Vielleicht sind sie das private Pendant zu einem öffentlichen Phänomen: keinen Krach von draußen. Doch dienen Noise-Cancelling-Kopfhörer dem Fasten fürs Ohr, dem Eskapismus oder der Verdrängung? Keine Ablenkung meiner inneren Prozesse durch unkontrollierte Geräusche. Dies liegt auf einer Linie mit der globalen Tendenz zum Isolationismus und zur Unilateralität bis hin zum manischen Besinnen auf Kernaufgaben, Kernkompetenzen, Kernthemen usf. Was von außen kommt, stört. Wer dazwischenfunkt, irritiert. Wer Schleifen macht, loopt, verwässert, mäandert, flutet, die Sirene oder Sprinkleranlage startet, lenkt ab. Konzentration, ohne Hintergrundgeräusche.
Wer nicht in den eigenen Wahrnehmungsraum passt, wird ausgeblendet.
Man beobachtet es nicht nur auf den Boulevards und in den U-Bahnen: eine akustisch abgeschirmte Bevölkerung, ganz bei sich – bzw. ganz eingenommen von ihren individuellen Okkupationen. Man beobachtet Noise Cancelling auch in einer diskursiven Kompromisslosigkeit, einer selektiven Rechthaberei, einer kanalisierten Empathie. Wer nicht in den eigenen Wahrnehmungsraum passt, wird ausgeblendet.
Ein Marktforschungsinstitut prognostiziert einen weltweiten Umsatz von 45 Milliarden Dollar für Noise-Cancelling-Kopfhörer und -Ohrstecker bis 2031 – vervierfacht seit 2021. Dass die Unterdrückung von allfälligen Geräuschen ein lukratives Segment in einem heftig umkämpften Markt ausmacht, gehört ebenso zum Zeitgeist wie ein allgemeiner Boom bei puristischen Konsumgütern – von der Waterdrop-Flasche bis hin zum Mushroom Coffee. Wir treten ein in eine Wirklichkeit ohne Zusatzstoffe.
Was Geräuschunterdrückungskopfhörer angeht, entspringen sie natürlich dem Erfordernis, lärmbelastete Arbeitssituationen zu entschärfen. Aber wer nicht in einem Cockpit unterwegs ist oder mit einem Presslufthammer hantiert, sondern nur durch den Park spaziert, sollte sich überlegen, worauf er sich gerade konzentriert, auf welche sinnlichen Einflüsse er verzichtet, welche Art der Luxation von Umwelt und Geräuschkulisse er gerade lebt – oder habituiert.
Die literarische Moderne wimmelt nur von Beispielen, in denen diese Dislokation von Umwelt und Erleben durchgespielt wird – sei es in Walter Benjamins Erzählungen über seine Berliner Kindheit oder seinem Arkadenprojekt, in Rilkes "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" oder Ben Lerners Madrid-Roman "Leaving the Atocha Station". Vielleicht wären gerade diese Bücher eine ideale Fastenlektüre.
Wem dient die abgeschiedene Askese?
Denn beobachtet man nur im Nahbereich die multiplen Ebenen, in denen wir durch Akte des Verzichts und der Konzentration eine Entkoppelung von sinnlicher Wahrnehmung und Bewusstsein herstellen, wird man überrascht sein, wie selten wir tatsächlich bei den Dingen sind – noise cancelling. Eine Tugend der Bibliotheksgescheiten, gewiss. Die asoziale Tugend der meditativen Versenkung, geschenkt.
Wozu nutzt jedoch die entkoppelte, entzogene, von allen Störungen enthobene Sammlung, wem dient diese abgeschiedene Askese? Und noch diese letzte Frage: Wer wollte schon den Gott ohne seine Schöpfung hören?