Benjamin Leven: Der deutsche Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hat kürzlich geäußert, in den USA bilde sich derzeit «eine historisch beispiellose Konzentration von technologischer, finanzieller und politischer Macht heraus». Eine «kleine unternehmerische Elite hat die Macht und den Willen, einen wesentlichen Teil der Spielregeln liberaler Demokratien neu zu bestimmen». Hat er recht?
Hans Maier: Ich meine schon, dass er recht hat – und ich finde seine Formulierungen sogar noch vorsichtig und zurückhaltend. Denn was uns heute fast jeden Tag aus Amerika erreicht, ist wahrhaftig «historisch beispiellos». Zehntausende von Staatsbeamten werden brüsk entlassen, ganze Behörden – so die für Entwicklung und Bildung – werden demontiert; Außenzölle gegen missliebige Partner werden rücksichtslos angehoben. Und dann die Ausfälle gegen Staaten wie Kanada, Mexiko, Panama, Dänemark, Grönland – es klingt geradezu napoleonisch!
Leven: Und dagegen regt sich kein Widerstand?
Maier: Woher soll er kommen? Der Kongress ist ohnmächtig – Repräsentantenhaus wie auch Senat sind in der Hand republikanischer Mehrheiten. In der Öffentlichkeit melden sich Trump-Kritiker bisher nur verhalten zu Wort. Es gibt kein großes Echo. Einzig die Gerichte haben eine Chance – und viele, die von den Betroffenen angerufen, wurden, sind tatsächlich aktiv geworden und haben dem Trump’schen Verordnungs-Marathon Widerstand entgegengesetzt. Aber der Ausgang ist ungewiss. Trumps Anwälte haben fast überall Berufung eingelegt. Und Elon Musk hat inzwischen sogar das Einspruchsrecht der Gerichte gegen «legitime Entscheidungen der Exekutive» infrage gestellt.
"Ich bin sicher, dass das Oberste Gericht – das ja in den USA die Stellung eines Verfassungsgerichts hat – auf die Dauer den Trump’schen Angriff auf die amerikanische Demokratie trotzen wird."
Leven: Aber bietet nicht die amerikanische Verfassung, eine der ältesten der Welt, einen hinreichenden Schutz?
Maier: Man möchte es wünschen und hoffen. Mit ihren Checks und Balances ist die amerikanische Verfassung ja sowohl gegen Machtgelüste der Präsidenten wie gegen demokratische Irrungen gewappnet. Ich bin sicher, dass das Oberste Gericht – das ja in den USA die Stellung eines Verfassungsgerichts hat – auf die Dauer den Trump’schen Angriff auf die amerikanische Demokratie trotzen wird. Doch bis das Wirkung zeigt, wird wohl noch einige Zeit vergehen – man wird viel Geduld brauchen, in den USA und außerhalb.
Der Aufstieg des Populismus
Leven: Überall in Europa beobachten wir den Aufstieg populistischer Parteien. Was unterscheidet diese Parteien von den klassischen Parteien der Nachkriegsära, und wie verändert deren Existenz die Demokratie?
Maier: Parteien dieser Art verstehen sich nicht als Teil (pars = Teil) des demokratischen Spektrums, sondern als Vorgriff auf ein (neues) Ganzes. Sie sind dort, wo sie erfolgreich sind, keineswegs bereit, sich beim Wechsel der Wählerstimmen von der Macht zurückzuziehen. In Deutschland haben wir das ja beispielhaft im Dritten Reich erlebt. Der Weimarer Parteienstaat verwandelte sich wie im Flug zu einem Einparteien-Staat. In der Diktatur kamen Parteien nur noch in der Einzahl vor.
"Man bewegt sich wieder zu den alten konservativen, liberalen, sozialistischen Mustern zurück, welche die christlichen Demokraten hinter sich gelassen hatten."
Leven: Nach Jahrzehnten der Dominanz ist in vielen europäischen Ländern die Christliche Demokratie geschwächt worden oder ganz verschwunden. Woran liegt das? Und wie schätzen Sie die Lage der Christlichen Demokratie in Deutschland ein?
Maier: Die Christliche Demokratie war nach 1944/45 in Europa der große «Aufreißer». Sie bestimmte die Richtung in der ersten Nachkriegszeit. Sie verhinderte zum Beispiel in Italien die Machtergreifung der Kommunisten, sie setzte in Frankreich mit Außenminister Robert Schuman erste europapolitische Akzente, sie unterfing und trug in Deutschland die Zuwendung zum Westen in der Adenauer-Ära. Inzwischen ist vieles verblasst und schwächer geworden. Die Dynamik des Anfangs scheint vorbei zu sein. Man bewegt sich wieder zu den alten konservativen, liberalen, sozialistischen Mustern zurück, welche die christlichen Demokraten hinter sich gelassen hatten. Wer weiß im heutigen Deutschland noch, dass «Union» ursprünglich ökumenisch gemeint war – als gemeinsames Handeln der lange getrennten Protestanten und Katholiken? Wer kennt noch die – meiner Generation ganz selbstverständliche – enge Verbindung von christlichem Ethos und politischer Praxis?
Krise und Chance
Leven: Gegenfrage: Könnte nicht das gegenwärtige Krisen-Szenario zu einer Neubesinnung führen? Wäre hier nicht Europa in besonderem Maß gefordert? Gegenüber einem schwankenden Amerika muss sich ja Europa auf seine eigenen Werte besinnen und darauf seine Selbstbehauptung stützen.
Maier: In der Tat. Wenn man wie ich am Ende eines langen Lebens Hoffnung und Optimismus nicht verloren hat, baut man natürlich auf die in Jahrhunderten bewährte Erneuerungskraft Europas. Sie hat uns Älteren schon unmittelbar nach 1945 Mut zu einem neuen Aufbruch gegeben. Das bringt der Anfang unseres Grundgesetzes in einer behutsamen und bescheidenen Weise zum Ausdruck mit den Worten: «Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen».
Leven: Die neue Ordnung, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, hat sich trotz aller Rückschläge offenkundig bewährt. Unsere zweite demokratische Republik ist stabiler, minder brüchig und kurzlebig als die erste. Was kann man daraus für die Gegenwart lernen? Wie müsste eine erneuerte demokratische Ordnung heute, angesichts der veränderten Weltlage, aussehen?
Maier: Ich nenne drei Stichworte: Wehrhaftigkeit, Allgemeinheit, Verantwortung. In Kürze: Die künftige Demokratie muss – europaweit – abwehrbereit sein, sie darf den Feinden der Freiheit keine Chance bieten. In diesem Sinn haben sich die Katholiken in Deutschland mit ihren Bischöfen wiederholt gegen radikale Parteibildungen ausgesprochen. Zweitens muss sie allgemein sein, sie muss sich an alle wenden, muss alle einschließen und vor Vereinzelung bewahren – in Analogie zur christlichen Botschaft, die sich ja von Anfang an betont «an alle» wendet. Drittens muss sie mit jedem Schritt bereit sein, Verantwortung zu übernehmen: Wie der Mensch in christlichen Zeiten über sein Leben Rechenschaft ablegen muss vor dem ewigen Richter, so wird auch der politische Bereich im Christentum zu einem Raum persönlicher Verantwortung, in dem kein Ausweichen möglich ist.
Kirche und Demokratie
Leven: Aber widerspricht dem nicht die Tatsache, dass die Katholische Kirche sich lange und heftig gegen die moderne Demokratie gewehrt hat?
Maier: Tatsächlich, das war so – in diesem Heft steht darüber viel zu lesen. Ich meine aber, dass dieser Widerstand im 20. Jahrhundert glücklicherweise überwunden wurde; präzise kann man dazu als Zeitpunkt die Verabschiedung des Dekrets zur Religionsfreiheit im Zweiten Vaticanum (1966) nennen. Zuvor schon hatte John Courtney Murray die päpstlichen Stellungnahmen gegen die moderne Demokratie relativiert: Sie galten dem jakobinischen Absolutismus der Französischen Revolution, den die Kirche lange Zeit einzig im Blick hatte, nicht der Demokratie schlechthin. Dass Kirche und Demokratie anderswo, in den angelsächsischen Ländern, friedlich zusammenleben und sich gegenseitig befruchten konnten, wurde von der Kirche erst im Lauf der Beratungen zur Religionsfreiheit entdeckt. Der entsprechende Dekretentwurf galt bezeichnenderweise als das «american schema»!
"Will die Kirche in der Gesellschaft präsent sein und bleiben, muss sie demokratische Wege gehen und sich demokratischer Mittel bedienen."
Leven: Die Kirche ist keine Demokratie, so wird immer wieder betont, sie enthalte aber demokratische Elemente. Wie demokratisch ist die Katholische Kirche, und wie demokratisch kann sie noch werden?
Maier: In der Tat: Die Kirche ist keine Demokratie. Aber sie lebt an vielen Orten in einer demokratischen Umwelt. Will sie in der Gesellschaft präsent sein und bleiben, muss sie demokratische Wege gehen und sich demokratischer Mittel bedienen. Dazu gehört die Anerkennung des für alle geltenden Rechts, dazu gehört die Rücksicht auf andere – dazu gehört auch ein wenig Zurückhaltung im Hinblick auf eigene Unvollkommenheit und Fehlbarkeit. «Die Kirche hält stand, trotz uns» (Henri de Lubac).