Heine. Jahrelang las ich seine Werke nur zufällig und meist ohne Anteilnahme. Im Winter 2023 machte ich eine Reise zum Marienwallfahrtsort Kevelaer. Nach einem Besuch der Gnadenkapelle, darin ein absurd kleines Abbild der Gottesmutter von Luxemburg den Kern der Andacht bildet, saß ich zusammen mit einigen Bekannten und wir kamen auf ein frühes Gedicht von Heine zu sprechen: Es trägt den Titel "Die Wallfahrt nach Kevlaar" und befindet sich am Ende des "Buches der Lieder" (1827).
Als ich nachts den Text online aufrief und las, überraschten mich seine fünfzehn, teilgereimten Quartette. Ähnlich wie Texte anderer jüdischer Schriftsteller vom Rhein, wie etwa Elsa Lasker-Schüler, ist es durch ein liebevolles Verhältnis zum Katholizismus charakterisiert, das sich aus einer gemeinsamen Ablehnung des zunehmenden preußischen Militarismus am Rhein der Zeit ergibt.
Wovon das dreiteilige Gedicht erzählt, das vielleicht nicht zu den besten Dichtungen Heines zählt, lässt sich relativ leicht zusammenfassen: Es handelt von einer Mutter aus "Köllen am Rheine", die ihren liebeskranken Sohn auffordert, an einer Wallfahrt nach Kevelaer teilzunehmen. Dieser nämlich trauert aktuell seinem "toten Gretchen" nach. Sooft er an die heimgegangene Geliebte denkt, "Da tut das Herz mir weh". Das Gedicht berichtet dann vom Brauch am Gnadenort, wonach die Pilger ihre Leiden in Wachs formen und als "Opferspend" hingeben: Die Fußkranken bilden aus Wachs einen Fuß, die mit wunden Händen formen wächserne Hände und bringen sie dar—und "Der Sohn nahm seufzend das Wachsherz / Ging seufzend zum Heiligenbild". Er ruft die "Hochgebenedeite" an, "Du reine Gottesmagd". In seiner Anrufung schildert der Sohn seine Situation und schließt: "Und neben uns wohnte Gretchen / Doch die ist tot jetzund — / Marie, dir bring ich ein Wachsherz"; er bittet "Heil du meine Herzenswund // Heil du mein krankes Herz". Nachts sodann tritt die Jungfrau selbst ins "Kämmerlein", darin die Köllner Wallfahrer ruhen: "Sie beugte sich über den Kranken, / und legte ihre Hand / Ganz leise auf sein Herz, / Und lächelte mild und schwand." Die Wende des Gedichts geschieht am Ende als die erwachte Mutter ihren Sohn tot auffindet: "Da lag dahingestreckt / Ihr Sohn, und der war tot; / Es spielt auf den bleichen Wangen / das lichte Morgenrot". Erstaunlich, auch etwas schwülstig scheint dann die letzte Strophe: "Die Mutter faltet die Hände / Ihr war, sie wusste nicht wie; / Andächtig sang sie leise: / Gelobt seist du, Marie!"
"Wer Gott leiden sieht, trägt leichter die eigenen Schmerzen."
Vielleicht ist die antiquierte Frömmigkeit, die sich in diesen Zeilen äußert, nostalgisch; man ist eher geneigt darüber zu lächeln, doch, ich "wusste nicht wie", das Gedicht löste bei mir eine regelrechte Heine-Manie aus. Wieder nach Hause zurückgekehrt, beschaffte ich mir Heines gesammelte Werke und fräste mich wochenlang durch sein Werk. Immer wieder stieß ich auf Zeilen, die mir die Wucht der spirituellen Haltung des Dichters entgegenwarfen, die nie gegenüber dem Weltschmerz resigniert, sondern einen fast passionstheologischen Realismus pflegt.
In "Die Stadt Lucca" beispielsweise schreibt Heine: "Wer seinen Gott leiden sieht, trägt leichter die eigenen Schmerzen. Die vorigen heiteren Götter, die selbst keine Schmerzen fühlten, wussten auch nicht, wie armen gequälten Menschen zumute ist, und ein armer gequälter Mensch könnte auch, in seiner Not, kein rechtes Herz zu ihnen fassen."
Realismus der Gnade
Immer deutlicher schienen mir in Heines Zeilen die bemühten Versuche widerlegt, dem Verhältnis zwischen dem menschlichen Dasein und seinem nicht immer erträglichen Schicksal mit süffigen Gottesbildern, mit freundlichen Gesten der Gnade zu begegnen. Denn: "Es waren Festtagsgötter, um die man lustig herumtanzte und denen man nur danken konnte. Sie wurden deshalb auch nie von ganzem Herzen geliebt. Um so ganz von ganzem Herzen geliebt zu werden – muss man leidend sein. Das Mitleid ist die letzte Weihe der Liebe, vielleicht die Liebe selbst. Von allen Göttern, die jemals gelebt haben, ist daher Christus derjenige Gott, der am meisten geliebt worden ist."
Was sich – im Gedicht "Die Wallfahrt nach Kevlaar" zwischen dem Sohn, seinem Gretchen und der Mutter ereignet, ebendieser Realismus der Gnade, schien mir zunehmend ein Gleichgewicht, das sich in der emphatischen Einsicht und sympathischen Annahme der Liebe als Mitleid einstellt im Verhältnis aller zueinander — ein Lob, das sicherlich auch Klage ist, im Grunde aber flehenden Dank ausblüht und so sich zu unbedingter Hingabe an den anderen wandelt. Seither liegt Heines Werk wieder offen für mich da und ist zu einer der unerschöpflichen Quellen geworden, die die Dichtung ist.