Inmitten von was weiß ichJoseph Ratzinger als Kronzeuge der neuen vatikanischen Wunderregeln

Wenn ein krass oder kurios wirkendes Ereignis von der Volksfrömmigkeit für übernatürlich gehalten wird, sagt der vatikanische Glaubenspräfekt Victor Manuel Fernández nicht etwa "Bitte weitergehen! Hier gibt es nichts zu sehen!". Sondern fragt nach den pastoralen Früchten, frei nach dem Motto: Egal, was es ist, Hauptsache, es hilft.

Krone des Bildes Unserer Lieben Frau von Fátima
Krone der Muttergottes von Fátima: Eingefügt ist eine Kugel, die Johannes Paul II. beim Attentatsversuch vom 13. Mai 1981 traf.© Centro Televisivo Vaticano/Wikimedia Commons, CC BY 3.0

Zu Pfingsten sind die neuen vatikanischen Wundernormen rechtswirksam geworden – der bürokratische Vorgang trägt die Überschrift "Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene". Das Wesentliche ist rasch erzählt: Wunder gibt es immer wieder, aber die Kirche lässt es im Blick auf sogenannte Privatoffenbarungen offen, was es mit dem Wunder-Charakter in concreto auf sich hat. Sie sagt, salopp formuliert, "no comment", wenn sie nach der "Übernatürlichkeit" wundersam scheinender Phänomene wie Marienerscheinungen, Christusvisionen oder tränenden Heiligenfiguren gefragt wird, sofern diese nicht von vornherein als Manipulation oder Firlefanz durchsichtig sind. Die Kirche, die mit ihrer Gottesthese ja von Kopf bis Fuß auf Wunder eingestellt ist, auf "Glaubensgewissheiten" von der Schöpfung bis zur öffentlichen Offenbarung – dieselbe Kirche zieht sich im Privatsektor der übernatürlichen Schau auf eine theologische Urteilsenthaltung zurück. "Gott ist gegenwärtig und handelt in unserer Geschichte", heißt es im ersten Satz der Wundernormen. Wie er das wo und wann tut, bleibt bewusst ungesagt.

In der unbefangen anthropomorph gefassten Begrifflichkeit des derzeitigen Präfekten des Glaubensdikasteriums, des Papstvertrauten Víctor Manuel Fernández, klingt da so: Zu erwarten sei, egal was passiert, keine offizielle kirchliche Erklärung "über die Übernatürlichkeit des zu beurteilenden Phänomens, das heißt über die Möglichkeit, mit moralischer Gewissheit zu bejahen, dass (das jeweilige Phänomen) auf eine Entscheidung Gottes zurückgeht, der es direkt gewollt hat". Trotzdem sagt Fernández, wenn ein krass oder auch nur kurios wirkendes Ereignis im Ruch des Übernatürlichen steht, nicht etwa "Bitte weitergehen! Hier gibt es nichts zu sehen!". Sondern der Präfekt begrüßt, während er die behauptete metaphysische Herkunft des fraglichen Ereignisses auf sich beruhen lässt, doch dessen mögliche "pastorale Früchte", frei nach dem Motto: Egal, was es ist, Hauptsache, es hilft!

Der pastorale Mehrwert ist also das, was in den Blick genommen wird, statt auf dem unentscheidbaren Nennwert einer Wunderbehauptung herumzureiten.

Fernández hat auch hier eine jesuitisch inspirierte Sprachregelung gefunden. Sie ist ganz einfach, nachgerade schlicht und lautet: Man sage "inmitten von" statt "mittels". Nicht mittels dieses und jenes Ereignisses teilt der Heilige Geist seine Gaben aus (ebendies wissen wir nicht, die konkrete Ereignisqualität – sei sie göttlicher oder psychologischer Herkunft – lassen wir offen). Sondern inmitten von (was weiß ich) – nämlich von diesen, nicht näher bestimmbaren Ereignissen. Inmitten von denen stellen sich geistliche Früchte ein (die Leute wallfahren, beten und beichten zum Beispiel und verfolgen nicht etwa antichristliche Anliegen). Der pastorale Mehrwert ist also das, was in den Blick genommen wird, statt auf dem unentscheidbaren Nennwert einer Wunderbehauptung herumzureiten.

So sagt Fernandez über seine Wortschöpfung in der Präsentation des Dokuments: "Der Ausdruck 'inmitten von', der in den neuen Normen verwendet wird, hilft zu verstehen, dass man, auch wenn man keine Erklärung über die Übernatürlichkeit des Ereignisses selbst abgibt, dennoch die Zeichen eines übernatürlichen Wirkens des Heiligen Geistes im Kontext des Geschehens klar anerkennt." Man glaubt an den Kontext (von ist nicht so wichtig). In Fußnote 18 der Wundernormen wird das wie folgt präzisiert: "Der Ausdruck 'inmitten von' bedeutet nicht 'mittels' oder 'durch', sondern weist darauf hin, dass der Heilige Geist in einem bestimmten Kontext, der nicht unbedingt übernatürlichen Ursprungs ist, Gutes wirkt." Nun ist, nebenbei bemerkt, ein solchermaßen erkaufter Primat der Pastoral schon aus systematischen Gründen theologisch angreifbar: Da Gott nach dogmatischer Schöpfungslehre bei allem Geschaffenen mitspielt, auf die ein oder andere Weise, lassen sich schwerlich Kontexte herauspräparieren, die als bloße Natur, als natura pura ausweisbar wären.

Joseph Ratzinger wird für die Nihil obstat-Figur bei der Beurteilung mutmaßlich übernatürlicher Phänomene von Fernández gleichsam als Kronzeuge in Anspruch genommen.

In der Sache geht es darum, eine Approbation der "Übernatürlichkeit" durch ein normativ niedrigschwelliges "Nihil obstat" zu ersetzen, das ein positives pastorales Wirken erlaubt: Nichts spricht dagegen (nihil obstat), inmitten "dieser Ereignisse" (hier schwingt ein beinahe obskurer Unterton mit) geistliche Früchte geltend zu machen und in diesem Sinne dem fraglichen Phänomen den kirchlichen Segen zu geben, jedenfalls bis auf Weiteres. An dieser Stelle kommt Joseph Ratzinger ins Spiel, der für die Nihil obstat-Figur bei der Beurteilung mutmaßlich übernatürlicher Phänomene von Fernández gleichsam als Kronzeuge in Anspruch genommen wird. Die neuen Wundernormen kommen an mehreren Stellen auf Ratzinger als Entzauberer zu sprechen, ob in seiner Funktion als legendärer Vorgänger von Fernández im Amt des Glaubenspräfekten oder als Papst Benedikt XVI. In seinem Schreiben "Verbum domini" (2010) heißt es: "Die kirchliche Approbation einer Privatoffenbarung zeigt im Wesentlichen, dass die entsprechende Botschaft nichts enthält, was dem Glauben und den guten Sitten entgegensteht; es ist erlaubt, sie zu veröffentlichen, und den Gläubigen ist es gestattet, ihr in kluger Weise ihre Zustimmung zu schenken."

Kann sein, kann auch nicht sein

Gestattet, nicht geboten. Als Kardinal Ratzinger im Auftrag von Papst Johannes Paul II. am 26. Juni 2000 das sogenannte dritte Geheimnis der Marienbotschaft von Fátima (1917) veröffentlichte, welche auch von der Ermordung eines Papstes kündet, legte der damalige Glaubenspräfekt Wert auf die Feststellung, er habe dazu nur den "Versuch einer Interpretation" zu bieten, nicht etwa eine "offizielle kirchliche Interpretation dieser Visionen"; eine solche gäbe es nicht. Um sodann das unentwirrbare Ineinander von psychologischer Natur und göttlicher Übernatur anhand von Johannes Paul II. selbst zu beschreiben: "Musste der Heilige Vater, als er sich nach dem Attentat vom 13. Mai 1981 (dem Gedenktag der Muttergottes von Fátima, d. Red.) den Text des dritten Geheimnisses vorlegen ließ, darin nicht sein eigenes Geschick erkennen?" Die rhetorische Frage ist auch als Entlarvungsrhetorik lesbar: Musste er nicht dieser Suggestion erliegen?

Johannes Paul II. sei damals, so Ratzinger in seinem von Fernández aufgerufenen Fátima-Kommentar, sehr nahe an der Grenze des Todes gewesen und habe selbst am 13. Mai 1994 seine Rettung wie folgt gedeutet: "Es war eine mütterliche Hand, die die Flugbahn der Kugel leitete und es dem Papst, der mit dem Tode rang, erlaubte, an der Schwelle des Todes stehenzubleiben." Selbst diese päpstliche Selbstdeutung der lebensrettenden Erfahrung ist demnach keine offizielle kirchliche Interpretation. Eine solche kann immer nur lauten: kann sein, kann aber auch nicht sein. Das Wunder liegt im Auge des Betrachters, dem es privat offenbart wurde.

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