Er ist das berittene Sinnbild der christlichen Caritas. Eine Skulptur, die ich vor Augen habe, zeigt ihn gekleidet in vornehmem Gewand, mit einer für die Zeit schicken Lovelock-Frisur und Hut. Was von seinem in Gold gehaltenen Mantel übrig ist, flattert üppig und bewegt über seinen Rücken und den des Pferdes. Vom festen Griff der Zügel, die der Heilige Martin fest angezogen in der rechten Hand hält, schwenkt das Tier sein Haupt leicht nach hinten, wohin sich auch der Oberkörper des Heiligen anschickt hinzuneigen. In der freien Hand hält er das Tuch vom geteilten Mantel und ist einer ebenerdigen Figur zugewandt, die angefügt, wie ergänzt zu sein scheint.
Der Holzschnitzer entwarf die Figurengruppe aus Pferd, Heiligen und Bettler wohl instinktiv, indem er sich dem Blick seiner Auftraggeber unterwarf: Heiliger und Pferd sind eine wohl proportionierte Einheit, während die Figur des Bettlers wie ein afterthought, disproportional winzig und skizzenhaft ausgeführt ist. Alles Staunen hat der bayrische Bildhauer des 16. Jahrhunderts ausgerichtet auf die Tat, auf diesen Moment, da der Heilige hoch zu Ross dem flehentlichen Bettler den Mantel freigiebig reicht. Seine großzügige und selbstlose Geste ist der tragende Grund dieser Skulptur, seine Aussage – der übergroße Heilige schenkt dem überkleinen Bettler – seinen Mantel aus freimütigen Stücken. Ist es ein Fluch der christlichen Kunst, dass sie immerfort didaktisch oder propagandistisch daherkommt oder laudiert oder schmeichelt? Oder ist es die Geschäftstüchtigkeit der von Christen beauftragten Künstlerinnen und Künstlern, dass sie stets intuitiv begriffen, wie sich Stifter und Gönner das christliche Engagement in Sorge um die Welt vorstellten?
Oder macht mich etwas anderes unruhig, was daher rührt, dass jeder Geste der Barmherzigkeit eine unüberwindbare Asymmetrie eingeschrieben ist? Es ist ein Machtgefälle, das kein noch so raffinierter plot twist umschiffen könnte. Und ist es nicht irgendwie ein Clou des Christentums, also quasi das Christliche an sich, dass diese Asymmetrie nicht zum Tragen kommt, das heißt, dass die augenscheinliche Differenz nicht ins Gewicht fällt, dass sie "aufgehoben" sei, obwohl es offenkundig nur zwei Figuren gibt, obwohl das Sinnbild aus zwei typisierten Polen entsteht: einem Heiligen und einem Bettler? Riddle me this. Ich meine, kann man sich angesichts dieser spezifischen Skulptur vorstellen, dass der Bettler ein schlechter Mensch wäre, oder dass der Heilige nicht nur und ausschließlich nobel und caritativ handelt?
Sicher, die Philologen unter den Heiligenverehrern wissen diese Karikatur der Barmherzigkeit, die sich mit dem Hervorstellen ihrer großzügigen und selbstlosen Gesten zu beweihräuchern weiß, schnell ins rechte Bild zu setzen. Wer sich auf die künstlerischen Darstellungen von vielen christlichen Konzepten in Tapisserie, Gemälde oder Skulptur verlässt, begegnet oft einer medial anverwandelten Realität, begegnet einem Artefakt, das zugleich Ausdruck und Verzerrung von Glaubensinhalten ist. Künstlerische Darstellungen der christlichen Botschaft, in welchem Medium auch immer und oft ohne maliziöse Absicht, sind geprägt von den Launen ihrer Epoche, den Erfordernissen von Ort und Temperament, sind nicht selten objektgewordene Ausbildungen von Tendenz, Auffassung, Propaganda oder Wunschvorstellung von Auftraggebern und Verwendungszwecken.
Doch welche Aufgabe hätte die kritische Wissenschaft der Theologie, aber auch ein ernstgenommener Glaube, all diese Überformungen, Irrtümer, Überzeichnungen, Karikaturen oder Beschönigungen des Glaubens in seinen mannigfaltigen Darstellungen aufzuklären? Oder ist es ganz anders: Ist gerade dieser unverhoffte Kompromiss, der die konkrete Realität eines Objekts mit allen seiner Unvollkommenheit zum Sinnbild – etwa der Caritas – macht, das, was das Ringen um die Religion ausmacht?