Wenn ich bete, bete ich leise. Es ist der Versuch eines Dialogs im Inneren. Oder auch ein Verweilen in der Stille. Persönlicher Glaube, den spricht man nicht laut aus, außer vielleicht, wenn einen die Kinder mal fragen. Und interessiert das überhaupt? Beim Teilen innerer Gebetserfahrungen in größerer Runde habe ich mich schon so oft fremdgeschämt, dass ich mir geschworen habe: Das machst Du nie.
Und jetzt tue ich es doch: auch, weil das Verständnis immer mehr schwindet und stattdessen die Ressentiments zunehmen, gerade gegen die angeblich konservativen "Frommen", die gern mit bigotten Zuschreibungen verunglimpft werden.
Wer mich jetzt dazu animiert? Der Papst höchstpersönlich. Was für eine Überraschung ist seine neue Enzyklika "Dilexit nos". Päpste veröffentlichen bekanntlich immer wieder solche Schreiben. Franziskus hat das jetzt zum vierten Mal getan. Am bekanntesten war bisher wohl sein Text "Laudato si", gewissermaßen ein Plädoyer für Naturschutz. Fast schon anschlussfähig für eine Generation zwischen Fridays-for-Future und Klimaklebern.
Was jetzt kam, ist überraschend anders. Unpolitisch, aber nur auf den ersten Blick. Es ist Franziskus' geistliches Vermächtnis, sagen manche. Der Papst schreibt über eben genau das eigentlich Private, nämlich persönliche Spiritualität. Über die Verehrung des "Herzen Jesu". Versteht das heute noch einer?
Mich hat es getroffen!
Irgendwie verfolgt mich dieses Thema. Zufällig bin ich in eine Stadt gezogen, die mich der Pfarrei der "Herz Jesu Kirche" zuordnet. Auch meine Straßenbahnhaltestelle heißt so. Und fragt man hier nach dem Weg zum Bäcker oder zur Bank, ist die Antwort immer: "Bis Herz-Jesu dann sind Sie an der Hauptstraße". "Herz-Jesu" ist hier ein ganz selbstverständlicher Alltagsbegriff. Das lässt sich natürlich auch in vielen anderen Städten beobachten: da gibt es das "Herz-Jesu-Spital" oder die "Herz-Jesu-Schule", das "Herz-Jesu-Heim" und so weiter. Die Spielart katholischer Spiritualität war besonders im 19. Jahrhundert sehr populär und hat so Spuren bis heute hinterlassen. Doch seien wir ehrlich: Im Alltag der meisten Menschen spielt das "Herz Jesu" sonst kaum noch eine Rolle. Anders bei mir.
Das Verrückte ist: schon als Kind hat mich das irgendwie fasziniert. In irgendeiner einsamen Dorfkirche im tiefsten Allgäu hatte ich bei einer Familienwanderung einmal zufällig eines dieser Herz-Jesu-Bilder gesehen. Nicht das typische, kitschige aus dem 19. Jahrhundert mit dem süßlichen Jesus, der auf sein strahlendes Herz zeigt, sondern eine ältere Variante. Dieser Ausschnitt eines Gemäldes hat mir so gefallen, dass ich einen Abzug mit nach Hause nahm und es neben meinem Bett aufgehängt habe. Es ist definitiv das einzige Teil aus meinem Kinderzimmer, das ich heute noch hängen habe, Infantilismus liegt mir fern. Jedenfalls hat das Bild seinen Platz wieder im Schlafzimmer gefunden, in einer Gebetsecke, intim, sodass Besucher es nicht sehen. Mir war meine Herz-Jesu-Frömmigkeit immer ein bisschen peinlich. Weil ich wusste: Das hängt so sonst nur bei Omas oder vielleicht beim Pfarrer. Die meisten finden es kitschig.
Mein kindliches Verständnis sagte mir damals aber: Dieser Jesus gefällt mir viel besser als der Tote am Kreuz. Das flammende Herz und der gütige Blick machten mir irgendwie klar, dass hier die liebevolle Seite Gottes eingefangen ist und mich so tröstlich anschaut. Später fing ich an, in mein Beten den Wunsch zu integrieren, dass ich von dieser Liebe Jesu, die ich in diesem Bild spürte, selbst erfüllt werde.
Ein Gott, der Mensch wird, ein Gesicht bekommt, zu den Menschen spricht, ja Tod und Schmerzen durchleidet, um uns in allem nahe zu sein. Ist das nicht unglaublich?
Im Laufe der Zeit kamen immer mehr theologische Inhalte dazu, und das Bild wurde mir immer noch wertvoller. Ein Gott, der Mensch wird, ein Gesicht bekommt, zu den Menschen spricht, ja Tod und Schmerzen durchleidet, um uns in allem nahe zu sein. Ist das nicht unglaublich? Wenn Kunst Unsichtbares sichtbar macht, dann habe ich im Herz-Jesu-Bild ein Gefühl wiedererkannt. Nämlich wie dieser Gott als Jesus Christus die Menschen liebt. Wer in seinem Leben schon mal Gottesliebe gespürt hat, der hatte Glück oder Gnade, wie man es auch nennt. Diese mitunter lebensverändernde Erfahrung macht jedenfalls immun gegen vieles. Dieser innere Schatz ist eine Frömmigkeit, die trägt. Genau dieses Gefühl löst bei mir das Bild des Herzens Jesu aus. Ich finde es dann auch nicht schräg, in dafür ausformulierten Litaneien das "Herz Jesu" um Erbarmen zu bitten. Es ergibt für mich Sinn, einen Gott, der Mensch wurde, zu bitten, dass er uns sein Herz zuwendet, mit dem er uns gerade durch Schmerz und Leid hindurch liebt. Und auch darum zu bitten, unser Herz seinem ähnlicher zu machen, um in der Kraft dieser Liebe zu sein und daraus zu handeln. Mir hilft das, mich zu verbinden.
Bin ich von gestern?
Auch beim Arbeiten. Wieder über Zufall hat eine große Herz-Jesu-Statue den Weg auf meinen Schreibtisch gefunden. Diesmal tatsächlich die Kitsch-Variante aus dem 19. Jahrhundert, ein Erbstück. Die wollte damals aus der Verwandtschaft niemand haben. Vermutlich wäre sie beim Trödler oder im Container gelandet. Dass die jemand mitnimmt, konnte sich keiner vorstellen. Was mich in meiner Vorstellung bestärkte: Ok, du bist ein Sonderling, lieber heimlich einsacken, aufstellen und nicht mehr darüber sprechen. Vielleicht fühlte ich mich auch ein kleines bisschen als von gestern.
Oft wird diese Facette christlicher Spiritualität ja auch missverstanden. Darauf reagiert der Papst jetzt in seiner Enzyklika. Er schreibt: Die Herz-Jesu-Verehrung ist "nicht ein von der Person Jesu losgelöster Kult um ein Organ. Das, was wir betrachten und anbeten, ist der ganze Jesus Christus (...) Deshalb sollte niemand denken, dass uns diese Andachtsform von Jesus Christus und seiner Liebe trennen oder ablenken kann. Sie führt uns unmittelbar und direkt zu ihm und zu ihm allein." Das fühle ich. Und er schreibt auch: "Die Welt kann sich verändern, indem sie im Herzen beginnt". "In der Zeit der künstlichen Intelligenz dürfen wir nicht vergessen, dass wir Poesie und Liebe brauchen, um das Menschliche zu retten".
Verschämt verstecken muss ich meine Frömmigkeit nach solchen Sätzen nicht mehr. Oder ist Franziskus einfach genauso von gestern wie ich?