#29 BunkerInfrastrukturen des Purgatoriums

Der Philosoph Paul Virilio bringt den Bunker mit der Krypta in Verbindung. Daraus gewinnt er eine Meditation über die Todesmacht, die über allen Dingen schwebt.

Bunker an der Atlantikküste
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Die Atlantikküste erblickt Paul Virilio im Sommer 1945 zum ersten Mal. "Die Villen am Meer waren leer", schreibt der Architekturtheoretiker später in einem Essay, "man hatte alles in die Luft gesprengt, was das Schussfeld der Bunker versperrte, die Strände waren vermint." Eine ganze Kindheit lang war die Küstenlandschaft dem 1932 in Nantes geborenen Philosophen verwehrt, obwohl sie das bretonische Département Loire-Atlantique maßgeblich ausmacht.

Diese Verteidigungsarchitekturen bringt der Franzose sehr bald mit Krypten in Verbindung, wie sie oft unter Kirchen zu finden sind. Er legt dabei einen Gedanken frei, der über den Tod hinausgeht und hinführt zu einer Bestimmung der "Todesmacht." Was ist die Spur dieser Metapher?

Mehr bewehrt als alle Lebensräume des Friedens sind die Räume des Todes.

Die Bunkeranlagen des "Atlantikwalls", die die Nationalsozialisten ab 1941 während der Okkupation Frankreichs, entlang einer antizipierten Kontaktlinie, errichten, umfassten eine ungeheurere Zahl an Flaktürmen, Gräben, Verbindungstunneln und Bunkertypen, die kleine glockenförmige Gefechtsstände sein konnten oder gigantische Ausmaße besaßen, um U-Booten oder Artillerie-Batterien Schutz zu bieten. Mehr bewehrt als alle Lebensräume des Friedens sind die Räume des Todes, wie auch Beinhaus, Gruft und Krypta.

Sie faszinierten Virilio ein ganzes Leben hindurch: Bunker nimmt er als transitorische Bauwerke wahr. Die Deutung gewinnt Virilio während seines Studiums in Freiburg im Breisgau von Ernst Jünger:

"Als ich in die Betongruft hinabgestiegen war, stand ich zwischen den Maschinenwaffen, den Entlüftern, den Handgranaten und der Munition und hielt den Atem an. Zuweilen fiel ein Tropfen von der Decke, oder es läutete in verschiedenen Signalen das Festungstelefon. Hier erst erkannte ich den Ort als Wohnsitz eisenkundiger Zyklopen, denen das innere Auge fehlt – ganz ähnlich wie man in Museen oft Gegenstände schärfer in ihrem Sinn erkennt als jene, die sie vor langer Zeit benutzen und fertigten. So war ich, wie im Inneren der Pyramiden oder in der Tiefe der Katakomben, dem Zeitgeist konfrontiert, den ich wie ein Idol ganz ohne den bewegten Schimmer der technischen Finessen sah und dessen ungeheurere Stärke ich begriff. Übrigens erinnere das sehr Gedrückte, Schildkrötenhafte, dieser Bauten an die aztekischen Architekturen, und nicht nur äußerlich. Was dort die Sonne war, ist hier der Intellekt, und beide stehen in Beziehung zum Blut, zur Todesmacht."

Behauptung und Bedrohung von Macht

Es ist ein prometheischer Wille, raffiniert und dämonisch zugleich – entschieden, sich zu behaupten, doch noch offen beim Ausgang des Gefechts. Was erkennt Paul Virilio am Erscheinungsbild des Bunkers, das ihn an die Krypta erinnert? Ausdruck von Beherrschung und Angst zugleich. Gebäude der Bewährung, Wärterstelle, Pforte und Ausdruck einer umfassenden Gewalt, die auf beiden Seiten des Bunkers steht, weil sie einerseits die Grenzen eines Raums behauptet und andererseits bedroht ist von Verlust und Auflösung dieses umgrenzten Raums. Bunker sind ihm Grenzräume und zugleich Fokus einer entgrenzten Gewalt – transitorische und allumfassende Kräfte wirken hier.

Virilio schreibt in seinen Essays zur Bunker-Archäologie:

"Wenn man die zur Hälfte vergrabene Masse eines Bunkers mit seinen verstopften Belüftungsanlagen und dem schmalen Schlitz des Beobachtungspostens betrachtet, gewahrt man das Spiegelbild unserer eigenen Todesmacht. Die Funktion dieses Bauwerks besteht darin, […] Schutzraum für den Menschen in einer kritischen Periode zu sein, der Ort, an dem er sich verkriecht, um weiterzuexistieren, also der Krypta ähnlich ist, die die Wiederauferstehung präfiguriert."

Auferstehung der Toten

Virilio beschwört nun die sepulkralen Kleinarchitekturen auf den Landschaftsfriedhöfen, die wallartigen Grabanlagen, oder die Krypten, unter den Kirchen, darin aufgehoben sind die Leiber jener Toten, die in Erwartung auf die Wiederkunft Christi, vor Verscharren bewahrt, unterirdisch behütet sind.

Als hätte er alle Bilder Dantes in Sinn, imaginiert der Philosoph phantasmagorische Szenen aus dem Purgatorium. Es treten Gestalten auf, uniformierte Leiber, Fratzen panisch entstellt hinter dem ratternden Maschinengewehr, rings regnen heulende, tonnenschwere Bomben aus einem schwarzen Himmel, und verschwinden wieder.

Aber der Bunker fügt sich ein in die Landschaft: tierhaft, maulwurfig, wie ein Termiten- oder Fuchsbau, armadilloartig, felsig und schrundhaft, moosig bedeckt, grasbewachsen, gestrüpp- und baumähnlich. Und doch auch anorganisch stählern, glockenförmig, wuchtig wie ein Schiffsrumpf, spitzströmend wie ein Flugzeug. Behausung von Antenne, geringeltes Telefonkabel, Wolldecke, Suppenkelle und Skalpell – aber auch von Maschinengewehr, Granate und Artilleriemunition: ein zugleich schießendes, lancierendes, aber auch erschütterndes und erbebendes Kind der Ballistik.

Krypta und Bunker stehen für einen vulnerablen Zwischenzustand, kennzeichnet eine Schwelle, auf die Kräfte wirken, die man teils beeinflussen kann, denen man teils ohnmächtig gegenübersteht.

Der Philosoph findet eine eigenartige Metapher für einen eschatologisch bedeutsamen Zustand: Krypta und Bunker stehen für einen vulnerablen Zwischenzustand, kennzeichnet eine Schwelle, auf die Kräfte wirken, die man teils beeinflussen kann, denen man teils ohnmächtig gegenübersteht. Als eine Infrastruktur von Purgatorium und Inferno trennt sie die Welt in ein drinnen und draußen, die Zeit in ein vor und danach. Sie thematisiert eine dramatische Zeiterfahrung, sie greift die Vorstellung einer Unentschiedenheit auf, der Bewährung, des Kommenden unter dem Druck einer Todesmacht. Sie ist eine Chance, die theologische Imagination zu schulen, denn sie verfügt über eine intensive, bisweilen extreme Bildsprache für diesseitige Erfahrungen und verweist, durch eine leichte Verschiebung des Denkens, ins Jenseits. "Der Bunker des Atlantikwalls", schreibt Virilio, "warnt uns weniger vor dem Gegner aus vergangenen Zeiten als vor dem Krieg von heute und morgen: vor dem totalen Krieg, dem überall vorhanden Risiko, der Unmittelbarkeit der Gefahr, der großen Verschmelzung des Militärischen und des Zivilen, der Homogenisierung des Konflikts."

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