#14 CannoliIn Boston feiert man den Heiligen Antonius – und das ist keine versteinerte Folklore

Die Cannoli schmecken um den Festtag des Heiligen Antonius von Padua in Boston besonders gut. Ist es ein Wunder, dass sie immer frisch bleiben und sich ungebremster Beliebtheit erfreut?

Cannoli
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Auf der Hanover Street in Bostons North End gibt es die besten Cannoli der Welt. Ganz bescheiden bezeichnet sich daher die von Michael Marcogliano 1946 gegründete Zuckerbäckerei Mike's Pastry als "Home of the Cannoli." Der umsatzstärkste Tag bei Mike's Pastry ist nicht jedoch der 20. April, an dem der Tradition nach Cannabisraucher ihren dumpfen Konsum feiern und anschließend auf der Suche nach munchies sind. Vielmehr leisten die Mitarbeiter bei der italienischen Bäckerei im August massiv Überstunden, wenn in Boston der Festtag des Heiligen Antonius von Padua bevorsteht.

Saint Anthony's Feast ist seit 1919 das größte öffentliche Event der italienischen Subkultur in Neuengland, übertroffen naturgemäß nur von Saint Patrick's Day. Das Fest ist in der gesamten Region sehr beliebt und ist ein gesellschaftliches Ereignis, prägend für den Charakter von Beantown. Die mehrtätigen Feierlichkeiten im North End kulminieren in einer zehnstündigen Prozession, an der zahlreiche Kapellen und Festwagen (floats) durch die Gassen des zentrumsnahen Viertels ziehen. Die Menschen heften dabei ihre Gaben – die sie selbstredend in harter Währung offerieren – an lange Klebebänder, die sternförmig mehrere Meter von der Figur des Heiligen herabhängen. Dabei rufen die Gläubigen den Heiligen an und erbitten Schutz für sich und andere sowie die Stärkung ihres Glaubens. Sie küssen die Figur oder wenden sich auch an die Heilige Lucia. Begleitet wird die Prozession auch von Reliquien der Heiligen, die in schlanken zylinderförmigen Reliquiaren zu bestaunen sind. Seit über 100 Jahren wird dieses Fest enthusiastisch begangen. Ich habe das Gefühl, dass das Fest im Laufe der Zeit immer üppiger und fröhlicher geworden ist und dass jedes Jahr mehr Menschen ins North End strömen.

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Wie die Prozession wird auch die Messe unter freiem Himmel zelebriert. Sie stiftet Anlass und Fokus. Anders als an vielen Orten in Europa findet die Feier aber nicht im Vakuum einer religiösen Sonderwelt statt. Sie wird nicht vorangetrieben von einem müden Kader von Pastoralreferent:innen und Klerikern. Vielmehr überrascht das erfrischend vitale, ehrenamtliche Personal, das sich um die organisatorischen Aspekte der Prozession kümmert und dabei immer auch ältere Ehrengäste mit einem liebevollen Humor involviert.

Ein Lob auf die warenförmige Religion

Sicher, es gibt tonnenweise Konfetti und raffiniertes Streetfood, wie die hauchdünnen Pizzen von Regina Pizzeria (gegründet 1929) oder sizilianische Arancini und die fangfrisch aus New Hampshire oder Maine importierten Calamari. Sicher, es gibt eine mit großer Offenheit gepflegte Kultur. Sicher, es gibt die billigen Rosenkränze am Hot Dog-Stand. Es gibt Bänder und sonnenblumenförmigen Anstecker aus Krepppapier, die Padre Pio-Autoaufkleber, neben den Aufklebern von Ducati und Alfa Romeo. Es gibt endlich eine Gelegenheit, den schönen Schleier aus schwarzer Spitze vom letzten Italienurlaub überzuwerfen – oder einen von lokalen Schneidern zu kaufen. Es gibt eine perfekt in einer Melange aus Ironie und semiotischem Magnetismus warenförmig in Objekte und Köstlichkeiten gegossene Begleitkultur. Es gibt die Möglichkeit zu spenden, das heißt, konkret und einfach zu geben; es gibt den zentralen Augenblick der Anrufung und Bitte. Und es gab natürlich die Urmutter des Cannoli in Neuengland, Rene Squillante – die den Ehrentitel The Original Cannoli Girl trug – und als sie 2022 verstarb, den Auftrag, die Creme aus Ricotta, Sahne und Vanille mit einem Schuss Zitrone in die frittierten Teigröhrchen zu pressen, an ihre drei Kinder weitergab.

Die Trennung von sakralem und profanem Raum, wie Mircea Eliade sie einst eindimensional predigte, findet gerade in diesem populären und spirituell kraftvollen Fest nicht statt. Vielmehr kennt man hier das Geheimnis der Wertschöpfung aus dem Nichts.

Es gibt die Polizei- und Feuerwehrkapellen, die eine Melange aus geistlicher Musik, italienischer Partisanenlieder oder John Philip Sousa spielen, sowie mehrere Bühnen auf denen sowohl Pop Songs (etwa "Rags to Riches" von Tony Bennett, "Baby, I love you" von Aretha Franklin oder andere Klassiker aus Goodfellas sowie Elmer-Bernstein-und-Ennio-Morricone-Stücke von bekannten Spaghettiwestern) als auch amerikanisch-italienisches Klassik-Repertoire, zum Beispiel von Giancarlo Menotti oder Luigi Zaninelli, zur Aufführung kommen. Die Trennung von sakralem und profanem Raum, wie Mircea Eliade sie einst eindimensional predigte, findet gerade in diesem populären und spirituell kraftvollen Fest nicht statt. Vielmehr kennt man hier das Geheimnis der Wertschöpfung aus dem Nichts.

Die Investitur des Glaubens ins Populäre

Darüber hinaus existiert jedoch ein unverhohlen demonstrativ zum Ausdruck gebrachter Stolz, dass der katholisch-italienische Geist teilhat am etablierten Mainstream – unvermischt und ungetrennt. Nicht diese nostalgisch geduldete Größe, wie es in Europa häufig der Fall ist, wenn Landräte in Lodenjankern mit Hornknöpfen hinterm Himmel hergehen, sondern anders: geistvoll, lustvoll als zukunftskräftiger, investierter Teil der Kultur. Im vergangenen Jahr, wie in jedem Jahr, beispielsweise schickten Politiker aller Parteien Videogrüße an die Festgemeinde. 

Saint Anthony's Feast ist nicht eine folkloristische Affirmation von Identität, eine versteinerte Bewahrung von Hergebrachtem oder eine abgekapselte Diaspora, wie sie häufig in sogenannten muttersprachlichen Gemeinden in den Diözesen "mitläuft." Es ist nicht das traurige "noch" einer Tradition, die "noch" mehr oder weniger stabil fortgeführt werden "kann".

Auf der Sponsorenliste finden sich neben T-Mobile, Amazon und das New England Aquarium auch diverse Autohändler, Restaurants, Limoncello-Hersteller, Brauereien, Banken und die gesamte Lokalpresse, das heißt, vom Radiosender MAGIC 106.7 bis zum Fernsehen NBC oder CBS Boston. Ganz ohne Konkordat mit den öffentlich-rechtlichen Medien. Es wird daher auch selbstverständlich gefeiert, dass dieser religiöse Kult und was von ihm ausgeht, also das, was zusammenkommt, anziehungskräftig ist, anziehungsfähig ist, kurzum: wertvoll ist – buchstäblich.

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Um es klar zu sagen: Saint Anthony's Feast ist nicht eine folkloristische Affirmation von Identität, eine versteinerte Bewahrung von Hergebrachtem oder eine abgekapselte Diaspora, wie sie häufig in sogenannten muttersprachlichen Gemeinden in den Diözesen "mitläuft." Es ist nicht das traurige "noch" einer Tradition, die "noch" mehr oder weniger stabil fortgeführt werden "kann". Es gibt keine Schnell-und-Steiner-Bildbände, die einen lieblich gelegenen Wallfahrtsort buchstark musealisieren und für eine (welche?) Nachwelt "dokumentieren."

Vielmehr ist Saint Anthony's Feast im North End, wie ähnliche vom religiösen Kult gestiftete und beseelte Prozessionen, die ihren Wert erkannt haben, der kontinuierlich vitale Ausdruck von neuer Ankunft, neuer Lust an Eigenheit im Gefüge einer großen Stadt: Es ist ein novellierender Beitrag in einer Neuen Welt, das heißt, eine stolze und ständige Neubegründung eines schützenden Geistes. Es ist die Apotheose – oder besser: – die Ausstattung der Cannoli mit Geist – und der Glaube, das heißt: die Gewissheit von Zukunft.

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