Zeugnisse des SchreckensZu Andrea Löws «Deportiert»

Deportation der Juden von Radomsko
Deportation der Juden von Radomsko© Wikimedia Commons/gemeinfrei

«Wird je ein Mensch der Nachwelt sagen können, wie wir hier gelebt haben und gestorben sind?» Im Juli 1942 notiert der Jude Oskar Singer im Ghetto Litzmannstadt diese Frage (S. 8). Er ist damit nicht allein. Viele haben sich diese Frage gestellt, und viele haben versucht, zu erzählen – in Briefen an ihre Verwandten und Freunde, aber auch in Tagebüchern und in Texten, die zur Lektüre durch andere bestimmt waren, andere, die sich später, irgendwann in einer weit entfernten Zukunft, interessieren würden: in einer Zukunft, in der es nicht mehr gleichgültig sein würde, was mit jüdischem Leben geschieht. Es war nicht leicht, zu erzählen, denn die Erfahrungen der Deportierten lagen so völlig jenseits all dessen, was ihr bisheriges Leben ausgemacht hatte. In vielen Fällen war das ein gut situiertes, bürgerliches, mehr oder weniger behütetes Leben gewesen, in dem die später erlebten Schrecknisse nicht in den schlimmsten Albträumen vorkamen. Es war also schwierig, Worte zu finden, um das Erlebte zu erzählen – aber es war vielen ein Anliegen.

Andrea Löw, die am Institut für Zeitgeschichte stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Stimmen zu versammeln und ihnen Gehör zu verleihen, durch die Zusammenstellung zu einem Band, der die systematische Deportation jüdischer Menschen seit Herbst 1941 schildert: nach Osten, nach Riga oder Minsk oder Warschau, in Ghettos und Lager. Die Massenmorde in Theresienstadt und Auschwitz werden in dem Buch nur gestreift, da die Abläufe in diesen Fällen sich von den Deportationen nach Osten unterschieden. Auch die systematische Ausgrenzung, Stigmatisierung und Unterdrückung jüdischer Menschen in ihren Heimatorten ist nicht Thema des Buches. Es handelt von der Deportation und dem Schicksal der Deportierten – und damit von einem furchtbaren, aber im Vergleich zur Realität der Vernichtungslager häufig weniger prominenten Teilausschnitt des Leidens jüdischer Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus.

Die Sprache: immer wieder etwas hölzern und unbeholfen angesichts des Unbeschreiblichen. Gerade darin aber, so erscheint es beim Lesen, sind Löws Formulierungen wohl Widerhall der unzähligen Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, die zwischen Schock, Fassungslosigkeit, Empörung, naiver oder verkrampfter Hoffnung und illusionsloser Verabschiedung aller Zuversicht ebenfalls keine passenden Worte finden können für das Schreckliche, die manchmal auch mit einer erschütternden Nüchternheit von den furchtbarsten Erfahrungen berichten, manchmal nur noch stammelnd die Grenzen dessen ausloten, was überhaupt gesagt werden kann.

Löws Band folgt den einzelnen Schritten der Deportation, von der Abholung über die Zugfahrt bis zu Massenermordungen an den Ankunftsorten, aber auch zur Internierung, zu den Versuchen, weiterzuleben und das Leben irgendwie zu gestalten, stets im Horizont der alles überschattenden, willkürlichen und entmenschlichenden Brutalität der NS-Schergen. Die Abläufe sind im Wesentlichen bekannt, aber es wäre aberwitzig, davon auszugehen, dass sich allein aus dieser Kenntnis bereits eine Vorstellung davon ergibt, was es bedeutete, davon betroffen zu sein. «Deportiert» eröffnet eine solche Vorstellung – den streifenden Hauch einer solchen Vorstellung, besser gesagt, denn nicht ansatzweise werden Nachgeborene je das unermessliche Leid nachvollziehen können, das Menschen in dieser Zeit durchleben mussten. Aber durch die in diesem Buch zusammengetragenen Zeugnisse wird doch in groben Umrissen etwas sicht- und spürbar, das die reinen historischen Fakten nicht erschließen: Wie es gewesen sein muss. Wie Menschen aus ihren Heimen, ihren Betten gerissen werden, oft ohne die geringste Vorwarnung; niemand sollte sich der Deportation entziehen können, die NS-Akteure suchten ihre Opfer nach allen Regeln der Kunst ahnungslos zu halten, täuschten gezielt. Wie man binnen kürzester Zeit alles zurücklassen muss, abgesehen von einem Koffer von nicht mehr als 50 Kilogramm Gewicht. Wie der Ehemann zusammenbricht, als sie kommen: Er schreibe seinen Namen nicht auf das primitive Stück Pappe, das er sich um den Hals hängen sollte, er sei kein Verbrecher. Wie die Ehefrau ihn zu beschwichtigen versucht, um Schlimmeres zu verhindern. Wie er beim Weggehen zuletzt noch fragt, wer denn nun den Kanarienvogel füttere.

Die Ungewissheit war quälend. Anfangs war es noch nicht klar, was geschehen würde; viele hofften. Es ging doch zu einem Arbeitseinsatz, in Fabriken oder auf landwirtschaftlichen Betrieben im Osten. Man sollte ja Werkzeuge mitnehmen. Und es wäre doch widersinnig, Arbeitskräfte einfach zu vernichten… Aber bald schon verbreiteten sich Gerüchte darüber, dass die meisten Deportationen in Massenermordungen am Zielort endeten. Menschen wussten, oder ahnten zumindest, dass sie ihre letzten Briefe schrieben an die, die sie liebten. Herzzerreißend die Schicksale, die hier aufblitzen. Die Frau, die, noch bettlägerig nach einer Operation, sich freiwillig für eine Deportation meldet, als sie hört, dass ihr Mann gehen muss. Die Mutter, die zurückbleibt in der Stube, weil sie gelähmt ist, ihren Kindern, ihrer Familie nachblickend, die weggerissen werden. Oder die Selbstmorde. Eine Jüdin beschreibt das Gefühl unsäglichen Glücks: Sie hat Veronal bekommen können, genügend. «Seitdem ich nun das Erlösungsmittel in Händen habe, lebe ich mein Restchen Leben so intensiv wie noch nie.» Wenige Tage dauerte es noch.

Menschen, die eben noch ein zwar stigmatisiertes und zunehmend eingeschränktes, aber doch häufig gut situiertes und sich an die schwindenden Reste der Normalität haltendes Leben irgendwo in einer deutschen Stadt lebten, gehen nun durch die Hölle, so lange, bis – für manche früher, für manche später, für die allermeisten, fast alle aber unausweichlich – der Tod kommt. Der Gang der Deportierten durch die Straßen, die Passanten und Anwohner, die dabei zusehen: Einige hätten geweint; die meisten gafften nur. Später finden die Aktionen bei Nacht statt. Warten auf die Abfahrt in improvisierten Lagern, etwa im nach Blut und Urin der Tiere stinkenden Schlachthof in Düsseldorf-Derendorf, Schlafen auf dem Boden oder bestenfalls auf Stroh, Beraubung durch Gestapomänner, die Uhren, Schmuck, Eheringe an sich nahmen. Die Perfidie, dass die Bahnfahrkarte in den Osten noch selbst bezahlt werden musste: Kinder fuhren ermäßigt. Bahnfahrten, meist noch nicht in den berüchtigten Viehwaggons, aber unter furchtbaren Zuständen, ohne Wasser, bei verstopften oder vereisten Aborten, die Menschen eingesperrt unter der Drohung, beim vorzeitigen Verlassen der Wagen erschossen zu werden. Erfrierende Gliedmaßen, die später faulen und den Tod herbeiführen. Waten in menschlichem Kot. Die Schwächsten, Alte, Kranke, Kleinkinder, sterben schon auf der Fahrt. Andere beim Aussteigen: Wer nicht schnell genug ist, wird erschossen. Wer auf dem Weitermarsch fällt, bleibt liegen und stirbt im Schnee.

Und dies ist nur der Anfang. Das Leben in den Ghettos, in den Lagern entzieht sich jedem Wort, jeder Beschreibung. Andrea Löw versucht es doch, gestützt auf die Quellen derer, die stammelnd berichten, was ihnen widerfährt. Immer wieder werden dabei Bilder und Szenen gezeichnet, die aufwühlen, verstören, sich ins Gedächtnis hineingraben. Der Rabbiner, der auf dem Marsch zur Erschießungsstätte das Schema Jisrael singt. Juden in Lettland: Ihre Frauen, ihre Kinder wurden ermordet, um im Ghetto Platz zu schaffen für die Deportierten, für die Neuankömmlinge aus dem Reich. Als diese eingetroffen sind, kommen die lettischen Väter der ermordeten Kinder zum Zaun. «Und was taten sie?», schreibt eine Deportierte: «Mit brechendem Herzen und Tränen in den Augen warfen sie unseren Kindern Brot, Fleisch und Obst über den Zaun» (S. 115). Der Hauptmann, der vor einem deportierten Juden niederkniet und um Verzeihung bittet – aber auch die Lagerkommandanten, die aus purem Sadismus durch die Straßen der Ghettos laufen und willkürlich Menschen erschießen oder Hinrichtungen anordnen, bei denen die Frauen und Kinder der Gehängten unter dem Galgen stehen und zusehen müssen. Der Mann, der in ein Kommando zur Aushebung von Massengräbern für die Erschießungen eingeteilt wird und unwissentlich seiner eigenen Schwester das Grab bereitet. Eltern, die ihre Kinder vergiften, um sie nicht an die Schergen ausliefern zu müssen, die sie abholen werden, zur Erschießung oder in die Gaswägen. Der Vater, der seinen Sohn vergräbt, um ihn vor den Häschern zu verbergen – und ihn dann doch ausliefert, da sonst zehn andere gestorben wären. Zwischendurch jene unwahrscheinlichen Ausdrucksformen des menschlichen Lebenswillens: Schulunterricht, Tanzunterricht, religiöse Feste, Konzerte, Fußballspiele an den Orten, wo sonst die Erhängungen stattfinden – das verzweifelte, so furchtbar zerbrechliche Mühen um ein kleines bisschen Normalität und Menschlichkeit inmitten von all dem Wahnsinn.

Aber der Wahnsinn behält immer die Oberhand. Alle Worte versagen angesichts der unglaublichen Niedertracht und Brutalität der Nationalsozialisten. Viele Grauschattierungen finden sich da, gewiss, viel Schwäche, Angst, augenschließendes, verwaltendes Mitläufertum, zudem sind da einige, die noch menschliche Regungen zeigen inmitten der Gräuel. Aber auch die abgrundtiefe Grausamkeit vieler der Abläufe in den Ghettos und Lagern haben ja Menschen ersonnen: Hinrichtungen durch Ertränken in der Latrine. Die Racheaktionen; es mochte sich eine Fluchtmöglichkeit eröffnen, aber man floh nicht, denn die zurückbleibenden Eltern, Geschwister, Partner, Kinder wären erschossen worden. Judenverwaltungen: Natürlich gab es Verhalten, das an Kollaboration grenzte. Aber es gab auch diejenigen, die gezwungen wurden. Gezwungen etwa, Listen von allen Kindern unter zehn Jahren zu erstellen, die beim nächsten Mal geholt werden würden. Auf der Liste auch die eigenen beiden. Systematisch wurde den in den Ghettos gefangenen Menschen jede Lebensmöglichkeit genommen, mitunter schnell, durch die Kugel oder den Strang, oft aber langsam, indem der Tod mitten ins Leben hineingeholt, zu einer jede Lebenssekunde beherrschenden Möglichkeit gemacht wurde, indem jedes freie Atmen, jede Entfaltungsmöglichkeit, jeder Raum zum Leben mehr und mehr eingeengt und zerstört wurde. Und vor dem Raub des Lebens stand der Raub der, ach, nur in der Theorie unantastbaren Menschenwürde. Menschen wurden dazu gezwungen, wie die Tiere um das eigene Überleben zu kämpfen, in Dreck und Unrat, verlaust, krank, in bitterstem Hunger gegeneinander kämpfend, abgemagert, ausgemergelt, schwach, verzweifelt, getrennt von denen, die sie liebten, geschlagen, verletzt, endlich nach der Kugel sich sehnend, die all dem Elend und Schmerz ein Ende bereiten würde.

Andrea Löw webt aus Tausenden von Briefen, Postkarten, Tagebucheinträgen und Berichten Überlebender ein narratives Geflecht des Grauens. Einzelne, konkrete Szenen der Verzweiflung und des Schmerzes verbinden sich mit den einordnenden, berichtenden Texten, die deutlich machen, in welcher schieren Masse solche Szenen sich abgespielt haben. Die Lektüre ist kaum zu ertragen, immer wieder muss man das Buch aus der Hand legen. Es lässt Schmerz, Ratlosigkeit, tiefe Betroffenheit zurück, auch eine zurechtgerückte Perspektive auf das eigene Leben; wie zerbrechlich ist ja die menschliche Existenz und wie wenig selbstverständlich die in mitteleuropäischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts übliche privilegierte Lebensweise. Das Buch ist wichtig. Nicht nur deswegen, weil es in einer erschütternden Weise verdeutlicht, warum die Shoah als Zivilisationsbruch bezeichnet wird. Auch nicht nur deswegen, weil es Menschenschicksalen Worte und Aufmerksamkeit gibt, die nicht vergessen werden dürfen. Es ist wichtig in einer Zeit, in der die letzten sterben, die noch von den unermesslichen Gräueln der Shoah erzählen konnten. Es ist wichtig in einer Zeit, in der ein brutaler, von gezielten Vergewaltigungen und Folter begleiteter massenmörderischer Angriff auf Israel als erste Reaktion weltweit einen nie geahnten Anstieg antisemitischer Hasskommentare auslöst. Und es ist wichtig in einer Zeit, in der jüdische Menschen sich in zentraleuropäischen Städten nicht mehr sicher fühlen können, sich nicht einmal in Israel noch sicher fühlen können und sich fragen, wohin sie dieses Mal fliehen sollen. «Nie wieder» ist ein Versprechen, das davon lebt, dass der Zivilisationsbruch der Shoah präsent bleibt – nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den Herzen. «Deportiert» leistet einen wichtigen Beitrag dazu.

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Andrea Löw, Deportiert
Andrea Löw

Deportiert «Immer mit einem Fuß im Grab». Erfahrungen deutscher Juden

S. Fischer Verlag: Frankfurt/M. 2024, 364 S., € 26

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