Es gibt nur ganz wenige Theologen, deren Werke auch nach 800 Jahren noch immer einen relevanten Bezugspunkt für die theologische Reflexionsarbeit bilden. Thomas von Aquin ist einer von ihnen. Obwohl sein genaues Geburtsdatum nicht überliefert ist – man weiß nur, dass er kurz vor oder kurz nach dem Neujahrstag 1225 in der Burg Roccasecca bei Aquino in der italienischen Provinz Frosinone das Licht der Welt erblickte –, hat das seinem Rang als einer der einflussreichsten theologischen Persönlichkeiten der katholischen Kirche keinen Abbruch getan. Das Denken des doctor angelicus, der bereits am 18. Juli 1323 heiliggesprochen und 1567 zum Kirchenlehrer erhoben wurde, besitzt aufgrund seiner intensiven Auseinandersetzung mit der dem lateinischen Abendland erst auf Umwegen wieder zugänglich gewordenen aristotelischen Philosophie nicht nur einen ausgesprochen innovativen Charakter, es zeichnet sich auch durch eine stupende Kenntnis der biblischen Quellen, der patristischen Traditionsbestände sowie der politischen und kirchlichen Umstände seiner Zeit aus. Der reflexive und synthetisierende Stil seines Theologietreibens, das sich ganz im Sinne der fides quaerens intellectum um ein vernünftiges Verständnis religiöser Überzeugungen und Praktiken bemüht, hebt sich wohltuend sowohl von den vielfältigen Übersteigerungen seines Denkens im späteren Thomismus als auch von der Geschichtsvergessenheit, Hermetik und Selbstreferentialität mancher Erscheinungsformen gegenwärtiger Universitätstheologie ab, die zunehmend Gefahr läuft, sich ihrer eigenen großen Tradition zu entfremden. Die einzigartige Wirkmächtigkeit der thomanischen Theologie – insbesondere seiner ursprünglich als Einführungswerk in das Theologiestudium konzipierten Summa theologiae – verdankt sich freilich neben ihrem inneren Reichtum und dem Bemühen um wissenschaftliche Objektivität auch bestimmten äußeren Umständen. Ohne die Selbstverpflichtung des Dominikanerordens auf die Lehre des Aquinaten auf den Generalkapiteln zu Mailand (1278), Paris (1286), Saragossa (1309) und Metz (1313) hätte sich weder eine frühe Thomistenschule gebildet, noch wäre es im Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert dazu gekommen, die Sentenzen des Petrus Lombardus durch die theologische Summe des Thomas in Köln, Paris, Salamanca und Löwen als maßgebliches Lehrbuch zu ersetzen, das von da an jahrhundertelang immer wieder aufs Neue von ganzen Theologengenerationen kommentiert worden ist. Auch die späteren lehramtlichen Versuche etwa Papst Leos XIII. in seiner Enzyklika Aeterni Patris (1879), das Werk des Thomas zur verpflichtenden Grundlage für die Theologie zu erklären, wären ohne diese einzigartige Wirkungsgeschichte, die auch zu vielfältigen Verformungen und Verflachungen ursprünglich thomanischer Gedanken geführt hat, kaum vorstellbar. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, Thomas bloß auf ein einziges seiner Werke festlegen zu wollen. Die in diesem Heft versammelten Beiträge versuchen daher, neben der Erinnerung an wichtige systematische Beiträge seines Denkens auch einige weniger bekannte Facetten seines umfangreichen literarischen Schaffens auszuleuchten.
Den thematischen Fächer eröffnet Andreas Speer mit einer breit angelegten bio-bibliographischen Verortung des Aquinaten und seiner Theologie: Vor dem Hintergrund der prägenden Entwicklungen des 13. Jahrhunderts – vom Wachstum der Städte über Universitätsgründungen und neue Aristotelesrezeption bis hin zur Herausbildung der Mendikantenorden – entsteht das Bild eines analytischen, an Wissenschaftlichkeitsstandards interessierten und hochgradig innovativen Denkers, dem gerade insofern eine «bleibende Neuheit» zugeschrieben werden kann, als er Vorbild und Inspirator ist für die zeitübergreifend aktuelle theologische Aufgabe einer Versöhnung von Glauben und Vernunft. Aber Thomas war nicht nur ein systematischer Theologe und Philosoph von herausragender Wirkmächtigkeit, er hat auch der Kommentierung und Auslegung biblischer Schriften einen hohen Stellenwert beigemessen und seine Theologie gesamthaft stark biblisch angelegt, wie Thomas Prügl in seinem Beitrag herausarbeitet. Im Blick auf die Methoden und Prinzipien der thomanischen Schriftauslegung tritt dabei eine spezifische Facette des zugleich systematischen wie auch geistlichen Denkens des Aquinaten zutage.
Dass Thomas von Aquins Denken nicht nur in formal-methodischer, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht bis in die Gegenwart hinein Aktualität besitzt, illustrieren exemplarisch die sich anschließenden systematisch-theologischen Beiträge. Thomas Marschler präsentiert in intensiver Dichte den bis in die gegenwärtige Theologie und Philosophie hinein ausstrahlenden Grundgedanken der thomanischen Anthropologie, wonach der Mensch eine hylemorph konstituierte Ganzheit aus Leib und Seele und die Seele dabei näherhin Form des Leibes ist. Der Beitrag vollzieht nicht nur diese anthropologische Überzeugung in ihren Grundzügen nach und stellt sie in ihre aktuelle Rezeption und Diskussion hinein, sondern er reflektiert auch kenntnisreich die Resonanzen, die sie in verschiedenen anderen theologischen Aussagen der Summa theologiae findet. Aber nicht nur der anima-forma-corporis-Gedanke, sondern auch die thomanische Naturrechtstheorie kann der gegenwärtigen systematischen Theologie weiterhin zu denken geben, wie Franz-Josef Bormanns ethische Grundsatzüberlegungen verdeutlichen. Auf der Basis einer Auseinandersetzung mit prinzipiellen Einwänden, die gegen den Naturrechtsgedanken ins Feld geführt wurden, reflektiert der Beitrag bleibend gültige Gedankenanstöße, die das Denken des Aquinaten gibt, wie auch Aktualisierungspotenziale im Bereich des gegenwärtigen moraltheologischen Diskurses. Gerhard Beestermöllers friedensethische Reflexionen zur Auslegung des Topos eines ‹gerechten Krieges› im thomanischen Œuvre schließlich wenden sich einer konkreten ethischen Problemstellung zu, die bis in die Gegenwart einen Strang des ethischen Diskurses beschäftigt. Der Beitrag stellt dabei eine Deutung zur Diskussion, wonach der gerechte Krieg gemäß Thomas von Aquin im Sinne einer «geistlich-weltlichen Gemeinschaftsaktion» und in der formierenden Ausrichtung auf die Liebe, als «Werk der Liebe» (officium caritatis) mithin, zu verstehen ist. Im Sinne tentativ weiterführender Überlegungen regt er zudem dazu an, einerseits bestimmte friedensethische Impulse des Aquinaten als bis ins 21. Jahrhundert hinein relevant und aktuell zu bewerten, sich andererseits aber gerade auch von der kontextuell bedingten Fremdheit der thomanischen Reflexionen zur Hinterfragung gegenwärtiger Selbstverständlichkeiten anregen zu lassen.
Schließlich wendet sich das Augenmerk des vorliegenden Heftes auch praktisch-theologischen und geistlichen Fragestellungen zu: Wenn Marianne Schlosser die thomanische Praxis und Theologie des Gebetes reflektiert, entfaltet sich dabei ein reiches Spektrum an geistlichen Haltungen und deren spirituell-theologischer Einordnung: die in der Bitte eingeschlossene Anerkenntnis des Gottseins Gottes; die im Gebet vollzogene Hingabe und Übereignung an Gott; der Aufstieg zu Gott; das kindliche Vertrauen zu Gott; die mitursächliche Aktivität auch, die nach Thomas im Bittgebet liegt, und nicht zuletzt die Frage nach der rechten Haltung und dem geforderten Maß von Andacht im Gebet. Zu diesen und weiteren Topoi einer Gebetstheologie bietet Thomas tiefe geistliche Einsichten, die mehr als deutlich illustrieren, dass er nicht nur ein systematischer, sondern auch ein spiritueller Theologe war. Der Beitrag von Christoph Kardinal Schönborn OP zeichnet das beeindruckende Bild einer weithin weniger bekannten, für ein Verständnis des Aquinaten aber höchst aussagekräftigen und bedeutenden Facette seiner Theologie: Thomas war nicht nur ein guter Didaktiker, wie die Prägnanz und Stringenz insbesondere der Summa theologiae dokumentiert, er hat auch eine theoretische Reflexion des Lehrens und Lernens vorgelegt, die beredtes Zeugnis der thomanischen Meisterschaft zur Synthese gibt. Jenseits vereinfachender Zuschreibungen und mit einem auch im 21. Jahrhundert noch beeindruckenden Maß an einfühlender Beobachtung werden Lehr-Lern-Prozesse als Abläufe reflektiert, in denen göttliches Wirken und abstraktive Erkenntnis sowie die Aktivität des lernenden Subjektes und die Impulse guter Lehre zu einer komplexen Gesamtheit verflochten sind. Und auch der Hymnendichter Thomas von Aquin kommt in den Blick, wenn Hanns-Gregor Nissing das Pange lingua betrachtet und es als eucharistische Christologie ausdeutet: Ein Hymnus präsentiert sich hier, in dem die thomanische Theologie des Wortes aufscheint – ein Lobpreis des ewigen, schöpferischen, fleischgewordenen Logos und des Wunders, das darin liegt, dass Jesus Christus sich im Sakrament dem Menschen vergegenwärtigt und ihn so mit der trinitarischen Persongemeinschaft selbst verbindet.
Der theologische Reichtum, der im Werk des Aquinaten vorliegt und den die Skizzen des Heftes nur andeuten, gewiss nicht ausloten können, hat eine Rezeptionsgeschichte erfahren, deren Intensität theologiegeschichtlich ihresgleichen sucht; nicht umsonst trägt Thomas von Aquin den Beinamen des doctor communis, des allgemeinen, universalen Lehrers. Der das Heft beschließende Beitrag von Bernhard Knorn SJ durchschreitet die Jahrhunderte und zeichnet von der Spätscholastik bis in die gegenwärtige Religionsphilosophie und Theologie hinein die wechselvollen Entwicklungslinien der Thomas-Rezeption nach. Am Ende steht damit nochmals die Frage nach der Aktualität des Aquinaten im 21. Jahrhundert. Vielleicht vermögen die im vorliegenden Heft versammelten Skizzen einige exemplarische Denkanstöße zur Beantwortung dieser Frage zu geben.