Die Seligkeit aber ist GottZu Henri de Lubacs «Glaubensparadoxe»

Raffel, Die Kreuzabnahme
Raffael, Die Kreuzabnahme© Wikimedia Commons/gemeinfrei

I

Henri de Lubac erscheint im deutschen Sprachraum zumeist entweder in Zusammenhang mit seinem monographischen Erstling Catholicisme (1938) oder wegen seines Surnaturel (1946 bzw. 1965). Catholicisme, das sein erfolgreichstes Werk werden sollte, entwirft eine Theologie der wahren Synthese, sodass, mit Hans Urs von Balthasar, von diesem Werk als dem Stamm gesprochen werden kann, aus dem die nachfolgenden Werke als Äste hervorgehen.1 Diese wahre Synthese lässt sich so begreifen, dass sie die weltlich-dialektischen Gegenüberstellungen, ohne sie zu lösen, unter dem Catholicisme aushält – vereint auf Christus hin. Sie bietet die Grundlage für die im Buch zentrale Betonung einer im eigentlichen Sinne sozialen Kirche gegenüber einem Heilsindividualismus im Wechselspiel von Person und Gemeinschaft. Parallel dazu unternimmt es de Lubac in Surnaturel, das Ausgerichtet-Sein des Menschen auf Gott gegenüber einer selbstgenügsamen Natur des Menschen zu begründen. Ein Versuch, der durch die Verurteilung seiner Thesen in der Enzyklika Humani generis (1950) für mehrere Jahre unterbunden werden sollte. Gleichzeitig aber machte dieser päpstliche «Blitzschlag»2 Surnaturel über die französischen Grenzen hinweg bekannt, und erfasste auch den deutschen Sprachraum mit seiner Debatte um Natur und Gnade, besonders in der Figur Karl Rahners – obgleich mit eigenwilligen Veränderungen.

Weder mit seinen Paradoxes (1944), noch mit den Nouveau Paradoxes (1954) verließ der Jesuit dieses Feld, auf dem sein organisches Lebenswerk entstand – die Titel selbst sind vielmehr zentrales Programm von Surnaturel, genauer in de Lubacs Verständnis des Paradoxes des Menschen: Der Mensch übersteigt sich selbst. Der Mensch ist als Geschöpf nicht ausgerichtet auf die Schöpfung allein, sondern auf Gott. Und damit ist das Verlangen des Menschen nur in der Anrede durch Gott, d.h. in frei geschenkter Gnade erkenn- und erfüllbar.

Mit den Paradoxes entwarf Henri de Lubac eine andere Form der Theologie, die freier ihr Thema umschreitet und gerade im Wechsel der Perspektiven immer wieder auf ihr Innerstes zuschreitet. Statt einer wissenschaftlichen Abhandlung wählt de Lubac die literarische Form von Aufzeichnungen, die den Paradoxen neuen Ausdruck verleihen.

II

Vor 80 Jahren erschienen de Lubacs Paradoxes, die zehn Jahre später um eine zweite Sammlung, die Nouveaux paradoxes, ergänzt und erweitert wurden. Im Deutschen machte sie, die dann Glaubensparadoxe,3 wie so oft, Hans Urs von Balthasar mit wenigen Kürzungen als Zugabe zur im Johannesverlag erschienenen Werksausgabe de Lubacs zugänglich. Eine Zugabe, die mit neuem Schwung und schnellem Schritt gerade heute auf- und erfrischt. In aphoristischer Sprache unterläuft das Buch die Selbstverständlichkeiten der Welt. Nicht in loser Abfolge einzelner Weisheiten, sondern immer schon ausgerichtet auf die eine Wahrheit. Ohne Unordnung der Gedanken, lässt er einen reißenden Fluss entstehen, der die Scheinbauten der Weltweisheit unterspült, den Blick je neu freimacht. Es ist ein Strömen, das neuen alten Grund offenlegt. «Damit der Fluß der Tradition bis auf uns gelange, muß man in einemfort sein Bett ausbaggern.» (13) Kein Stein bleibt auf dem anderen – de Lubac stemmt sich in kaum einholbarem Wechsel gegen menschliche Absoluta, auch gegen seine Kirche in ihrem weltlichen Selbstverständnis und zeigt sie doch, «wie sie in ihrem Geheimnis ist, das heißt in ihrer wirklichsten Wirklichkeit –, aber für den Blick des Glaubens.» (107) Das bedeutet weder Leugnung, noch ein Nichtsehen oder gar ein bewusstes Nichtsehenwollen von Verbrechen und Schuld – sie werden ausdrücklich genannt. Aber die Blickrichtung des Buchs ist eine andere. Sie lenkt um zur Fundament-Frage: «Was ist Christentum?» (23) Anstatt weltliche Antworten zu geben, deutet de Lubac auf die eigentliche Kirche:

Alle Menschen dieser Welt, vor allem die besten unter ihnen, falls sie nur von dieser Welt sind, werden sich an der Kirche ärgern. Ob sie nun bewahren oder verändern wollen, sie werden immer mit Ungeduld feststellen, daß die Kirche voller Vorbehalte und lau sei, mag sie sich auch im Innersten glühend einsetzen. Sie ist die Kirche Gottes. Als Zeugin der göttlichen Dinge unter den Menschen wohnt sie bereits in der Ewigkeit. (48)4

III

Die namensgebenden Paradoxe sind nicht direkt Inhalt des Werks, es geht Henri de Lubac nicht um eine exemplarische Entfaltung des thomanischen Gedankens, wie dieser im zweiten Band von Suranturel vorliegt – gleichwohl er durchaus auf dessen Erkenntnissen aufbaut. Auch handelt es sich nicht um eine Aneinanderreihung einzelner Paradoxe. Vielmehr ist das Paradox als von de Lubac hier verwendete Methode bedeutsam. Einleitend beschreibt er es als

die Rückseite, deren Vorderseite die Synthese wäre. Aber diese entgeht uns immer. Der wunderbare Teppich, an dem jeder von uns durch sein Dasein mitwebt, ist noch unüberblickbar. Weder in den Fakten noch im Geist ist die Synthese schon in Greifweite. Solange wir leben, heißt die Aufgabe: immerfort suchen. Das Paradox ist die Suche oder Erwartung der Synthese. Vorläufiger Ausdruck einer immer unvollständigen Sicht, aber unterwegs zur Fülle.

Als der lächelnde Bruder der Dialektik, realistischer, bescheidener als sie, weniger angespannt, weniger eilig, mahnt das Paradox seine große Schwester, neben der es bei jeder Wegbiegung wieder auftaucht, daß sie trotz ihren notwendigen Bewegungsübungen nicht wirklich vorangekommen ist. Die alten Lehrer sagten’s, in etwas verschiedenem Sinn, vom ewigen Leben selber: «Wir schreiten immer von Anfängen zu Anfängen fort.» (7)

Die Paradoxe als Denkform sind konstitutiv. «Die Gegensätze im Denken drücken die Antinomien im Gewebe des Geschaffenen selbst aus. Sie bewegen die Geschichte, die versucht, sie zu übersteigen, ohne daß ihr das gelänge» (8).         

Geradezu hypnotisch richtet das Buch damit neu aus auf eine Tiefe und Höhe jenseits der Oberfläche – und zwar nicht in einer Erläuterung der Paradoxe, sondern in ihrer Verwendung qua Offenbarmachung der Wirklichkeit durch die Paradoxe. In Abfolgen von Dissonanzen, die nur auf Christus als Wahrheit hin harmonisiert werden, versucht de Lubac den Blick zu schärfen – ganz nah rückt er hier immer wieder an die integrative Kraft seines Catholicisme heran, der alles vereint, ohne einen Schritt vom exklusiven Anspruch Christi, Weg und Wahrheit zu sein (Joh 14, 6), zu weichen.

Erfand de Lubac damit eine ‹Paradoxe Theologie› – gleichsam katholische Antwort auf eine dialektische Karl Barths – die mehr noch die Gnade aufrecht zu erhalten weiß, ohne dabei des Geschöpfes Hoheit und Niedrigkeit zu verkennen? Man ist geneigt aus der Sprachform des Buchs eine Methode zu machen, eine negative Theologie. Das «noch unüberblickbar[e]» (7) Sein scheint paradoxerweise erblickt, zumindest kann es so erblickt werden – ja überhaupt nur paradox formuliert werden. Doch man vergisst: «Das Paradox ist paradox: es schert sich wenig um den allgemein vernünftigen Ausschluß des ‹Gegen› durch das ‹Für›» (8). Das Paradox ist eine Antimethodik, die sehr wohl um die Wahrheit weiß, die es nicht zur Fülle erreicht. Damit wird de Lubac aber keineswegs zum ‹existentialistischen Philosophen› (Tillich) oder einer anderen Spielart der Lebensphilosophie5 – der Verstand steht nie gegen das (performative) Herz, vielmehr ergibt sich die Wahrheit im Gleichschritt (also über Pascal hinaus [«Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point»6]). Diese wahre Wirklichkeit eben, auf die hin das Buch geschrieben ist, verlässt de Lubac nicht und schreibt deshalb in Paradoxen. «Geistliche Wahrheit [nämlich] ist in ihrer Substanz paradox [und] nicht minder in ihrem Rhythmus» (9).

IV

Die einzelnen Kapitel (fünfzehn) entwerfen jeweils eine Abfolge von Anschauungen über ihr weites Themenfeld. Immer ausgehend davon, dass die Kirche jetzt die Welt ist.7 Deutlich drückt er dies in Bezug auf die Welthaftigkeit aus (XI.): «Das Christentum ist keine geschichtliche Größe: die Geschichte vielmehr ist eine christliche Größe.» (92) An anderer Stelle allgemeiner (Sozialisierung [ XI.]):

Das Christentum als Institution erscheint in den Augen der meisten als die konservativste und opportunistischste Macht der Welt, während sich die christliche Reflexion, wo sie sich rein vollzieht, im Gegenteil als die revolutionärste, am schwersten befriedigende, am stärksten mit absoluten Kräften geladene offenbart. (46)

De Lubac ist es ernst darum, die christliche Sicht zu öffnen. Er billigt keine falschen, das heißt willentlich unwahren, Perspektiven. Dadurch werden seine Glaubensparadoxe auch keine Anweisungen zur konkreten Tat. Sie richten aus auf Christus, in dem Wissen, dass das, was der Mensch eigentlich will, nur in der Berufung durch Gott liegt. Ja, in existentialer Wirklichkeit bezeugt de Lubac, dass gerade in der Explikation des Christ-Seins keine Tatvorgabe im Sinne der civitas mundi, sondern ein eschatologischer Vorbehalt (Erik Peterson) liegt. Das Christentum stellt sich gegen die Absoluta der Welt,

[d]as Christentum weiß, daß es nicht von dieser Welt ist, daß jedes Rezept für diese Welt mehr oder weniger übel ist, und daß es sich trotzdem mit allem abfinden muß, ohne je aufzuhören, dem Bösen zu widerstehen. (46)

Die damit einhergehende «gewisse Indifferenz» (51) im Verhältnis zum Leben darf nicht als vergessene Weltlichkeit verstanden werden. Je mehr Henri de Lubac die kirchliche Perspektive stärkt (selbst wissend um das nie genug), umso mehr wird die weltliche Existenz selbst nur in ihrer Wirklichkeit gesehen, das ist im Glaubenslicht. Das Buch bescheinigt eine relative Weltlichkeit. Des Christen Nicht von dieser Welt-Sein ist nie weniger, sondern vielmehr erst die Ermöglichung ganzer Weltlichkeit, also Geschöpflichkeit. Bezüglich der Nächstenliebe bedeutet das:

Den Mitmenschen in Gott, um Gottes willen zu lieben, scheint kalt, entfremdend. Und doch gibt es nichts Tieferes. Denn man liebt in Gott des Nächsten Sendung, liebt ihn im Ruf Gottes, der sie begründet, liebt, was ihn im Innersten als das, was er ist, herstellt, jenseits seiner Eigenschaften das Einzigartige an ihm. Man liebt ihn dann wie Gott ihn liebt, der ihn als eben diesen erschafft, ihm diesen besonderen Grund des Personseins gibt, den keiner entdecken kann, der nicht in Gott liebt. (80f)

V

Henri de Lubac deutet hin auf das, «was seines Vaters ist, und dorthin führt er, nach dem Beispiel Christi, dessen Bote er ist, seine Brüder.» (51) Fast jede Zeile ist durchzogen von der Orientierung auf das, was zählt. Die Glaubensparadoxe sind durchtränkt von der markinischen Einfachheit ‹Kehrt um und glaubt an das Evangelium!› (Mk 1,15). Das bedeutet kein Vergessen von ‹Lebenspraxis›, denn «[u]m dem Christentum treu zu sein, muß man seine soziale Verwirklichung erstreben» (72). In ganz konkreter Frage: «Kann ich meinem Bruder ein Glas Wasser verweigern, weil ich ganz damit beschäftigt bin, das Gespür für Gott wiederzugewinnen?» (71f)

Man muss dem Autor dabei nicht in all den Variationen, die die Glaubensparadoxe füllen, en detail zustimmen, vielleicht darf man es gar nicht, denn «Gedanken verbrauchen sich schnell. Worte faulen noch schneller» (52); bloße Affirmation wäre toter Glaube – vielmehr ist das Geschöpf in seiner Freiheit je neu berufen. Die Gnade selbst beweist dies in der personalen Anrede des Menschen durch Gott. Damit ist – ein christlicher Schritt, der Moderne und Postmoderne immer schon vorauseilt – «[j]edes Verstehen […] notwendig offen» (53). Und doch ist die Wahrheit in dem Buch überliefert, Strahlen der Wahrheit durchsickern die Seiten mit neuer Finsternis.

Mein Licht ist nichts als Nacht. Ich kann nicht einmal paradoxerweise behaupten, sie sei eine lichte Nacht. Trotzdem unterscheidet ihre Finsternis besser als jedes Licht. Sie hält mich fern von allen Lichtern, die ihr nicht befreundet wären, von allen falschen Lichtern, und das in voller Klarheit. (97)

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Henri de Lubac, Glaubensparadoxe
Henri de Lubac

Glaubensparadoxe

übertragen von Hans Urs von Balthasar, Johannes Verlag: Einsiedeln (3. Auflage) 2015, 109 S., kartoniert, € 9.

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