BlutrittRettet die Volksfrömmigkeit!

Die größte Reiterprozession Europas findet in Weingarten statt. Wer gesehen hat, was diese Veranstaltung den Menschen bedeutet, der kann nur bedauern, dass die Volksfrömmigkeit andernorts zu verschwinden droht.

Alina Oehler
© Carsten Schütz

Es gibt hierzulande eine Kirche, die nennt so mancher "Deutschlands Petersdom". Die Ausmaße sind tatsächlich die gleichen, allerdings im halben Maßstab. Es ist die Basilika St. Martin in Weingarten. Für die Oberschwaben ist das ein ganz besonderer Ort. Jedes Jahr findet dort nach Christi Himmelfahrt die größte Reiterprozession Europas statt. Fast 2000 Reiter in Frack und Zylinder umrunden und durchqueren gemeinsam mit zahlreichen Priestern die Stadt etwa vier Stunden lang. Sie begleiten eine besondere Reliquie, Erde vermengt mit dem Blut von Jesus Christus, von der Echtheit ist man hier überzeugt. Der römische Hauptmann Longinus soll es selbst aufgesammelt haben, nachdem er Jesus mit seiner Lanze in die Seite stach und es auf den Boden tropfte. Über eine Frau des in Weingarten ansässigen Adelsgeschlechts der Welfen kam der religiöse Schatz von unermessbarem Wert dann 1094 nach Oberschwaben.

Die Verehrung rund um das "kostbare Blut" dauert also bereits über 900 Jahre an. Einen Höhepunkt verzeichnete man 1753 mit mehr als 7000 "Blutreitern". Tatsächlich hat sich seit damals nicht viel verändert und wenn die Reiter mit Musikkapellen in der Stadt oder den Rosenkranz betend über die Fluren ziehen, säumen tausende Menschen die Wege.

Ich bin in dieser Region aufgewachsen. Nahezu jede Stadt hat hier eine eigene "Blutreitergruppe". Der "Blutritt" gehört zum Leben dazu. Viele Jahre konnte ich ihn nicht besuchen, dieses Jahr wollte ich ihn meinen Kindern zeigen. Einmal stehen wir an einem Feldweg, später wechseln wir in die Stadt.

Die rosenkranzbetenden Reiter halten immer wieder an. Bei Stationsaltären auf dem Weg steigt der Priester mit der Reliquie vom Pferd ab und erteilt den Segen, er bittet um "Bewahrung vor Unheil für Mensch, Tier und Feldfrucht, vor Blitz, Hagel und Ungewitter". Ein gestandener Mann erzählt später einer Journalistin, dass er beim Reiten "im Gebet an die Familie daheim" denke und fängt dabei fast zu weinen an. Ein anderer, junger Blutreiter sagt ins Mikrofon: "Das ist ein super Erlebnis. Also Führerschein, Abi … das hat alles nicht so viel bedeutet wie das".

Wahrscheinlich zeigen diese beiden Aussagen gut die Polarität – kommen manche nur aus Freude am Spektakel oder tatsächlich aus spiritueller Sehnsucht?

Von den Menschen, die die Feldwege säumen, sind viele tatsächlich ins Gebet versunken. In der Stadt dominieren die Musikkapellen. Eine junge Musikantin in Tracht steht hinter uns. Sie beschäftigt nicht der Rosenkranz, sondern die Frage ihrer Kollegin: "Weiß oder Rosé?" Die Getränkewagen sind gut besucht. Trotzdem stehen die beiden am Zaun. Eilig kommt die Freundin mit den Getränken zurück. "S’Blut isch noid vorbei, koin Schtress", wird sie beruhigt. Den Reiter mit der Blutreliquie zu sehen, darauf fiebern die Zuschauer hier auch hin.

Sicher ist es auch das Spektakel, das die Menschen anzieht. Aber die Einheimischen vertrauen hier schon auch auf den besonderen Segen, der von dieser Reliquie ausgeht.

Auf einem Balkon steht die Bildungs- und Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). Sie vertritt die Bundesregierung und zeigt sich danach beeindruckt von der "schieren Größe und dem Engagement der Ehrenämter". Ein Teilnehmer erzählt mir, es wären sogar gern noch mehr Reiter dabei, nur seien nicht mehr Pferde verfügbar.

Sicher ist es auch das Spektakel, das die Menschen anzieht. Aber die Einheimischen vertrauen hier schon auch auf den besonderen Segen, der von dieser Reliquie ausgeht. Beim Pontifikalamt mit Bischof Ivo Muser aus Südtirol ist die Basilika bis auf den letzten Platz besetzt. Die Oberschwaben verehren ihren Schatz.

Dabei ist das, die einfache Volksfrömmigkeit, etwas, das zunehmend verloren zu gehen scheint. In Augsburg beispielsweise schließt in diesem Jahr der letzte Devotionalienladen. Die bisherige Inhaberin sagt: "Statt der Heiligenfigur schenkt man heute einen Lebensbaum." An anderen Orten lässt sich Ähnliches beobachten.

Aberglauben?

Ich finde das traurig, weil eine gesunde Frömmigkeit so viel schenken kann. Besonders die ältere Generation scheint diese Kraftquelle noch zu kennen und zu nutzen. Ich habe in den letzten Jahren immer häufiger den Nachlass entfernter Großonkel oder Tanten sortiert. Bei allen habe ich irgendeine Form von Andachtsgegenständen gefunden, selbstverständlich Rosenkränze, aber auch Heiligenfiguren oder Andachtsbücher. Sie waren keine Zierde, sondern teils mit starken Gebrauchsspuren versehen. Sie haben sie mit durchs Leben getragen, Beistand geschenkt – übrigens waren sie gerade auch beim Sterben wichtig.

Man kann all das natürlich als "Aberglauben" kritisieren. Das wurde dem Blutritt in Weingarten im 19. Jahrhundert tatsächlich auch vorgeworfen. Die Blutreiter haben trotzdem weitergemacht. Heute ist kein Ende der Tradition in Sicht. An Teilnehmern wird es nicht fehlen, die Menschen spüren, dass das gemeinsame Beten und das Verehren der Reliquie ihnen und der Region guttut.

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