Morgens um halb neun in Deutschland. Während in den Bürohäusern längst die Lichter brennen und Schreibtische bezogen werden, beginnt im Fitnessstudio der Alltag auf andere Weise. "He, alter Haudegen, bereit zum Kampf?" Der ältere Herr in den neonblauen (viel zu kurzen!) Siebzigerjahre-Sporthosen klopft einem ebenso klapprigen Kollegen auf die Schulter und macht kleine Boxbewegungen in die Luft. Noch schnell die Hände desinfiziert und dann geht es los. Was die begehrtesten Spots im Raum sind? Natürlich die Fahrradtrainer mit Bildschirm vorne dran. Hier lässt sich sitzend eine virtuelle Bergetappe bestreiten und dabei über den Bildschirm alles drumherum beobachten. Fröhlich plaudernd, aber auch gemeinsam schweigend, werden die beiden Herren hier die nächste Stunde vor sich hinradeln.
Als ich mir für mein Wieder-fit-werde-Programm den frühen Morgen ausgesucht hatte, hätte ich nicht gedacht, dass das bedeutet, allein unter Senioren zu sein. Ist es die "senile Bettflucht" oder ist diese Generation einfach noch diszipliniert? Zum Glück bin ich katholisch und gewohnt, die Minderheit im Senioren-Club zu sein. Auch ein paar ältere Damen finden den Weg hinein, sie jammern auffallend stärker als die sich gegenseitig anstachelnden und witzelnden Alten. Tut es als Frau mehr weh, alt zu werden? Oder lassen sich die Männer einfach den Spaß nicht verderben?
Jedenfalls: Was einen diese Stunde unter Senioren lehren kann – das ist schon ganz erstaunlich.
Während die wenigen anwesenden Alterskollegen meinerseits sich unter riesigen Kopfhörern von lauter Musik oder Podcasts beim Trainieren dauerbeschallen lassen, atmen die Senioren einfach in die Stille hinein. Leise Studiomusik bringt die britische Pop-Gigantin Adele in den Raum. Wie passend, hat diese doch neulich in einem Interview erzählt, dass sie deshalb so schlank wurde, weil sie im Fitnessstudio ihre Panikattacken losgeworden ist. Das Trainieren hat die Angst verschwinden lassen.
Das Smartphone bleibt im Spind
Dazwischen: Wortfetzen vom Seniorentalk. Die AfD, die ist nicht gut. Die Partei von der Wagenknecht? Soll jetzt jeder seine Partei machen, oder was? Bleiben wir lieber beim Söder. Der machts doch gut – aufhören mit dem Gender. Bezahlkarte für Migranten. Gut, dass wir in Bayern leben.
Smartphones haben die Senioren nicht dabei oder in ihrem Spind eingeschlossen. Wie merkwürdig, wenn Gespräche nicht unterbrochen werden, wenn nicht immer wieder ein Bildschirm aufblinkt.
Und wie die Senioren da in aller Ruhe ihre Übungen absolvieren, da muss ich an einen Text von Stefan Zweig denken. In seinem autobiografischen Werk "Die Welt von Gestern" schreibt er: "Selbst in meiner frühesten Kindheit, als mein Vater noch nicht vierzig Jahre alt war, kann ich mich nicht entsinnen, ihn je eine Treppe hastig hinauf- oder hinunterlaufen gesehen zu haben oder überhaupt etwas in sichtbarer Form hastig zu tun. Eile galt nicht nur als unfein, sie war in der Tat überflüssig, denn in dieser bürgerlich stabilisierten Welt mit ihren unzähligen kleinen Sicherungen und Rückendeckungen geschah niemals etwas Plötzliches."
Wir Jungen sind gehetzt. Der Anspruch, Job, Kinder und Privatleben zu vereinen, gleichzeitig zu den vielen Krisen der Welt, lässt uns nicht zur Ruhe kommen.
Diese ruhige Welt des 19. Jahrhunderts kam durch Kriege an ihr Ende. Doch vielleicht haben die heutigen Rentner, eben jene Nachkriegsgenerationen, wieder ein wenig zu diesem Lebensgefühl zurückgefunden. Sie haben das Sicherheitsnetz des Sozialstaats mit viel Mühe mit aufgebaut und verdient. Dass die Altersvorsorge ihnen sicher ist, daran haben sie keinen Zweifel. Mir fehlt diese innere Ruhe. Ich habe keine Ahnung, ob ich 2061 einmal Rente bekommen werde.
Wir Jungen sind gehetzt. Der Anspruch, Job, Kinder und Privatleben zu vereinen, gleichzeitig zu den vielen Krisen der Welt, lässt uns nicht zur Ruhe kommen. Vergessen wir sie für einen Moment, erinnert uns die nächste Eilmeldung auf dem Smartphone.
Ich will ab jetzt etwas mehr Rentner sein. Für ein paar Stunden am Tag so tun, als gäbe es mein Smartphone nicht oder als könne ich es einfach nicht bedienen. Nicht hastig sein. Und frühmorgens vor der Arbeit auch mal in einen Gottesdienst gehen. Da trifft man sie nämlich auch, den Club der Ruhigen. Sie wissen warum.