Wenn von Missbrauch im kirchlichen Zusammenhang die Rede ist, denkt man unmittelbar an sexuellen Missbrauch. Denn dieser ist, nach viel zu langer Zeit der Vertuschung und Verdrängung, inzwischen ein in der Öffentlichkeit geradezu beherrschendes Thema, das den Blick auf die Kirche wesentlich prägt. Schon deshalb muss es der Kirche darum zu tun sein, bisherige Verfehlungen und Versäumnisse zu bekennen, Schuldige zur Verantwortung zu ziehen und den Opfern Genugtuung zu verschaffen, soweit das im Nachhinein noch möglich ist.
Doch der sexuelle Missbrauch ist nur eine Facette eines viel umfangreicheren Komplexes von missbräuchlichem Umgang mit Menschen, die der Kirche und anderen christlichen Gemeinschaften nahestehen. Darauf machen zwei miteinander verbundene Publikationen aufmerksam, die sich dem sogenannten «Spirituellen Missbrauch» widmen: eine Sammlung von Berichten Betroffener und eine wissenschaftliche Auseinandersetzung damit, die in sechs Einzelbeiträgen zentrale Aspekte des spirituellen Missbrauchs analysiert. Herausgeberinnen sind die beiden Theologinnen Ute Leimgruber und Barbara Haslbeck, bei dem erstgenannten Band haben auch die Gemeindereferentin Regina Nagel und die Benediktinerin Philippa Rath als Herausgeberinnen mitgewirkt.
Was ist unter «spirituellem Missbrauch» zu verstehen? Gemeint ist damit jede Form des Verhaltens gegenüber einem anderen Menschen, das dessen spirituelle Selbstbestimmung untergräbt. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Verhalten eine Hierarchie voraussetzt, die Fremdbestimmung ermöglicht, und nur in solchen Zusammenhängen stattfindet, in denen es um spirituelle, um geistliche Erfahrungen geht. Das sind die Kirche im allgemeinen und Orden im speziellen sowie christliche Gemeinschaften unter dem Dach oder im Umfeld der Kirche. Warum gerade hier der missbräuchliche Zugriff auf den anderen relativ leicht ist und die seelischen Schäden sehr tief reichen, erklärt sich aus der speziellen Lage der Betroffenen.
Wer als gläubiger Mensch einer kirchlichen oder kirchennahen Gemeinschaft beitritt, wird Teil eines geschlossenen Systems. Die Brücken zum bisherigen Leben werden in der Regel abgebrochen, auf jeden Fall aber gelockert. Zugleich öffnet sich der Gläubige meist vorbehaltlos der spirituellen Erfahrung, die er sich vom Leben in der Gemeinschaft erhofft. Er ist also von Rückzugsmöglichkeiten abgeschlossen und gleichzeitig unendlich verletzbar. Dadurch liefert er sich an sein neues Umfeld aus und muss deshalb darauf vertrauen, dass seine Offenheit, Empfänglichkeit und Hingabebereitschaft nicht missbraucht werden. Idealiter ist das auch der Fall. Doch oft genug trifft die spirituell begründete freiwillige Aufgabe von Machtansprüchen auf einen menschlich-allzumenschlichen Machtwillen, der nur im Gewand des Glaubens auftritt, sich aber genauso gut unter anderen Vorzeichen ausleben könnte, nämlich dort, wo sich ein hierarchisches Gefälle ausnutzen lässt.
Für ihre Sammlung von zum Teil erschütternden Erfahrungsberichten über spirituellen Missbrauch haben die Herausgeberinnen den Titel «Selbstverlust und Gottentfremdung» gewählt. Denn das sind oftmals die Folgen, wenn man im Kloster oder in anderen kirchlichen Gemeinschaften jahre- oder sogar jahrzehntelang einer Führung ausgeliefert ist, die den gläubigen Menschen nicht als Individuum achtet, sondern ihn vollständig dem eigenen Willen unterwerfen will. Das kann dazu führen, dass sich die Betroffenen selbst entgleiten, aber auch das Vertrauen zu Gott verlieren, da doch alles in seinem Namen geschieht. Die Opfer des Missbrauchs stehen dann vor dem Nichts: Sie haben «in der Welt» keine Ansprechpartner mehr, haben alles Selbstvertrauen eingebüßt und finden nicht mehr zu dem Gott, dem sie ihr Leben doch hatten weihen wollen.
Mit welchen Mechanismen kann man Menschen in eine solch ausweglose Lage bringen? Die im Band zu Wort kommenden Opfer, allesamt Frauen, nennen die unterschiedlichsten Methoden. Meist sind es charismatische Führungspersönlichkeiten, die sich mit scheinbar unbegrenzter Zuwendungsbereitschaft, aber auch mit Strenge allmählich der Seele der ihnen Anvertrauten bemächtigen. Das geschieht, indem sie dem anderen immer wieder das Gefühl vermitteln, nicht fromm genug zu sein, seinen Eigenwillen gegen den Willen Gottes stellen zu wollen und auf diese Weise eine nicht abtragbare Schuld auf sich zu laden. Sie reglementieren das gesamte Leben bis ins Kleinste durch, untergraben also jede Selbstbestimmung, und schreiben sogar die Art des Betens oder Beichtens vor. Durch völlige Überlastung mit Aufträgen verhindern sie das Nachdenken, durch einen Wechsel von Zuwendung und Abstoßung rufen sie eine tiefgehende Verunsicherung hervor. In der Beichte oder in vertraulichen Gesprächen Offenbartes wird vor die Gemeinschaft getragen, bestimmte Kontakte werden untersagt, Berufswünsche konterkariert.
Viele der Opfer berichten, dass sie das Vertrauen in ihre eigene Wahrnehmung völlig verloren hätten, weil das, was sie wollten und taten, nie genügt habe und die Reaktionen der Führungsperson auch nie vorhersehbar gewesen wären. Tiefe Verzweiflung, massive psychosomatische Erkrankungen und Suizidgedanken werden in den Berichten immer wieder genannt. Eine der Betroffenen betete: «Gott, bitte lass mein Ich sterben, dass nur noch meine Hülle übrig bleibt und die Oberin darin hineinfüllen kann, was eine gute Ordensfrau ausmacht» (169). Sie sah also nur in der Selbstauslöschung einen Ausweg. Dass sie bereit war, sich rückhaltlos in die Hände der Oberin zu begeben, hängt mit einem weiteren Mechanismus der Kontrolle und Manipulation des Gläubigen zusammen: Die charismatische Persönlichkeit beansprucht für sich einen exklusiven Zugang zum Willen Gottes. Gott kann man nicht widersprechen. Das ist die ultimative Selbstimmunisierungs-Strategie für alle, die uneingeschränkte Macht über andere gewinnen wollen.
Besonders schmerzlich war für die Frauen, die Derartiges erlitten, dass die Hilferufe, die sie an die Verantwortlichen in der Kirche sandten, in der Regel unerhört blieben. Selbst wenn die Kirchenleitung über die Missstände informiert war, wurden diese in den geschilderten Fällen nicht beseitigt. Das lässt entweder wieder an der eigenen Wahrnehmung oder aber an der Institution zweifeln – bis hin zum Zweifel an einem Gott, der solches zulässt.
Der Band, der das Geschilderte wissenschaftlich reflektiert, trägt den Titel «Spirituellen Missbrauch verstehen». Das signalisiert die Bereitschaft der in ihm vertretenen Forscherinnen, auch das schwer Nachvollziehbare wieder in den Bereich des Verstehens zurückzuholen, ohne damit allerdings in irgendeiner Weise Einverständnis nahezulegen. Doch nur, wenn man die Wirkmechanismen verstanden hat, kann man zielführende Gegenmaßnahmen ergreifen, am besten präventiv und nicht erst, wenn der Missbrauch schon stattgefunden hat. Dazu will der Band Anstöße und Anregungen geben.
Analysiert werden sechs verschiedene Aspekte des spirituellen Missbrauchs: «spirituelle Vernachlässigung», also der Machtmissbrauch bei einer Person, die kein Bewusstsein ihres Rechts auf spirituelle Selbstbestimmung hat (Doris Reisinger), der Zusammenhang von Macht und Wissen bei der Täter-Opfer-Beziehung (Magdalena Hürten), die Rolle der Seelsorge (Ute Leimgruber), das Phänomen des «Emprise», also einer auf das Innere des Menschen zielenden Einflussnahme (Hannah Schulz), der Erwähltheitsglaube in charismatischen Bewegungen (Hildegund Keul) und schließlich der Sektencharakter bestimmter kirchlicher Gruppierungen (Barbara Haslbeck). Es geht um die «hidden patterns», die allgemeinen Muster des Missbrauchs, die hinter den konkreten Verhaltensweisen stehen.
So ergibt sich ein facettenreiches Bild, auf das hier nur einige Schlaglichter geworfen werden können: Beim Verstoß gegen die spirituelle Selbstbestimmung ergibt sich oft eine Täter-Opfer-Umkehr. Weil es sich um ein erwachsenes Opfer handelt, das sich freiwillig in das Abhängigkeitsverhältnis begeben hat, wird die Schuld bei ihm verortet – als hätte es den Beitritt in einen Orden oder eine andere Gemeinschaft mit der Absicht unternommen, sich auf manipulative Weise entmündigen zu lassen. Der Missbrauch von Wissensmacht kann sich darin äußern, dass man das Wissen des Opfers entwertet, ihm nicht glaubt, ihm das Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit raubt oder als Täter überlegenes Wissen für sich selbst in Anspruch nimmt. Bei der Seelsorge kommt es oft zu missbräuchlichen Beziehungen, wenn die hohe Verletzlichkeit des Gläubigen auf mangelnde Professionalität des Seelsorgers trifft und die Vermischung von seelsorgerischer Tätigkeit mit anderen, Hierarchie-begründenden Funktionen Abhängigkeiten potenziert. Emprise, die auf Fremdbestimmung hinauslaufende Einflussnahme, betrifft Denken und Fühlen des anderen und kann zu kindlicher Hilflosigkeit und Abhängigkeit führen. Neue Geistliche Gemeinschaften und charismatische Bewegungen, das machen die letzten beiden Beiträge deutlich, beziehen ihre manipulative Kraft aus einem Erwähltheitsglauben, der besondere Opferbereitschaft ihrer Mitglieder erfordert, und aus sektenartigen Strukturen, die sich in extremer innerer Kohäsion, Gehirnwäsche-artiger Beeinflussung und Seklusion der Gruppe nach außen niederschlagen.
2023 hat das Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, darauf weisen die Herausgeberinnen in ihrem Vorwort hin, einen Text zum «Missbrauch geistlicher Autorität» herausgegeben. In ihm wird beklagt, dass entsprechendes Fehlverhalten praktisch nie Eingang in die Personalakte der Täter findet. Das Phänomen des spirituellen Missbrauchs ist also als Problem erkannt und ebenso, dass bei fehlender Dokumentation auch keine Ahndung der Übergriffe erfolgen kann. Hier Abhilfe zu schaffen, wäre eine wichtige vertrauensbildende Maßnahme. Sie erhöhte die Glaubwürdigkeit der Institution Kirche.
In das Innere der Menschen hineinzublicken, die in ihren Reihen wichtige Ämter einnehmen, vermag auch die Kirche nicht. Doch sie kann diese Menschen an ihren Taten messen. Die Kirche noch einmal daran zu erinnern, dass sie bei aller Sorge um das Seelenheil von Tätern den Schutz der Opfer nicht vernachlässigen darf, ist deshalb ein wichtiger und richtiger Schritt. Den Herausgeberinnen der beiden hier empfohlenen Bände ist zu danken, dass sie diesen Schritt unternommen haben.