Ich bin auf der Suche nach einer Metapher mit Blei. Oder eher einer Allegorie aus Blei, einem schwarzen Gleichnis. Also: Bleiruten, die in den Glasmalereien der Kathedralen zum Einsatz kommen – von den Meistern am Stephansdom, den bunten Kapellen am zweimal gebogenen Tiber, Sankt Patricks feste Burg auf der Halbinsel Manhattan, bis zu Imi Knoebels Glasfenstern über dem Hochaltar in der einst von deutschen Artilleristen sträflich zerschossenen Königskathedrale von Reims.
Also Blei, das duktile Toxin aus der Erdkruste, das – ein schwarzes Spinnennetz – die Glasmalereien zusammenhält und zur Fläche macht, das sie leuchten lässt in allen Farben der Schöpfung. Bleiruten überwinden eine materialtechnische Limitation bei der Arbeit mit Glas, das sich verzieht und Risse bildet, wenn es erkaltet und daher nur in kleineren Scheiben, Fragmenten, hergestellt wird. Sind also die flächigen, spitzbögigen oder rosenartigen Fenster ermöglicht vom schwarzen Element, dem Plumbum (Pb) mit der Ordnungszahl 82? Oder: Sagt nicht Escalus in Shakespeares Measure for Measure im Abseits der Bühne einmal: "Well, heaven forgive him! and forgive us all! / Some rise by sin, and some by virtue fall / Some run from brakes of ice, and answer none: / And some condemned for a fault alone", in der Übersetzung von Tieck: "Nun Gott, verzeih’ ihm und verzeih’ uns allen! / Der steigt durch Schuld, der muss durch Tugend fallen; / Vom Eis, das bricht, kommt der gesund herab – Den stürzt ein einz’ger Fehltritt in das Grab."
Die Produktivität des Bösen
Naturgemäß beschäftigt sich die Theologie mit der Benennung, der Gravität, der Reflexion, dem Wirken und dem Vergebungsgeschehen von Sünde und dem Bösen. Theologie hat zahlreiche hermeneutische Instrumente entwickelt, um das Böse in seinen natürlichen, personalen, aber auch strukturellen Erscheinungen zu identifizieren; und dadurch auch liturgische, pastorale und karitative Mittel hervorgebracht, damit umzugehen. Weniger bedenkt sie seine eigentümliche Produktivität.
Ich meine nicht die theatralischen plot twists, die eine Tragödie oder eine Komödie in Gang setzen, will sagen, Macbeths alles ins Verderben reißende Ambition, die gescheite Hoffart eines Doktor Faustus, die ignorante Trägheit und strukturelle Gewalt, die Ursula Krechels Theaterdebüt Erika (1974) als Verdrängung, Zwangsrollen, Resignation und Unterdrückung von Frauen auf die Bühne bringt.
Ich meine die trotzigen Verweigerungen der Liebe und Gerechtigkeit Gottes; das schwarze, schwerwiegende Übel in all seinen Fratzen und Gestänken: das den medizinischen und pharmazeutischen Fortschritt antreibt, das die feingliedrige und transparente Rechtspflege zum Maß vieler Gesellschaften machte, das die Waagschalen des Sozialstaats pendeln lässt, das die integrativen und umsichtigen Strategien der moralischen Formation, also der Pädagogik, aus einem Sumpf von Dummheit destillierte – "Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu, / Der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen." –, das vielleicht also selbst einen Anteil hatte, die Theologie als eine kritische Disziplin hervorzutreiben aus einem Dickicht voller Spukgestalten und Gespenster?