Für Albert Camus waren Journalisten "Historiker des Augenblicks", die in der Tagesberichterstattung auch mal übertreiben. Übertrieben war aber es wohl nicht, den Moment "historisch" zu nennen, als Friedrich Merz erstmals in Kauf nahm, auch mit Stimmen der AfD zum Erfolg zu kommen. Rechtspopulisten, die sich im Deutschen Bundestag in den Armen liegen – diese Bilder sind schwer zu fassen, die Empörung darüber hat Hunderttausende auf die Straßen getrieben.
Wenn ein Thema derart die gesamte Nation umtreibt, hat fast jeder etwas dazu zu sagen. Die Nachrichtenauswahl ist da nicht immer leicht. Dass es ausgerechnet die gemeinsame Stellungnahme der Kirchen in die Top-Meldungen geschafft hat, hat mich ehrlich gesagt überrascht. Als Journalistin habe ich in verschiedenen Redaktionen viele Pressemitteilungen und Statements kirchlicher Organisationen gesehen, die oft in kleinen Meldungen enden. Dass hier ein Kirchenpapier derart durchschlägt, das war aus Christensicht doch toll: Nachrichtensendungen brachten das Schreiben an vorderster Stelle zur Prime-Time, sogar der Bundeskanzler zitierte die Kirchen in einer Regierungserklärung als moralische Instanz. Ein PR-Coup, der zeigt: mit den Kirchen ist noch zu rechnen, es lohnt sich, seine Stimme zu erheben.
Peinlich: Doch kein gemeinsamer Mut
Mit meiner Überraschung war ich dabei nicht allein. Viele in der Kirchenszene jubelten auf Social-Media (Tenor: "Ein Tag, an dem ich wieder stolz sein kann auf meine Kirche"). Kirchenintern schwang die Begeisterung bekanntlich bald in Peinlichkeit um: Das Statement war katholischerseits nicht abgesprochen, man wollte zum Wahlkampf lieber schweigen, doch kein gemeinsamer Mut. Schade!
Das gewaltige mediale Echo sollte zu mehr ermutigen. Es ist ein Hoffnungszeichen gegen den Trend: Eigentlich schwindet sich der Einfluss der Kirchen in der Bevölkerung immer mehr, die Austrittszahlen sind hoch, das öffentliche Vertrauen scheint gerade durch die Missbrauchskrise verspielt.
Doch als die Bischofskonferenz im Frühjahr 2024 ihr Statement veröffentlichte, dass die AfD für Christen nicht wählbar sei, ging auch das groß durch die Presse. Das hat ebenfalls gezeigt: Selbst wenn die Kirchen das persönliche Leben zunehmend nicht mehr prägen, gelten sie irgendwie doch noch als moralische Instanz in diesem Land. Solange die Medien den Kirchen, wenn sie mit einer starken gemeinsamen Stimme sprechen, solch hohen Nachrichtenwert zusprechen, sollte man diesen Einfluss nutzen, gerade wenn es darum geht, sich gegen völkisch-nationales Gedankengut anzusprechen, das immer populärer zu werden droht.
Sich jetzt zu äußern, das ist nicht nur eine Pflicht aus christlichem Gewissen heraus, sondern darin läge auch eine Chance, zu zeigen, dass Kirche mehr kann, als Skandale totzuschweigen.
Stattdessen wird den Bischöfen von der Generalsekretärin der Deutschen Bischofskonferenz, Beate Gilles, jetzt freundlich empfohlen, "von weiteren Stellungnahmen abzusehen", ja ihnen wird ein "Maulkorb" verpasst, wie Beobachter schreiben. In der aktuellen Situation sei es "nicht sinnvoll (...), in die Debatte und damit in den Wahlkampf öffentlich einzugreifen." Ja, warum denn nicht? Weil es den Bischöfen schwerfällt, mit einer Stimme zu sprechen? Das stimmt gerade in Bezug auf die AfD ja eigentlich nicht. Der Beschluss vom Frühjahr 2024 war einstimmig. Auch vor den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg fanden mehrere Bischöfe deutliche Worte gegen die rechte Partei. Hat Bonn nicht wahrgenommen, wie positiv und interessiert die Öffentlichkeit jedes mahnende Wort der Kirchen aufnimmt und verbreitet?
Jetzt ist nicht die Zeit, zu schweigen. Die Menschen wollen die Kirchen hören, wenn eine in Teilen rechtsextreme Partei nach der Macht greift. Man möchte jetzt Bischöfe hören, die sagen, was daran gefährlich ist und warum das mit christlichen Werten nicht zusammengeht. Die gerade auch die CDU-Politiker warnen und mahnen. In Krisen werden religiöse Instanzen wieder interessant und sind aufgerufen, ihre Relevanz unter Beweis zu stellen. Sich jetzt zu äußern, das ist nicht nur eine Pflicht aus christlichem Gewissen heraus, sondern darin läge auch eine Chance, zu zeigen, dass Kirche mehr kann, als Skandale totzuschweigen.