Abstract / DOI
Die Myronsalbung in der Orthodoxen Kirche. Ihre historische und theologische Bedeutung. Die Myronsalbung, in der lateinischen Tradition als Firmung bekannt, ist eines der heiligsten und symbolträchtigsten Sakramente der orthodoxen Kirche. Dieser Artikel untersucht sowohl die Symbolik und die Elemente der Myronsalbung, insbesondere die Salbung der Gliedmaßen, als auch die spirituelle Bedeutung derselben im Zusammenhang mit der Theosis in ihrer individuellen, kirchlichen und kosmischen Dimension.
Chrismation in the Orthodox Church. Its Historical and Theological Significance. Chrismation, known as Confirmation in the Latin tradition, is one of the holiest and most symbolic sacraments of the Orthodox Church. This article examines both the symbolism and elements of Chrismation and in particular the anointing of the limbs as well as the spiritual significance of Chrismation in connection with theosis in its individual, ecclesial and cosmic dimensions.
DOI: 10.23769/communio-54-2025-34-43
Die Myronsalbung, die in der lateinischen Tradition als Firmung bezeichnet wird, ist eines der heiligsten und symbolträchtigsten Sakramente der orthodoxen Kirche. Sie folgt im Gegensatz zur lateinischen Tradition unmittelbar auf die Taufe und stellt mit dieser eine liturgische Einheit dar. Die Salbung mit dem Myron steht in direktem Zusammenhang mit dem Empfang des Heiligen Geistes, der die bzw. den Getauften stärken und heiligen soll. Während die Taufe die Reinigung von der Erbsünde und die Wiedergeburt des Menschen in Christus markiert, verleiht die Myronsalbung die Gnade und Kraft des Heiligen Geistes, die den Gläubigen befähigt, ein Leben in Christus führen zu können.1 Historisch betrachtet hat die Tradition der Salbung ihre Wurzeln in der Apostelzeit. Schon die ersten Christen kannten den Gebrauch von duftenden Ölen zur Salbung, was nicht nur eine rituelle, sondern auch eine tief spirituelle Bedeutung hatte.2 Im Alten Testament war die Salbung ein Zeichen für die Erwählung und Beauftragung durch Gott, wie es bei Königen, Priestern und Propheten der Fall war.3 Die Bedeutung der Salbung wird vor allem auch dadurch deutlich, dass als eine der Bestrafungen für das Volk Israels die Dürre der Olivenbäume und das Nichthervorbringen von Oliven für die Zubereitung der Öle für die Salbung galt.4 Im Neuen Testament wurde dieses Zeichen auf die Gläubigen ausgeweitet, die durch Christus als «königliche Priesterschaft»5 erwählt sind. Die Myronsalbung ist in diesem Sinne nicht nur ein symbolischer Akt, sondern vermittelt eine tiefgreifende sakramentale Gnade, die den Gläubigen auf einzigartige Weise prägt und diesen in die Gemeinschaft der Kirche einbindet, wobei hier die Kirche nicht einfach als eine institutionelle Größe gemeint ist, sondern vor allem als ein Ort der Gotteserfahrung.
1. Symbolik und Elemente der Myronsalbung
1.1 Das geweihte Myron
Das Myron (Krisam) ist ein mit duftenden Substanzen angereichertes Öl, das eine zentrale Rolle im Sakrament der Myronsalbung spielt. Seine Herstellung ist ein komplexer und feierlicher Prozess, der in der Regel von einem Patriarchen in der Orthodoxen Kirche durchgeführt wird. Dabei werden duftende Harze und Kräuter mit Öl vermischt, was nicht nur die physische Substanz des Myrons bereichert, sondern auch seine symbolische Bedeutung hervorhebt. Die Düfte sollen auf die geistliche Schönheit und Reinheit verweisen, die durch den Heiligen Geist verliehen werden. Die Zubereitung des Heiligen Myron beruht auf der Beschreibung des Moses im Buch Exodus, wo es heißt:
Der Herr sprach zu Moses: Nimm dir Balsam von bester Sorte: fünfhundert Schekel erstarrte Tropfenmyrrhe, halb so viel, also zweihundertfünfzig Schekel, wohlriechenden Zimt, zweihundertfünfzig Schekel Gewürzrohr und fünfhundert Schekel Zimtnelken, nach dem Schekelgewicht des Heiligtums, dazu ein Hin Olivenöl und mach daraus ein heiliges Salböl, eine würzige Salbe, wie sie der Salbenmischer bereitet, ein heiliges Salböl soll es sein (Ex 30, 22–25).
Ursprünglich erfolgte die Weitergabe der Gaben des Heiligen Geistes an die Gläubigen durch die Handauflegung der Apostel auf die Neubekehrten, doch schon in der apostolischen Zeit wurde die Handauflegung der Apostel durch die Salbung mit heiligem Öl durch den Bischof oder einen einfachen Priester ersetzt. Diese Ablösung war auf die rasche Zunahme der Zahl der getauften Christen zurückzuführen.6 In den ersten Jahrhunderten des Christentums wurde die Salbung von den Ortsbischöfen gespendet. Doch mit der Entwicklung der kirchlichen Verwaltung der Kirche und der zunehmenden ekklesiologischen Bedeutung der Zubereitung und Verteilung des Myron in den Ortskirchen wurde die Zubereitung des Myron allmählich zu einem besonderen Privileg, das heute in der Orthodoxen Kirche den Patriarchen und historisch vor allem dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel vorbehalten ist. Die Zubereitung und Verteilung des Myron von besonderen Bischofssitzen soll die Einheit der orthodoxen Kirche ausdrücken und stellt in einer gewissen Art und Weise eines der Privilegien des Ehrenprimats des Ökumenischen Patriarchats dar. Historisch gesehen hat jedoch das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel das Recht zur Zubereitung des Heiligen Myron den autokephalen orthodoxen Kirchen von Serbien, Russland und Rumänien verliehen und somit diesen Kirchen eine Sondererlaubnis für die Herstellung des Myron gewährt.
1.2 Die sichtbare Handlung und der Vergleich von Wasser und Myron
Die Myronsalbung, die den Neugetauften gespendet wird, umfasst mehrere sichtbare und greifbare Elemente, die zusammen eine tiefere geistliche Realität ausdrücken. Zu diesen Elementen gehören:
- Die Salbung der Glieder: Während der Priester das Myron auf Stirn, Ohren, Nasenflügel, Brust, Hände und Füße aufträgt, spricht er die Worte: «Siegel der Gabe des Heiligen Geistes». Diese Worte bestätigen die sakramentale Wirkung und heiligen die Sinnesorgane und Glieder des Getauften.
- Die gesprochenen Worte: Die Formel «Siegel der Gabe des Heiligen Geistes» deutet auf die Einprägung des Geistes in den Getauften hin. Sie betont sowohl die Stärkung als auch die Prägung des Gläubigen, der durch den Geist zu einem neuen Leben befähigt wird.
- Die körperliche Berührung: Die Salbung zeigt, dass die Gnade des Geistes nicht nur die Seele, sondern auch den Leib betrifft. Sie unterstreicht die Einheit von Körper und Geist im Heilsgeschehen.
Während die Taufe durch Wasser die Reinigung und Wiedergeburt symbolisiert, dringt das Myron tiefer in den Leib und das innere Sein des Täuflings ein. Dieser Unterschied verdeutlicht die jeweilige Funktion der beiden Sakramente: Die Taufe markiert den Eintritt in das neue Leben, während die Myronsalbung die Kraft und Dynamik verleiht, dieses Leben zu verwirklichen. Das Myron verleiht dem Getauften die Fähigkeit, die Gegenwart Christi in sich zu spüren und für andere sichtbar zu machen. Der rumänische Theologe Dumitru Staniloae unterstreicht in diesem Sinne die unmittelbare Zugehörigkeit zwischen dem Sakrament der Taufe und der Myronsalbung, indem er Folgendes betont: «Das Sakrament der Myronsalbung vermittelt uns die Kraft, dass wir in diesem zunehmenden Prozess des Mit-Christus Sterbens mitwirken, der ja im Grunde ein Prozess des Mit-Lebens mit Christus ist, und das Sakrament der Buße festigt uns darin immer wieder neu».7 Somit ist für Staniloae klar, dass das eigentliche kirchliche Erlebnis und die eigentliche Teilnahme am Tod und der Auferstehung Jesu Christi nur durch die Myronsalbung ermöglicht wird. Dabei können jedoch die Sakramente nicht einfach voneinander getrennt werden, da das Sakrament der Buße bzw. Beichte bei Staniloae, wie wir gesehen haben, unmittelbar Ausdruck der sakramentalen Gnade der Myronsalbung ist. Man sollte also davon ausgehen, dass die Sakramente ineinandergeflochten sind und das eine auf das andere hinlenkt. Somit gehören die Taufe, die Myronsalbung, die Eucharistie und die Beichte unzertrennlich zueinander, da das eine Sakrament ohne das andere nicht zu denken ist. «Mit der Myronsalbung», betont Staniloae 1995 in seiner Dogmatik, «setzt die Epiphanie oder Erscheinung Christi im Wandel des Getauften ein, es beginnt die Erleuchtung seines Wesens durch den Geist Christi, wodurch deutlich wird, dass er ein tätiges Ebenbild Christi, ein Tempel des Geistes ist, der ihm beisteht, das zu aktualisieren, was in der Taufe bereits virtuell in ihn hineingelegt worden ist. So könnte gesagt werden, dass uns in der Myronsalbung deutlich gemacht wird, dass wir die in der Taufe erhaltenen Gaben nicht bloß aus eigenen Kräften zu aktualisieren vermögen, sondern nur mit Hilfe des Geistes. Diese Hilfe setzt unmittelbar nach der Taufe ein. Ohne solche Hilfeleistung des Geistes könnten wir die Gaben der Taufe nur schwer oder gar nicht aktualisieren».8 Diese Aktualisierung findet jedoch im Sakrament der Beichte statt, die wiederum zur Teilnahme am selbigen Leib und Blut Jesu Christi und somit nach orthodoxer Tradition an seinem Tod und seiner Auferstehung befähigt.
1.3 Die Wirkung des Heiligen Geistes durch die Myronsalbung
Das Myron ist somit, wie schon erwähnt wurde, nicht nur ein äußeres Zeichen, sondern wirkt tiefgreifend auf die leib-seelische Einheit des Menschen ein. Durch sein physisches Eindringen auf dem Körper des Getauften symbolisiert es die bleibende Gegenwart des Heiligen Geistes auf den neu Getauften. Dieses Haftenbleiben weist darauf hin, dass der Heilige Geist in ständiger Gemeinschaft mit dem Gläubigen verbleibt und ihn auf seinem Weg der Heiligung bzw. Vergöttlichung begleitet. Diese Wirkung geht über das rein Sichtbare hinaus und deutet darauf hin, dass der Geist das Wesen des Getauften verwandelt, ihn erneuert und ihn in das neue Leben Christi einführt. Der Wohlgeruch, den das Myron verleiht, hat dabei eine doppelte Bedeutung. Einerseits ist er ein Zeichen der Reinheit und Heiligkeit, die durch den Heiligen Geist vermittelt werden. Andererseits wird er zum Ausdruck der missionarischen Berufung des Getauften, die geistliche Erneuerung und Liebe, die er empfangen hat, in die Welt hinauszutragen. Der Wohlgeruch steht für die geistliche Attraktivität des christlichen Lebens, das die Menschen zu Christus zieht. Die Kirchenväter, insbesondere Kyrill von Alexandrien, betonen, dass dieser Wohlgeruch nicht nur eine persönliche Gnade darstellt, sondern eine gemeinschaftliche Wirkung hat. Auch bei Dionysius Areopagita stellt der Duft die Heiligkeit der Myronsalbung dar, was ihn dazu veranlasst auf die Wichtigkeit des Wohlgeruches des Öles hinzuweisen.9 Der vom Geist erfüllte Mensch wird zu einer Quelle des Wohlgeruchs, die ihre Umgebung mit Güte, Milde und Sanftmut erfüllt. Diese Wirkung soll dabei an die Sanftmut der Taube, ein klassisches Bild für den Heiligen Geist, erinnern.10 Die Myronsalbung erfordert jedoch das aktive Mitwirken des Täuflings. Der Heilige Geist befähigt den Getauften, nach der patristischen Tradition Tugenden zu üben, Versuchungen zu widerstehen und Werke der Liebe zu vollbringen. Doch diese Wirkung ist nicht zwanghaft; sie erfordert die bewusste und freie Entscheidung des Menschen, mit der Gnade des Geistes zu kooperieren. Die Vorstellung des Wohlgeruchs des Heiligen Geistes findet in der Bibel zahlreiche Hinweise. Im Alten Testament ist der Wohlgeruch ein Zeichen für die Annahme eines Opfers durch Gott.11 Im Neuen Testament wird Christus selbst als «Wohlgeruch für Gott» beschrieben, der sich für die Kirche hingibt.12 Der zweite Korintherbrief greift dieses Bild auf und betont: «Denn ein Wohlgeruch Christi sind wir für Gott bei denen, die gerettet werden und bei denen, die verloren gehen» (2 Kor 2, 15).
Dieser Wohlgeruch steht für die geistliche Wirkung des Lebens in Christus, das durch Tugenden und Werke der Liebe die Menschen zu Gott hinzieht. Kyrill von Alexandrien sieht den Wohlgeruch des Heiligen Geistes in engem Zusammenhang mit dem Opfer Christi.13 In der Myronsalbung wird der Gläubige mit dem Geist Christi gesalbt und damit zu einem lebendigen Opfer, das Gott wohlgefällig ist. Dieser Zustand des Opfers bedeutet das Absterben des alten, sündigen Menschen und das Auferstehen des neuen Menschen, der in Reinheit und Liebe lebt. Der Wohlgeruch, den der Geist durch den Menschen verbreitet, ist ein Zeugnis für die Hingabe an Gott. Es ist nicht nur ein persönlicher Zustand der Heiligkeit, sondern auch ein Aufruf, die Umgebung mit der Kraft des Guten zu durchdringen. So wird der Wohlgeruch des Geistes zu einem Mittel der Evangelisierung und des Aufbaus der Kirche. Der Mensch wird aufgerufen ein praktizierender Christ zu sein und seine empfangene Gnade nicht nur zu leben, sondern auch in die Welt durch Taten «auszustrahlen».
2. Salbung der Glieder: Theologische Interpretation
Die Salbung bestimmter Glieder des Körpers ist ein zentraler Bestandteil der Myronsalbung im orthodoxen Ritus und besitzt eine besondere Bedeutung. Es ist jedoch klar, dass die Myronsalbung als Folge zur Taufe ein klares Ziel verfolgt, das im Gebet vor der Myronsalbung benannt wird:
[…] Du selbst nun, Gebieter, barmherziger Allkönig, schenke ihm (ihr) auch das Siegel der Gabe Deines heiligen, allmächtigen und angebeteten Geistes und die Teilnahme am heiligen Leib und kostbaren Blut Deines Christus. Bewahre ihn (sie) in Deiner Heiligung; befestige ihn (sie) im orthodoxen Glauben; erlöse ihn (sie) von dem Bösen und all seinen Nachstellungen, und durch die heilbringende Frucht vor Dir erhalte seine (ihre) Seele in Reinheit und Gerechtigkeit, damit er (sie) in jedem Werk und Wort Dir wohlgefalle und Sohn und Erbe (Tochter und Erbin) Deines himmlischen Königtums werde […].14
Somit wird die Salbung zu einem Ausdruck der erhaltenen Gnade durch den Heiligen Geist, der im Täufling Platz annimmt. Die Salbung an den verschiedenen folgenden Körperstellen besitzt dabei eine jeweils besondere Bedeutung, die im Folgenden erläutert werden soll:
- Die Stirn: Sitz des Verstandes
Die Salbung der Stirn soll den Verstand des Getauften von den Schatten der Sünde reinigen und ihn für die Herrlichkeit Gottes öffnen. Der Getaufte wird befähigt, gute Gedanken zu bewegen und böse Gedanken zu vertreiben. Diese Salbung macht deutlich, dass die Erneuerung des Menschen mit der Erneuerung seines Denkens beginnt.
- Die Ohren: Offenheit für das Wort Gottes
Die Salbung der Ohren symbolisiert die Fähigkeit, die Stimme Gottes zu hören und seine Geheimnisse zu verstehen. Jesaja beschreibt diese Fähigkeit, wenn er sagt: «Der Herr hat mir das Ohr geöffnet, dass ich höre» (Jes 50, 5).Diese Salbung soll die Ohren für schädliche und oberflächliche Worte verschließen, öffnet sie jedoch für die Wahrheit und Reinheit des göttlichen Wortes.
- Die Nasenflügel: Unterscheidungskraft
Die Salbung der Nasenflügel hebt die geistliche Unterscheidungskraft hervor. Der Getaufte wird befähigt, zwischen dem Wohlgeruch des Guten und den verführerischen Düften des Bösen zu unterscheiden. Diese Fähigkeit ist entscheidend für das geistliche Leben, da der Mensch durch den Geist gestärkt wird, das Gute zu suchen und das Böse zu meiden.
- Die Brust: Sitz der Tugenden
Die Brust ist der Sitz von Herz und Kraft. Ihre Salbung zeigt, dass der Geist die Emotionen und die inneren Kräfte des Menschen reinigt und stärkt. Damit soll der Geist die Empfindungen des Herzens großmütig und liebevoll machen. Die Brust wird so zum Ort, an dem der Frieden und die Freude des Geistes wohnen.
- Die Hände und Füße: Werkzeuge des Dienstes
Die Salbung der Hände und Füße steht für die Bereitschaft, Gutes zu tun und im Gehorsam gegenüber Gott zu wandeln. Die Hände werden für Werke der Barmherzigkeit geheiligt, während die Füße für den Weg der Gerechtigkeit gesegnet werden. Diese Salbung unterstreicht die aktive Dimension des christlichen Lebens, das im Dienst an Gott und den Mitmenschen verwirklicht wird.
3. Die spirituelle Rolle der Myronsalbung im Zusammenhang mit der Theosis
Die Myronsalbung nimmt somit abgesehen von der Taufzeremonie an sich eine zentrale Rolle im geistlichen Leben eines orthodoxen Christen ein, da sie direkt mit dem Ziel der Theosis (Vergöttlichung) verknüpft wird. Theosis ist das höchste Ziel des christlichen Lebens und bedeutet die Vereinigung des Menschen mit Gott, wobei der Mensch an Gottes göttlicher Natur der Gnade nach teilhat, ohne seine eigene geschaffene Natur aufzugeben. Somit wird die Theosis das Ziel jeglicher anthropologischen Hoffnung. In der Myronsalbung wird der Grundstein für diesen Prozess gelegt, da der Getaufte mit dem Heiligen Geist gesalbt und damit für das neue Leben in Christus geheiligt wird. Somit ist für die Orthodoxe Kirche der erste Schritt hin zu Theosis der Salbakt mit dem Myron nach der Taufe, wobei hier vor allem die Erleuchtung den Weg hin zu Gott sichern soll.
3.1 Die Myronsalbung als Beginn der Theosis
Die Myronsalbung verleiht dem Gläubigen demnach die Gnade, durch den Heiligen Geist zu einem «Tempel Gottes»15 zu werden. Durch die Salbung wird Christus in ihm gegenwärtig, und der Heilige Geist erfüllt ihn mit göttlicher Energie, die ihn auf den Weg der Vergöttlichung führt. Die Myronsalbung ist somit vor allem eine innere Transformation, die den Menschen befähigt, das Bild Gottes in sich wiederherzustellen und die göttliche Ähnlichkeit zu verwirklichen. Die Tatsache, dass die Myronsalbung mit der Taufe gespendet wird, ermöglicht vor allem in der kirchlichen liturgischen Praxis der orthodoxen Kirche, dass auch Kinder volle Glieder der Kirche werden und ins sakramentale Leben der Kirche nicht nur eingeführt werden, sondern vollkommen daran teilnehmen können. In der orthodoxen Theologie wird somit betont, dass die Theosis kein statischer Zustand ist, sondern ein dynamischer Prozess, der, wie schon festgehalten wurde, mit der Myronsalbung beginnt.
3.2 Theosis als Wiederherstellung des göttlichen Bildes
Die christliche Tradition sieht den Menschen als nach dem Bild Gottes geschaffen.16 Dieses Bild wurde nach orthodoxer Auffassung durch die Sünde entstellt, aber nicht zerstört. Die Myronsalbung spielt in diesem Sinne eine zentrale Rolle bei der Wiederherstellung dieses Bildes, indem sie den Gläubigen in den Zustand der Reinheit und Heiligkeit zurückführt. Der Heilige Geist, der durch die Myronsalbung vermittelt wird, erneuert den Menschen von innen heraus und macht ihn fähig, an Gottes Leben teilzuhaben. Die Salbung der Sinnesorgane und Glieder des Körpers symbolisiert dabei, wie wir gesehen haben, dass die gesamte menschliche Person – Geist, Seele und Leib – in den Prozess der Theosis einbezogen wird. Der Verstand wird erleuchtet, die Gefühle gereinigt, und der Leib wird geheiligt, sodass der ganze Mensch zum «Gefäß der göttlichen Gnade» wird. Jedoch wird in der erwähnten dynamischen Auslegung dieser Gnade verständlicherweise die Freiheit des Menschen, sich gegen die Gnade Gottes entscheiden zu können, nicht aufgehoben. Genau in diesem Akt der Nichtakzeptanz dieser Gnade im Leben hin zur Theosis befindet sich für die orthodoxe Theologie die Sünde beim Menschen. In diesem Sinne ist für die orthodoxe Theologie «die Strafe für Sünde nicht eine Schuld, die wir dem Vater schulden; sie ist der Seelentod, der die unmittelbare und unvermeidliche Konsequenz der Sünde»,17der Abkehr von Gott ist. Der Akt der Reue und Buße wird somit ein Prozess der Rückkehr hin zum Weg der Theosis und kann zu einer immerwährenden Erneuerung des Tauf- und Salbungsereignisses betrachtet werden.
3.3 Die Synergie von göttlicher Gnade und menschlichem Bemühen
Die Myronsalbung vermittelt die göttliche Gnade, die unerlässlich für die Theosis ist. Doch diese Gnade wirkt nicht automatisch; sie erfordert die bewusste Mitarbeit des Menschen. Die orthodoxe Theologie spricht hier von «Synergie», einer Zusammenarbeit zwischen göttlicher Gnade und menschlichem Willen. Durch die Myronsalbung erhält der Mensch die Fähigkeit, diese Synergie zu leben, indem er sein Leben nach den Geboten Christi ausrichtet und die Tugenden übt. Der Heilige Geist, der in der Myronsalbung empfangen wird, stärkt den Gläubigen in diesem Bemühen. Er gibt ihm die Kraft, Versuchungen zu widerstehen, die Leidenschaften zu überwinden und in der Liebe zu Gott und den Nächsten zu wachsen. Die Theosis ist hierbei ein lebenslanger Prozess, der in der Zusammenarbeit mit dem Geist verwirklicht wird, der durch die Myronsalbung in das Leben des Christen eingetreten ist.
3.4 Vergöttlichung durch die Gemeinschaft mit Christus
Die Myronsalbung stellt eine direkte Verbindung zwischen dem Gläubigen und Christus her, der selbst als der «Gesalbte» (griechisch: Χριστός) bezeichnet wird. Durch die Salbung wird der Getaufte mit Christus vereint und nimmt Anteil an seinem Leben und Wirken. Die Theosis ist nur durch diese Gemeinschaft mit Christus möglich, der die Brücke zwischen Gott und Mensch ist. Dies verweist auf die spirituelle Dimension der Theosis, in der das Leben des Gläubigen zu einem lebendigen Zeugnis der Gegenwart Christi wird. Der Gläubige wird so zu einem «Abbild Christi», der in seinem Denken, Handeln und Sein die göttliche Realität widerspiegelt. Die Myronsalbung verbindet den Gläubigen nicht nur mit Gott, sondern auch mit der Kirche, die der Leib Christi ist. Die Theosis kann nicht isoliert vom kirchlichen Leben verwirklicht werden, da die Kirche der Ort ist, an dem die Gnade des Heiligen Geistes in besonderer Weise wirkt. Durch die Myronsalbung wird der Gläubige in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen und mit ihren Gaben beschenkt. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, also der Abbilder Gottes in der Geschichte, bietet dem Gläubigen die Mittel, die für die Theosis notwendig sind: die Sakramente, die Lehre, die Gebete und die geistliche Begleitung. Die Myronsalbung ist in diesem Kontext nicht nur ein persönliches Sakrament, sondern auch ein sakramentales Zeichen der Einheit mit der Kirche. Der Heilige Geist, der in der Myronsalbung empfangen wird, ist derselbe Geist, der die Kirche belebt und ihre Glieder miteinander verbindet. Im strengeren Sinne kann man also behaupten, dass dort, wo diese Abbildung nicht gegeben ist, die Kirche als Leib Christi nicht verwirklicht und erlebt wird.
3.5 Die Transformation der gesamten Schöpfung
Die Theosis hat jedoch nicht nur ekklesiale und individuelle, sondern auch kosmische Dimensionen. Der Heilige Geist, der durch die Myronsalbung in den Gläubigen einzieht, erneuert nicht nur die menschliche Person, sondern wirkt auch auf die gesamte Schöpfung ein. Der Gläubige, der durch die Myronsalbung zum Träger des Geistes wird, nimmt aktiv an der Erneuerung der Welt teil, indem er die Gnade und den Frieden Gottes in die Schöpfung hineintragen soll. Diese Vorstellung steht in engem Zusammenhang mit dem Gedanken des erwähnten «königlichen Priestertums» der Gläubigen, das in der Myronsalbung betont wird. Der Getaufte und Gesalbte wird zum Mittler zwischen Gott und der Schöpfung, der durch sein Gebet, seine Werke und sein Zeugnis die ganze Schöpfung zu Gott hinführen soll. Die Theosis des Einzelnen ist daher untrennbar mit der Heilung und Vergöttlichung der gesamten Schöpfung verbunden.18 Die Myronsalbung hat in diesem Sinne eine eschatologische Dimension, da sie den Gläubigen auf das kommende Reich Gottes vorbereitet. In der orthodoxen Tradition wird die Theosis nicht nur als ein gegenwärtiger Prozess, sondern auch als die endgültige Verwirklichung der göttlichen Gemeinschaft in der Ewigkeit verstanden. Die Myronsalbung ist ein Vorgeschmack auf diese eschatologische Realität, in der der Mensch vollkommen mit Gott vereint sein wird. Durch die Gnade des Heiligen Geistes, die in der Myronsalbung empfangen wird, beginnt der Gläubige bereits in dieser Welt, am ewigen Leben teilzuhaben. Somit wird der Akt der Myronsalbung zur Erfüllung des Taufereignisses und in diesem Sinne ein Akt, wo der Mensch Gott in der Geschichte zu erfahren vermag.