Neulich schlug bei einer Freundin der Blitz im Garten ein. Ihr Hund erschreckte sich zu Tode und ging sofort in den Totstellreflex – einen der instinktiven Reflextypen bei Gefahr neben dem Flucht- und dem Abwehrreflex. Der Hund legte sich flach auf den Flurboden in die Nähe der Wohnungstüre, ein Ort, den er stets als sicher und beruhigend empfindet. Dort blieb er bis zum nächsten Morgen liegen, erst dann traute er sich wieder unter Leute.
Das Tier stellt sich tot, entspricht damit seinem festgelegten, es schützenden Instinkt. Es antwortet instinktiv, geht insoweit auf Nummer sicher. Der Mensch bittet die höheren Wesen um Schutz, stellt sich unter einen Baum oder baut einen Blitzableiter. Er antwortet kulturell, folgt insoweit richtigen oder falschen Fährten. Es handelt sich um eine alte anthropologische Einsicht von stets neuer Faszination: Seiner mangelnden Instinktausstattung wegen ist der Mensch kompensatorisch unterwegs, er gleicht organische Mängel bei der Bewältigung seiner Umwelt durch alle möglichen Kunstgriffe aus, ist so gesehen auf Ausgleich bedacht, instrumentell und ideell. Seine Geschäftsgrundlage für gelingendes Leben ist die Kompensation.
"Wer Sorgen hat, hat auch Likör"
Schon für Cicero ist der Weise tatsächlich der ausgeglichene Mensch (und durchaus nicht, wie wir heute sagen würden, der entspannte Mensch) – also jemand, der nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen ist, deswegen nicht, weil er "Schicksalsschläge, Übel, Mängel zu kompensieren vermag, indem er – zum Ausgleich – Bonitäten mobilisiert", wie Odo Marquard die Kompensationstüchtigkeit des Menschen (homo compensator) auf den Begriff bringt. Der Volks- und Dichtermund hat für die kompensatorischen Einsichten Wendungen hervorgebracht wie "Vom Guten des Schlechten", "Glück im Unglück", "Wo sich eine Tür schließt, öffnet sich die nächste", "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch" (Hölderlin), "Wer Sorgen hat, hat auch Likör" (Busch).
Die christliche Orthodoxie eines Vorsehungsglaubens, einer möglichen Intervention Gottes bis in die Materie hinein, gehört zu dem "skandalösen Realismus", ohne den man dem biblischen Gott "das Gottsein absprechen" würde (Joseph Ratzinger).
Warum ist der hier kurz angerissene Kompensationszusammenhang wichtig, wenn es um die Frage geht, ob und wie Gott in der Geschichte handelt? Wir kommen darauf zurück. Ob es eine Vorsehung gibt, die in den welthistorischen Lauf der Dinge wie auch in ein einzelnes Menschenleben eingreift, das wird je nach Gottesvorstellung und ihrer politischen Indienstnahme unterschiedlich beantwortet. Auch die altehrwürdige Astrologie, welche – populär wie selten – heute unter dem Label Pseudowissenschaft abgebucht wird, ist hier um Antworten nicht verlegen und weiß das individuelle Leben im Zeichen der zwölf Sternzeichen zu bestimmen.
Eine Spiritualität wirft das eine wie das andere ab. Die christliche Orthodoxie eines Vorsehungsglaubens, einer möglichen Intervention Gottes bis in die Materie hinein, gehört zu dem "skandalösen Realismus", ohne den man dem biblischen Gott "das Gottsein absprechen" würde (Joseph Ratzinger). Man würde, anders gesagt, mit solcher Negierung nur dies bewirken: Gott in einer deistischen Wolke der Welt entrückt zu haben. Deshalb auch das Beharren im kirchlichen Credo auf der jungfräulichen Empfängnis Jesu und dem leiblichen Charakter seiner Auferstehung, um die Geschichtsmächtigkeit dieses Gottes zu unterstreichen.
Die Hypothek der Theodizee
Umso belastender freilich auch die theologische Hypothek der Theodizeefrage, der Frage nach Gott angesichts des Leids, welche die biblische Annahme einer allwissenden und allmächtigen Vorsehung durch die Zeiten hinweg aufwirft, in der Frage Jesu selbst grundgelegt: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mt 27,46, Mk 15,34). Es war Gottfried-Wilhelm Leibniz, der die Theodizee als philosophische Disziplin erfand, im Jahre 1710 publizistisch durchsetzte und mit ihr den modernen Kompensationsbegriff freisetzte. Demnach sei Gott entschuldigt, so zieht Marquard die Linie von Leibniz aus, weil er Übel nicht nur zulasse, "sondern auch (gemeint ist: zureichend) kompensiert". Womit nur umso klarer wird: Die Ökonomie der göttlichen Kompensationsgeschäfte ist nicht von der Art, dass sie zumutbare Einblicke in die Vorsehung erlauben würde. Da begnügen sich Anhänger des Vorsehungsglaubens doch besser mit der Rede von Gottes unerforschlichem Ratschluss, statt diesen angenommenen Ratschluss umstandslos entziffern zu wollen.
Für die Theodizeefrage scheint theologische Urteilsenthaltung angemessener als mit selbstbewussten Erklärungsversuchen mehr Fragen als Antworten hervorzubringen. In diesem Sinne ist wohl auch Christoph Kardinal Schönborn zu verstehen, wenn er seine Neupriester warnt: "Bitte, keine frommen Sprüche!".
Könnte eine solche Entzifferung im Blick auf das menschliche Leid nicht auch göttlichen Sarkasmus nahelegen? Für die Theodizeefrage scheint theologische Urteilsenthaltung angemessener als mit selbstbewussten Erklärungsversuchen mehr Fragen als Antworten hervorzubringen. In diesem Sinne ist wohl auch Christoph Kardinal Schönborn zu verstehen, wenn er seine Neupriester warnt: "Bitte, keine frommen Sprüche!". Gottvertrauen ist demnach kein Imperativ, mit dem sich jede Leiderfahrung einfach erledigen lässt. Vorsehungsglaube, so versteht man den Kardinal, bedarf einer geerdeten Rede, die nicht die irdischen Realitäten überspringt, sondern in sie eingebettet bleibt, soll übernatürliche Kompensation gelingen.
Religionspsychologisch erweist sich der Kompensationsbegriff tatsächlich als zentral. Man hebt demnach das Unerledigte an geschichtlichen und biografischen Erfahrungen in den Glauben hinein auf. Das gehorcht keiner verallgemeinerbaren Notwendigkeit, ist komplett in mein (kulturelles, existenzielles) Belieben gestellt. Not lehrt den einen beten, den anderen nicht. Es besteht tatsächlich keine Möglichkeit, eine Intervention Gottes anhand von Belegen zu objektivieren in dem Sinne, dass es sich hier um für alle verbindliche Befunde handeln würde. Das kann nach gläubigem Selbstverständnis aber auch gar nicht der Anspruch sein. Dem Zeugnis auf den Votivtäfelchen in Wallfahrtskapellen "Danke, Maria! Gott hat geholfen!" geht immer schon ein Glaubensakt voraus. Derartige Zeugnisse wie die Bittgebete, die ihnen vorangehen, sind selbst Ausdruck des Glaubens. Sie bekennen, von Gott wie vom Blitz getroffen worden zu sein. Anders als in solcher Glaubensgewissheit sind die Täfelchen gar nicht formulierbar.
Glaubend leuchten die Gehalte des Glaubens ein, keine rational verantwortbare Theologie kommt ohne diesen Sprung aus.
Was, wenn es also so aussieht, als habe sich ein Bittgebet erfüllt? Was, wenn es vergebens scheint? Was sagt das eine oder das andere über Sein oder Nichtsein der Vorsehung aus? Für den Rang der gläubigen Herangehensweise ist derlei Wirkungsforschung tatsächlich unerheblich, so oder so. In gläubiger Perspektive laufen die Gebete bei Gott zusammen, und dies nicht entlang von immanenten Aufweisen wie zielführend/nicht zielführend. Zwar ist die Rechtfertigung der Vorsehung auf die Ratio als Widerlager angewiesen, bleibt aber erkenntnismäßig durch den Glauben selbst bestimmt. Nur der rationalistische Logiker wird hier einen Zirkelschluss vorhalten wollen. In der Logik des Glaubens liegt der Rationalist neben der Sache, die er zu beurteilen beansprucht. Den Plausibilisierungsstrategien sind in puncto Vorsehung tatsächlich enge Grenzen gesetzt. Glaubend leuchten die Gehalte des Glaubens ein, keine rational verantwortbare Theologie kommt ohne diesen Sprung aus.
Ausgleichsbewegung in eine himmlische Ordnung hinein
Ein Sprung, der wiederum "eine besondere erkenntnistheoretische Qualität" aufweist, wie Wolfgang Beinert in der neuen "Herder Korrespondenz" im Blick auf den Geltungsanspruch "übernatürlicher Begebnisse" in Lourdes, Fatima und anderswo erklärt. Gefühlsmäßige Ergriffenheit, eine Inbrunst der Innerlichkeit ist insoweit kein epistemisches, also erkenntnistheoretisches Kriterium für die Echtheit der Glaubenserfahrung. Fideistische Anwandlungen sind ja stets nahe am frommen Spruch. Im Gefühlskult äußern sich tatsächlich auch Aberglaube (wie abweichender Glaube von der religiösen Autorität genannt wird), psychophysische Symptome und Geschäftemacherei. Dogmatik im katholischen Verständnis ist demgegenüber immer auch eine Art Prothesenlehre des Glaubens, der sich an Formeln anlehnt, ohne in ihnen aufzugehen. Solche Prothetik ist zentral für ein Glaubensbewusstsein, das seinen übernatürlichen Kern nicht aus der Bedürfnisstruktur des menschlichen Unterbewusstseins herleiten möchte (wie es im Eifer, diesen übernatürlichen Kern plausibilisieren zu wollen, gerne geschieht). Die eigenen Anteile, die der Mensch an seinem Glauben hat, lassen sich nicht durch psychologische Stereotype abdecken.
So ordnet sich der Vorsehungsglaube ins Spektrum der menschlichen Kompensationen ein – epistemisch voraussetzungsreich auch noch im Sprung. Ein Sprung, der nicht instinktgebunden ist, sondern Ausgleichsbewegung in eine andere, in eine himmlische Ordnung hinein. Im gläubigen Selbstverständnis ist das ein open mind-Ansatz. Denn vielleicht war es, sagen wir, der Blitzableiter, der den Blitz aus heiterem Himmel überleben ließ. Vielleicht steht der Blitzableiter aber auch in weiteren, tatsächlich unerforschlichen Zusammenhängen.