 1915 sich bietende Gelegenheit, an die Berliner philosophische Fakultät als Philosoph überzusiedeln, annahm.»4

II

Als Systematiker in Heidelberg war Troeltsch gleichwohl verpflichtet gewesen, Dogmatik zu lesen. Die «Vorlesungen zur Glaubenslehre», die er während der Heidelberger Zeit immer wieder hielt, waren nicht für den Druck vorgesehen. Eine Nachschrift wurde jedoch 1925 – zwei Jahre nach seinem recht frühen Tod – durch eine ehemalige Hörerin mit Zustimmung der Witwe Troeltschs publiziert. Diese Hörerin war Gertrud von le Fort, die ab Mitte der 1920er Jahre als Dichterin Bekanntheit erlangte. Ihre vielbeachteten «Hymnen an die Kirche» (1924)5 sind oft im Zeichen ihrer bald darauf vollzogenen Konversion zum Katholizismus gelesen worden. Zwischen den «Hymnen» und vor ihrer Konversion brachte sie Troeltschs «Vorlesungen zur Glaubenslehre» heraus.

Dieser Zeitpunkt ist bemerkenswert: Eine preußische Offizierstochter, die in der Welt der ostelbischen Rittergüter und am mecklenburgischen Hof aufgewachsen war und nachher unter anderem bei Troeltsch evangelische Theologie studiert hatte, fand über römische Reisen und ein «Lob der Kirche» zum Katholizismus. Was für andere zeitgenössische Konvertiten, die einen endgültigen Schlussstrich unter die liberale Theologie zogen,6 einen Widerspruch dargestellt hätte, ließ sich für sie offenbar vereinen: sich dem Katholizismus anzunähern und sich zugleich um das Nachleben eines großen Exponenten des liberalen Protestantismus zu sorgen.

Dass für Le Fort hier kein unüberwindlicher Gegensatz lag, hat sie in ihren «Erinnerungen» selbst zum Ausdruck gebracht. Im Angesicht der vom Zweiten Vatikanischen Konzil vollzogenen ökumenischen Öffnung deutet sie ihre Konversion hier rückblickend als Zusammenführung von Katholizismus und (liberalem) Protestantismus:

Heidelberg bedeutet dann auch die wichtigste und entscheidendste Etappe meines Lebens und nicht, wie manche Interpretationen behaupten, ein nach meiner Konversion überwundenes Stück geistigen Lebens – inwieweit auch meine Konversion zur katholischen Kirche von der Heidelberger Zeit mitbestimmt wurde, ist kaum je verstanden worden. Es bedurfte der ganzen theologischen und historischen Weitschau meiner Heidelberger Lehrer, um diesen Weg zu ermöglichen, dem meine von Jugend auf der Einheit der Kirche zugewandte Innerlichkeit zustrebte. Wenn in den gegenwärtigen Tagen, in denen ich diese Erinnerungen aufschreibe, auch von der katholischen Kirche her dieser Weg gesucht wird, so lag die Sehnsucht nach ihm von früh auf in mir – es ging, um es sehr deutlich zu sagen, bei mir weniger um eine Konversion als Ablehnung des evangelischen Glaubens, sondern es ging um eine Vereinigung der getrennten Bekenntnisse. Es bedeutet für mich das Geschenk einer besonderen Gnade, daß ich jetzt im hohen Alter das Konzil noch erleben darf, wo innerhalb der großen Konfessionen auf beiden Seiten das Eis schmilzt und die Erkenntnis zu tagen beginnt, daß wir eins sind in der Liebe Christi, und daß die Unterscheidungen zeitbedingter Natur überwunden werden können und müssen.7

Die Freiin, die ihre Jugend an den Garnisonsorten ihres Vaters und auf den mecklenburgischen Familiengütern verbracht hatte, hörte ab 1908 Vorlesungen an der Heidelberger theologischen Fakultät. In den meisten Lehrveranstaltungen war sie die einzige Frau. Unter den Professoren entwickelte sie für Ernst Troeltsch eine besondere Verehrung. Es entstand eine durchaus enge Beziehung, die bis zum Tod des Gelehrten aufrecht blieb.

Auch das Verhältnis zu Professor Troeltsch gestaltete sich freundschaftlich warm. Rückblickend glaube ich sagen zu dürfen, daß er mein bester Freund gewesen ist, der mir später in schweren und schwersten, durch das Schicksal meiner Familie bedingten Situationen beistand. In seinem Kolleg über ‹Glaubenslehre› spiegelte sich deutlich das furchtbare Ringen um die christliche Wahrheit. Der Glaube an sie war schon damals weithin unterhöhlt, aber er wurde von Ernst Troeltsch doch immer wieder seiner letzten Substanz nach bejaht und gerettet. Mit aller Skepsis seiner Zeit ringend, war sein tiefstes Bekenntnis ein gläubiges, wenn auch dem orthodoxen gegenüber stark relativiert.8

Betont das Vorwort der damaligen Veröffentlichung noch, dass die Mitschrift dem «verstorbenen Meister» besonders nahe zu kommen versucht, urteilt von le Fort in der Rückschau selbstsicher, dass Troeltschs Dogmatik nicht als orthodox gelten kann. Und doch bescheinigt ihm die Dichterin, um die christliche Wahrheit gerungen und den Glauben in «seiner letzten Substanz bejaht und gerettet zu haben».

Zugleich deutet sie an, was sie an Troeltsch schätze, was sie seinem Ringen, ja seinem Scheitern im letzten zu entnehmen vermochte:

In der letzten Unterredung, die ich wenige Monate vor seinem Tode mit ihm hatte, war er tief davon durchdrungen, gescheitert zu sein. Aber liegt nicht gerade in solcher schmerzlichen Einsicht in die letzte Unerforschlichkeit unseres Seins, in die Kapitulation des Bedingten vor dem Absoluten die tiefste Religiosität? Troeltsch zog die ewige Wahrheit aus der zeitbedingten. Wenn man ihn allein sprach, so bekannte er sich persönlich zur Mystik – den schlesischen Schuster Jakob Böhme liebte er sehr.9

Eine «Kapitulation» vor dem Absoluten, die Mystik Jakob Böhmes – und schließlich Troeltschs Einfühlungskraft sind es, die von le Fort über Troeltschs Abweichungen von der orthodoxen Dogmatik hinwegsehen lassen. Durch die Weite dieses Einfühlungsvermögens scheint sich ihre Heidelberger Zeit rückblickend gar in ihren Weg zum Katholizismus einzufügen:

Professor Troeltsch besaß bei aller Kampfesstellung gegenüber gewissen dogmatischen Positionen doch eine wunderbar tiefe Einfühlungskraft in das ihm nicht mehr Gemäße. In seinem Kolleg über Symbolik war man zuweilen versucht zu meinen, er stelle seine eigenen und nicht fremde Gedanken dar. Ich erinnere mich noch, wie ihn die Studenten nach einer Vorlesung über die Römische Kirche fragten: ‹Herr Professor, wollen sie uns eigentlich überreden, katholisch zu werden?› worauf er lachend erwiderte: ‹Das wäre doch nicht das Schlimmste.›10

III

Troeltschs Heidelberger Dogmatikvorlesung ist nun – fast 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung durch Gertrud von le Fort – als Band 26 der von Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger herausgegebenen monumentalen «Kritischen Gesamtausgabe» der Werke Ernst Troeltschs neu erschienen.11 Graf, der diesen Einzelband selbst besorgt hat, ist mit der Veröffentlichung ein Coup gelungen. Denn der Band liefert keineswegs pflichtschuldig nach, was als ein Nebenaspekt seines Werkes, ja durch die Veröffentlichung einer eifrigen Schülerin und frommen Konvertitin gar als eine etwas peinliche Episode seines Nachwirkens angesehen werden könnte.

Graf bietet in der neuen, wiederum mustergültig gearbeiteten Edition nicht nur einen Wiederabdruck der le Fortschen Veröffentlichung, sondern beleuchtet umfassend die Umstände ihres Entstehens (308ff; 390ff). Deutlich herausgearbeitet wird die Rolle des Heidelberger Kirchenhistorikers Hans von Schubert, der le Fort half und ermutigte (315-389). Auch von den Schwierigkeiten zwischen Troeltschs ehemaliger Hörerin und seiner Gattin Marta Troeltsch kann man lesen (314ff). Le Forts Arbeit und Impetus erfahren in Grafs Darstellung eine faire Würdigung.

Vor allem aber bietet die Edition in vollem Umfang zwei weitere, bislang nicht veröffentlichte Versionen der «Vorlesungen zur Glaubenslehre». Es handelt sich um die Nachschrift eines namentlich nicht bekannten Studenten, der 1906 die «Glaubenslehre» hörte. Das zweite Manuskript stammt von niemand anderem als von Karl Barth: «Als Marburger Student hat der damals 22 Jahre alte Barth sich im Wintersemester 1908/09 eine Nachschrift abgeschrieben, die der schweizerische Theologiestudent Hans Spahn nach dem Besuch von Troeltschs Vorlesung erstellt hatte.» Man kann Graf nur zustimmen, dass ein solcher Fund «zur unterhaltsamen, irgendwie auch wunderbaren Ironie der protestantischen Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts gehört» (108), zumal Barths Manuskript insgesamt 38 Anmerkungen enthält, die oft anzeigen, wo der spätere Hauptexponent der Dialektischen Theologie Troeltsch nicht folgen wollte.

Die von le Fort herausgegebenen Vorlesungen haben seinerzeit kein großes Echo gefunden12 – Graf zeigt in seiner Einführung, dass es doch das ein oder andere gab (102ff.) – und auch im Rahmen des seit den 1970er Jahren wiedererwachten Interesses an Troeltsch spielte die «Glaubenslehre» keine große Rolle. Die Edition gibt nun Anlass, sie neu zu entdecken, und bietet vielfältige Anregungen zur Lektüre und zur vergleichenden Forschung. Wo grenzt sich der junge Barth von Troeltsch ab? Wie unterscheiden sich die drei Manuskripte? Hierzu werden im Band nur erste Beobachtungen mitgeteilt (395-397).

Zum Teil behandeln die neu hinzugekommenen Versionen der Vorlesung Aspekte, die in der von Le Fort protokollierten Vorlesung aus dem Jahr 1912 nicht enthalten sind. So bieten beide Manuskripte Passagen zur altkirchlichen Christologie (175-189; 296-302), die deren Leistung würdigen, aber auch anzeigen, dass Troeltsch die klassische Inkarnationschristologie für nicht mehr haltbar hielt. Auch wenn man darüber anders urteilt, formuliert Troeltsch hier methodische Anforderungen an eine historischem Denken genügende Christologie, die eine Auseinandersetzung lohnen.

Troeltschs Ausführungen geben Einblick in sein Ringen um die «religiöse Bedeutung Jesu für den Glauben» (189ff.; 302ff.), einen Glauben, der den «Gott in Christo» (186) festhalten möchte. Im Barthschen Manuskript heißt es:

Wo dagegen zu dem in Jesus erschienenen relig. Leben die persönl. Glaubens -und Bekenntnisstellung eingenommen wird, da muß man in der geschichtl. Erscheinung die Offenbarung des Überhistorischen, Ewigen erkennen und sie zurückführen auf die Kundgebung des göttl. Lebens u. auf diesen Gedanken einer Offenbarung, die hier in höchster Reinheit stattfindet, ist die religiöse Würdigung zurückzuführen. Sie muß in der besonderen historischen Erscheinung etwas Allgemeines u. Ewiges erkennen. (303)

Auch hier kann man den Eindruck gewinnen, dass der christliche Glaube Troeltschs, wie Getrud von Le Fort es ausgedrückt hat, «unterhöhlt», «aber immer wieder seiner letzten Substanz nach bejaht und gerettet» ist.

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Ernst Troeltsch, Vorlesungen zur Glaubenslehre
Ernst Troeltsch

Vorlesungen zur Glaubenslehre

hg. v. Friedrich Wilhelm Graf, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 26, De Gruyter: Berlin 2023, S. 836, € 270.

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