Vergebung über den Tod hinaus?Benedikt XVI. zu einer Leerstelle seiner Eschatologie

betende Hände
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In seiner Novelle Das Konzert fragt Hartmut Lange, ob das Leben im Tod nachgeholt werden könne. Auch spielt er unterschiedliche Haltungen von Opfern gegenüber ihren Tätern durch: Vergebungsverweigerung, Vergebungsbereitschaft sowie den schwierigen Prozess der Annäherung. Die Novelle zeigt: Theologische Reflexionen über eine postmortale Versöhnung von Tätern und Opfern sind keine bloßen Schreibtischkonstruktionen. Sie finden auch außerhalb der Kirche Resonanz und werden im Imaginationsraum der Literatur durchgearbeitet. In seiner Eschatologie Tod und ewiges Leben von 1977 hat Joseph Ratzinger zur intersubjektiven Dimension der Versöhnung nicht Stellung genommen. Diese Leerstelle hat den hier dokumentierten Briefwechsel veranlasst, der sich an Jan-Heiner Tücks Deutung der Novelle Das Konzert entzündet, die 2015 erstmals in der Festschrift für Karl-Heinz Menke erschienen ist. Benedikt XVI. räumt ein, dass die Frage nach der intersubjektiven Dimension von Versöhnung in den 1970er Jahren noch keine Rolle gespielt habe, die Debatte um den Leib-Seele-Dualismus und die Kritik politischer Utopien seien vordringlich gewesen. Gewiss, der Tod ist das definitive Ende des menschlichen Pilgerstandes – und es kann keine eschatologische Nachgeschichte zur gelebten Freiheitsgeschichte geben. Dennoch gibt es, wie die Theologie des Purgatoriums zeigt, postmortale Prozesse der Läuterung – und in diesem Zusammenhang, so Benedikt, müsse auch die Frage der Vergebung eschatologisch weiter bedacht werden.

Jan-Heiner Tück: Brief an Benedikt XVI. vom 1. Dezember 2014

«[…] Bei dem Schriftsteller Harmut Lange, der einst Marxist war, dann aber durch bestimmte geschichtliche Erfahrungen zu einem melancholischen Agnostiker geworden ist, habe ich eine bemerkenswerte Novelle entdeckt, welche die Frage nach einer postmortalen Versöhnung zwischen Tätern und Opfern literarisch durchspielt. Seine Novelle Das Konzert fragt nicht nur danach, ob abgeschnittene Lebensmöglichkeiten im Tod nachgeholt werden können, sondern wirft auch das ins Theologische hinüberreichende Problem auf, ob Opfer ihren Tätern am Ende verzeihen können und sollen. Wenn man auf der Linie von Hans Urs von Balthasar und Ihrer Eschatologie das Purgatorium christologisch deutet und als therapeutischen Prozess versteht, wo eine Person mit einer schuldbeladenen Geschichte im Angesicht des Erlöserrichters in die Wahrheit geführt und geheilt werden kann, drängt sich die weitergehende Frage auf, ob nicht auch intersubjektiv zerrüttete Verhältnisse eschatologisch aufgearbeitet und geheilt werden müssen.

In der Enzyklika Spe salvi haben Sie, wenn ich recht sehe, einen zarten Wink in diese Richtung gegeben, als Sie darauf hingewiesen haben, dass es beim himmlischen Hochzeitsmahl unterschiedliche Plätze geben wird: «Die Gnade löscht die Gerechtigkeit nicht aus. Sie macht das Unrecht nicht zu Recht. Sie ist nicht ein Schwamm, der alles wegwischt, so daß am Ende dann eben doch alles gleich gültig wird, was einer auf Erden getan hat. Gegen eine solche Art von Himmel und von Gnade hat zum Beispiel Dostojewski in seinen Brüdern Karamasow mit Recht Protest eingelegt. Die Missetäter sitzen am Ende nicht neben den Opfern in gleicher Weise an der Tafel des ewigen Hochzeitsmahls, als ob nichts gewesen wäre.» (Art. 44) Wenn am Ende alle am Tisch des ewigen Hochzeitsmahls teilhaben, wie es eine heilsuniversalistisch inspirierte Theologie zu hoffen wagt, dürfen keine belastenden Momente mehr stehen bleiben zwischen Tätern und Opfern. Wäre dieses intersubjektive Verhältnis dann eschatologisch weiter zu bedenken (wie Sie es in dem beigeschlossenen Aufsatz zu Hartmut Langes Novelle angedeutet finden) – oder sollte man lieber auf der Linie der matthäischen Gerichtsparabel davon ausgehen, dass durch die Begegnung mit Christus, dem Richter und Retter, die offen gebliebenen Fragen im Blick auf die anderen schon miteingeschlossen sind – und eine Fortschreibung der klassischen Eschatologie in dieser Frage verzichtbar ist?

Bitte empfinden Sie diese Frage, die mich seit längerem beschäftigt, nicht als Zumutung. Wenn Sie mir ein paar klärende Zeilen zu dieser Frage schicken könnten, würde ich mich darüber überaus freuen.»

Benedikt XVI.: Antwortbrief an Jan-Heiner Tück vom 15. Januar 2015

«[…] Beeindruckend war für mich die Lektüre der Novelle ‹Das Konzert›, die Sie beigelegt haben und deren theologische Fragen Sie in Ihrem Brief aufgreifen und auch an mich weitergeben. Zunächst einmal finde ich es erfreulich, dass die Problematik der Vergebung in ihrer ganzen Tiefe ausgeleuchtet wird. Vergebung ist gewiss Gnade, aber gerade darum schließt sie auch einen Prozess im Vergebenden wie in dem Vergebung Empfangenden ein, der die ganze Tiefe der Person einfordert. Deswegen halte ich das Gerede von der bedingungslosen Vergebung, bei der letztlich nichts geschieht, für irreführend und gefährlich. Die Novelle von Hartmut Lange zeigt die Mühsal der Vergebung in den Opfern des Bösen eindringlich auf. Was mich wundert, ist die Asymmetrie im Vergebungsprozess, wie er ihn darstellt. Denn er setzt voraus, dass die Täter nun nach dem Tod alle reumütig sind und Vergebung verlangen. Gerade dies ist aber die Frage. Wenn man dabei als Beispiel, wie Sie es tun, auf den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess hinschaut, kann man sehen, dass dies nicht der Fall ist. Soweit ich mich erinnere, hat nur einer der Verbrecher, der berüchtigte Generalgouverneur für Polen Frank tatsächlich Erschütterung und Reue gezeigt und ausdrücklich seinen Tod als Wiedergutmachung angenommen. Die allermeisten haben, wie Sie selber zu Recht erwähnen, sich selbst als schuldlose Exekutoren einer Macht darzustellen versucht, der sie sich nicht entziehen konnten. Aber gerade so haben sie die Lüge weitergeführt, die ihr ganzes Leben prägte, und den Schlaf des Gewissens gleichsam als Rechtfertigung vorgegeben. So waren sie weder bußfertig noch verlangten sie nach Vergebung, die in ihrem Gerechtigkeitswahn auch keinen Anhalt gefunden hätte. Deshalb scheint mir das Problem der universalen Versöhnung nicht so sehr auf Seiten der Opfer, sondern auf Seiten der Täter zu liegen. Die Opfer sind in die Hingabe des gekreuzigten Herrn einbezogen und werden von ihr nicht nur in einem äußeren Sinn versöhnt, sondern es wird ihnen alles geschenkt, was sie verloren hatten, das ganze verlorene Leben wird ihnen zurückgegeben. Ob aber in den Tätern die Fähigkeit der Verwandlung und inneren Reinigung und Umgestaltung da ist oder wachsen kann, ist schwer zu sehen. Denn in ihnen muss doch die Lüge ausgebrannt werden, die Wahrheit aufgehen. Wenn aber das ganze Leben mit der Lüge identifiziert ist, sieht man nicht, was bei ihrer Beseitigung bleibt. Dies ist für mich die eigentliche Frage, die wir nicht beantworten können: Gibt es in den eigentlichen Häuptern des Bösen jenen Rest von Wahrheit und Liebe, der sie verwandlungsfähig macht oder nicht? Und das gilt, wenn man von Allversöhnung sprechen will, natürlich nicht nur von den Menschen, sondern auch von den gefallenen Engeln, vom Teufel. Wenn ich dies alles bedenke, bleibt für mich die Frage der Allversöhnung mehr als problematisch. Dass wir dennoch für alle hoffen dürfen, wie unser Herr für alle gelitten hat, bleibt davon unberührt.

Ich hoffe, daß ich mit diesen hingeworfenen Andeutungen ein wenig zu Ihrem Nachdenken über das Problem beitragen konnte […].»

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